Aus Hunger
[256] Aus Hunger. Im hiesigen Polizeigericht kam gestern folgender Fall vor: Ein armes deutsches Mädchen hatte eine Kanne mit Milch vor der Privatwohnung eines reichen Amerikaners stehen sehen, wo ein Milchhändler dieselbe hingestellt. Hungrig wie sie war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sich den köstlichen Trank zuzueignen. Der Milchhändler ertappte die Diebin aber auf der That, ließ sie arretiren und vor das Polizeigericht führen. Auf die Frage des Richters, was sie zu ihrer Vertheidigung vorbringen könnte, ließ ihm die vor Scham und Angst halb betäubte Unglückliche durch einen Dolmetscher sagen, sie hätte die Milch genommen, weil sie hungrig gewesen und keinen Cent Geld gehabt, sich welche zu kaufen. Als der Milchhändler dieses hörte, zog er sofort die Anklage zurück, und der Richter verurtheilte die Diebin zu ein viertel Dollar Strafe, der geringsten nach dem hiesigen Gesetz, welche einer der Anwesenden sofort bezahlte. Der Richter bemerkte darauf, daß man für die arme Fremde etwas tun müsse, und veranstaltete zu ihrem Besten eine Collecte, die er selbst mit einem Dollar begann. Binnen weniger Minuten wurden zwanzig Dollars in Gold unter den anwesenden Amerikanern zusammengebracht, welche Summe der Richter dem armen weinenden Mädchen einhändigte und sie ohne ein ferneres strenges Wort entließ.
Fremde Nationen und auch Deutsche zucken gern die Achseln über den hartherzigen, geldgierigen Yankee mit seinem „allmächtigen Dollar“. Wie aber möchte es dem armen Mädchen z. B. in Deutschland ergangen sein?
Wer hebt den ersten Stein auf gegen jenen amerikanischen Richter?
San Francisco, am 2. März 1870.