Aus Mendelsohn-Bartholdy’s Leben
[415] Aus Mendelssohn-Bartholdy’s Leben. Unter den großen Componisten unserer Zeit steht wohl keiner dem Herzen des deutschen Volkes näher und ist ihm schwerlich einer lieber, als Mendelssohn-Bartholdy. Die Erinnerung an ihn bleibt uns theuer nicht blos um seiner Tonschöpfungen willen, die jedes edlere Gemüth erfreuen und erheben, sondern namentlich auch um des Charakters willen, den er überall geoffenbart. Wir wollen hier von dem Werth der Mendelssohn’schen Compositionen nicht sprechen; der Zweck dieser Zeilen ist vielmehr nur der, einen Zug aus dem Leben dieses Mannes der Vergessenheit zu entreißen und ein spätes Kränzchen auf sein Grab zu legen.
Es war im heißen Sommer von 1842, als im Züricher Tagblatt unter
den Namen der angekommenen Fremden eines Tages auch Mendelssohn-Bartholdy’s
Name stand. Kaum war seine Anwesenheit bekannt, so beeilten
sich die hervorragendsten aus der namhaften Zahl der Züricher Musiker
und Musikfreunde, den Künstler in seinem Gasthofe zu besuchen und ihn
in einzelne gewählte Kreise einzuladen. Mendelssohn wies diese Einladungen
eben so höflich wie entschieden zurück. Seine Gesundheit war damals
schon angegriffen, eine Schweizer Reise sollte ihm zur Erholung und
Stärkung dienen, und die Aerzte hatten ihm jede ernstliche Thätigkeit auf’s
Strengste untersagt. Da machte ihm auch der Director des dortigen Blinden-Instituts
seinen Besuch und stellte ihm vor, daß in seiner Anstalt
einige musikalisch begabte Zöglinge sich befänden, die sich schon mehrfach
und mit Beifall von Seiten des Publicums im Setzen von Liedern, Chören
etc. versucht hätten, daß ihm aber alles daran liegen müsse, das Urtheil
eines so kompetenten Richters zu vernehmen sowohl über ihre Begabung
als über ihre seitherigen Arbeiten. „Ich habe andere Einladungen zurückgewiesen,“ erwiderte der Künstler, „aber zu Ihren Blinden werde ich
kommen.“ Und in der That, er kam. Der Anblick der Blinden ergriff
ihn, und nachdem er sie auf’s Freundlichste gegrüßt, wurden ihm einige
ihrer Compositionen vorgetragen. Mit sichtlichem Interesse, ja mit Rührung
hörte er, die Partitur in der Hand, den Blinden zu und namentlich
ein größerer Chor war’s, der ihm wohl gefiel. Nachdem er sein Lob ausgesprochen
und einige Stellen als besonders gelungen hervorgehoben hatte,
äußerte er gegen den Director, daß an der Begabung der Componisten
nicht zu zweifeln sei, und ermahnte die letzteren, eifrig fortzuarbeiten und
sich an ernsthafte Texte zu halten. Eine in der Partitur angebrachte Correctur
[416] bemerkend, fragte Mendelssohn, von wem sie herrühre, und als
man ihm den Namen nannte, äußerte er freundlich lächelnd: „Die Correctur
ist allerdings begründet; der Satz ist so richtiger; aber wie es ursprünglich
hieß, war es schöner, treffender,“ und zu dem blinden Componisten gewendet,
rieth er ihm: „lassen Sie sich durch Correcturen nicht irre machen;
das gebildete musikalische Ohr bedarf der Regeln nicht mehr, es ist sich
selbst Maß und Regel.“ Um das Glück der wenigen Anwesenden, von
welchen Niemand den Muth gehabt hätte, den Künstler um etwas Weiteres
zu bitten, vollständig zu machen, bat er seinerseits um die Erlaubniß auf
dem Piano Etwas spielen zu dürfen. Er setzte sich nun an’s Clavier und
spielte eine jener wundervollen freien Phantasien, durch die er so oft seine
Freunde entzückt hat. Wie leuchtete der Blinden Antlitz, als mitten im
Strome des Vortrags die Hauptgedanken des von ihnen so eben gesungenen
Chores auftauchten! Wir Alle hätten den liebenswürdigen Mann umarmen
und an’s Herz drücken mögen. Unter den besten Wünschen für die
Anstalt und das Wohlergehen ihrer Zöglinge nahm er Abschied, Keiner
von uns sah ihn wieder, schon wenige Jahre später nahm ihn der Tod hinweg;
aber er lebt fort, wie in seinen prachtvollen Werken, so in der Erinnerung,
in der Liebe derer, die ihn sahen und hörten. Der Blinde aber,
dem der Meister damals so freundlich zugesprochen, befindet sich noch jetzt
in jener Anstalt, verehrt den Stuhl, auf dem der Dahingegangene gesessen, als
theure Reliquie und nennt ihn den „Mendelssohn-Stuhl“. Sch. in B.