Auf welche Weise in gegenwärtiger Zeit noch Wallfahrtsorte entstehen!

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Titel: Auf welche Weise in gegenwärtiger Zeit noch Wallfahrtsorte entstehen!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 398
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Blätter und Blüthen
Hierzu eine Berichtigung: Ueber die neue Wallfahrt unweit Würzburg, Heft 31, S. 514
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[398] Auf welche Weise in gegenwärtiger Zeit noch Wallfahrtsorte entstehen! In einem Städtchen mit ungefähr zweitausenddreihundert Menschen lebte im Jahre 1863 eine Frau (lebt wahrscheinlich noch) im Alter von beiläufig fünfzig Jahren, sie hieß Geyer; ihr war das kleine Amt einer Zolleinnehmerin anvertraut. Um diesem Geschäfte pünktlich nachkommen zu können, hatte sie im Rathhause, welches in Mitte des Ortes auf einen freien Platz gebaut war, zu ebener Erde ein Stübchen, von dem aus sie alle herankommenden Fuhrwerke, die das Städtchen passirten, sehen und anrufen konnte. Damit aber auch kein Zollpflichtiger durch zu rasches Fahren oder kein Bäuerlein durch wirkliche oder nur angenommene Taubheit sich seiner Schuldigkeit entzog, mußte die Frau viel auf der Straße sein, oft laut und anhaltend rufen; besonders an den Tagen, an welchen Märkte abgehalten wurden, war diese ihre Thätigkeit in hohem Grade erforderlich; dabei hatte sie sich eine große Gewandtheit angeeignet, war unerschöpflich im Auffinden und in der Anwendung neuer Worte und Benennungen, womit sie die Vorüberfahrenden zum Zahlen aufforderte. Kein Wunder, daß bei diesem Amte ihre Kehle oft trocken wurde, Wasser schien nicht die hier nothwendige Hülfe zu bringen, und so war die Frau gezwungen, zu geistigen Getränken ihre Zuflucht zu nehmen. Die bösen Zungen, die ja selbst in einem kleinen Städtchen nicht fehlen, wollten behaupten, daß weniger die Geyer selbst, als eben die genossenen Getränke die Schuld trugen, wenn sie zuweilen das Gleichgewicht ihres Körpers nicht finden konnte.

Eines Morgens nun wurden die Bewohner des Städtchens mit der Nachricht überrascht, daß in vergangener Nacht der „Geyerin“ die Jungfrau Maria erschienen sei. Die Frau erzählte denn Allen, welche sie nur anhören wollten, daß ihr geträumt, sie wäre gestorben, dabei hätte sie große Angst und Furcht ausgestanden, alle ihre Sünden seien ihr eingefallen, wie sie vor die Himmelsthür gekommen, hätte sie diese auch richtig verschlossen gefunden, auf kein Bitten und Flehen hätte sich dieselbe geöffnet, da in ihrer größten Noth sei die Jungfrau Maria in all ihrer überirdischen Schönheit ihr erschienen. Der hätte sie nun ihren Jammer geklagt, allein auch diese wußte keinen Trost, hielt ihr im Gegentheil auf’s Strengste ihre Sünden vor. Erst nach langem und inbrünstigem Flehen erklärte die Jungfrau Maria, ihr helfen zu wollen. Aber nun sei die Frage entstanden, wie und auf welche Weise die Hülfe gebracht werden könne, da habe sich denn kein anderer Ausweg gezeigt, als daß die Jungfrau Maria sich für die Sünden der Geyerin auf drei Jahre in einen Eichbaum sperren lasse, nach dieser Zeit würden sie gesühnt sein.

Noch erfüllt von Dank für diese Gnade, war die Frau erwacht, und nun war ihr einziger Gedanke, den Eichbaum, in dem Maria für sie die Sünden abbüße, zu finden. Nachmittags zog zu diesem Zweck eine kleine gläubige Schaar in den nahen Wald, und wirklich konnte, o Wunder, die Geyer unter den dort gerade nicht seltenen Eichbäumen gerade den angeben, in welchem die Maria sich für sie befand. Derselbe wurde nun durch Anheftung verschiedener Heiligenbilder bezeichnet und bildete von diesem Tage an für viele Bewohner des Städtchens und der Umgegend einen Gegenstand der Verehrung und Anbetung. Fast täglich wurden kleine Wallfahrten in Begleitung eines Vorbeters dahin gemacht, und wer es nicht glauben wollte, welche Wunderkraft diesem Baume zugeschrieben wurde, der konnte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, denn an demselben waren eine Menge von gemalten oder in Wachs formirten Beinen, Armen, Händen, Herzen etc. angebracht, welche bezeugten, wie viele Bittende hier Hülfe suchten. Es entstand um den Baum nach und nach eine Capelle. Die Capuziner, welche nahe dem Städtchen ein Kloster inne hatten, unterstützten diese Wallfahrten, sollen sie auch begleitet haben; der Geistliche des Ortes that wohl nichts dafür, ob etwas dagegen? – Thatsache ist, daß dieser Baum nun seine Capelle hat, und wer wird wohl in dreißig bis vierzig Jahren noch ungeschminkt und wahr die einfache Entstehung jener wunderthätigen Capelle kennen? Wie viel des Wunderbaren mag dann erzählt werden, daß man bei solchen Vorkommnissen unwillkürlich fragen muß, ob nicht viele der berühmten Wallfahrtsorte eine ähnliche, dem verwandte Geschichte haben mögen.

Im Gebirge, im Walde, auf einsamer Haide, da, wo weder Eisenbahn noch sonst ein lebhafter Verkehr Menschen mit Menschen verbindet, wohin das Licht der Aufklärung noch nicht gedrungen, da glaubt gewiß der Leser den Schauplatz jener Begebenheit suchen zu müssen, aber nein – das Städtchen, in welchem die Frau Geyer geträumt, heißt Karlstadt, liegt zwei Stunden von Würzburg in Unterfranken, hart an der Bahn nach Frankfurt, und der Eichbaum mit der Capelle steht eine halbe Stunde davon im Walde von Mühlbach.