Auf unseren Vorposten vor Paris

Textdaten
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Autor: Ludwig Pietsch
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Titel: Auf unseren Vorposten vor Paris
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 3, S. 14–18, 44–46
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[14]
Auf unseren Vorposten vor Paris.
Von Ludwig Pietsch.
I.
Die Villenstädtchen vor dem Festungsgürtel. – Vernichtung und Zerstörung ringsum. – Der „Onkel Baldrian“. – Fast in den Straßen von Paris. – Ein Lustschloß als Brandruine. – Lulu’s Spielplatz. – Architektonische und landschaftsgärtnerische Kunstthätigkeit der Militärbehörden. – Gefährliche Spaziergänge. – In den Kellerräumen von St. Cloud. – „Wie der Herrgott von Frankreich“. – Zwischen Stein- und Flatterminen. – Ein bombenfester Tambour. – Unsere braven Vorposten.
Versailles, 1. December 1870. 

Eine Belagerung wie die von Paris hat die Welt noch nicht gesehen, und auch keine Festung wie diese. Der Kreis, der sie umspannen will, muß zwölf Meilen in seiner Ausdehnung haben. Denn noch weit hinaus vor die riesige Enceinte (Festungsgürtel) schieben sich die mächtigen Forts, die es, zunächst in etwas respectvoller Entfernung mit einzuschließen gilt. Einer solchen Veste mit vorschriftsmäßigen Belagerungsarbeiten, mit ersten, zweiten und dritten Parallelen, die durch Tranchéen verbunden sind, beizukommen, erscheint, zumal angesichts des außerordentlich wechselvollen hügeligen und waldigen Terrains ihrer Umgebung, als eine Unmöglichkeit. Man mußte sich deshalb zunächst auf die Cernirung und auf die Herstellung gewisser durch ihre Lage die Umgebung beherrschender Schanzen für die Aufnahme schweren Geschützes beschränken, von welchem aus etwa ein paar Forts mit Wirkung beschossen werden können, um somit nöthigenfalls den langsamen Effect der vollständigen Ein- und Abschließung beschleunigen zu helfen. Hand in Hand mit den Arbeiten zur Herstellung solcher etwaigen Angriffspositionen mußten die nicht minder wichtigen gehen, deren Zweck es war, möglichst starke Vertheidigungslinien für die einschließende Armee zu schaffen, um derselben verdoppelte Sicherung gegen Ausfälle und Ueberraschungen zu gewähren, wie sie dieselben bereits so vielfach zu bestehen gehabt hatte.

Um ganz Paris zieht sich bekanntlich ein Kreis von Ortschaften, die man nicht eigentlich Städte oder Dörfer in unserem Sinne, sondern Villenstädtchen nennen kann. Sie setzen die Reihe der eleganten Landhäuser und Schlösser fast ununterbrochen fort, welche vor der Enceinte der Stadt beginnen, und ziehen sich hier an der Südwestseite bis in die Nähe von Versailles hin. Geschlossenere Ortschaften, wie Bougival, Marne, Sceaux, Sèvres, St. Cloud, Meudon, Montretout etc., bilden eine Art von Kern. Aber deren von zusammenhängenden Wohnhäusern gebildete Gassen gehen allseitig über in eine zwischen reizende Gärten und weite Parks lustig und willkürlich gleichsam verstreute Villengruppe.

Das überall von reicher Vegetation, von herrlichem Baumwuchs bedeckte Hügelland mit seinen weiten Fernsichten über den vielgekrümmten Seinespiegel und über das pittoreske Häusermeer der ungeheuren Stadt mit ihren schimmernden Kuppeln und ragenden Thürmen bietet das glücklichste Terrain für solche Anlagen. Dort findet der zu einem Rentenbesitz, dem ersehnten Ziel all’ seines Arbeitens und Kargens, gelangte, wie der von Haus aus zur günstiger situirten Minderheit gehörige Franzose Alles vereinigt, was für ihn zum wahren Lebensgenuß gehört: trauliches Behagen in seinen vier Pfählen inmitten einer mit Kunst und Geschmack benützten, anmuthigen Natur, ländliche Stille, reine Luft und doch gleichzeitig im steten Anblick des nahen Paris das für ihn so erhebende, so erquickende Bewußtsein, in jedem Augenblick durch eine kurze Eisenbahn- oder längere Omnibusfahrt in den Qualm und Lärm und Glanz wieder untertauchen zu können, welcher dort aufsteigt.

Wenn es, wie die „Gartenlaube“ neulich in so beherzigenswerther Weise hervorhob, für eine Festung schlimm ist, reiches bürgerliches Behagen und Denkmale hoher Kunst in ihren Wällen einzuschließen, so ist es ebenso schlimm für letztere beide, wie ein prangender Gürtel die Mauern und Forts der Veste zu umhegen. Erbarmungslos fallen sie der zwingenden Nothwendigkeit zum Opfer, wenn die Stunde der Belagerung kommt. Einen Theil vernichtet die Axt und vernichten die Geschosse der Vertheidiger, den andern zerstören noch gründlicher und sicherer die unvermeidlichen Arbeiten der Angreifer.

Jene Umgebung von Paris hat es zu erfahren seit drei Monaten!

Aus eigener Anschauung kenne ich nur einen Theil der betreffenden Arbeiten an der Süd- und Südwestseite von Paris, auf jener Linie, die sich von den Stellungen des sechsten Corps und der Baiern im Osten bei Villeneuve und Chatenay gegen Villejuif zur großen Schanze von Clamart (de la Tour à Moulde), Meudon, Sèvres, St. Cloud, Montretout gegen Bougival und St. Germain en Laye hinzieht. Besonders das Gebiet von St. Cloud mit der damit eng verbundenen entzückenden Villenstadt Ville d’Avray und Marne war wiederholt das Ziel meiner Besuche und mein Aufenthalt während so mancher interessanter Tage, die mir ebenso durch die Gegenstände, welche sich meiner Beobachtung zeigten, als durch die echte Liebenswürdigkeit der dorthin commandirten gastfreien Officiere zu lieben und unvergeßlichen geworden sind.

Gerade diese Partien des großen Belagerungskreises haben eine besonders wichtige Bedeutung und die darin Thätigen eine besonders schwierige Stellung durch die Nähe des mächtigsten und gefährlichsten aller Pariser Forts, des viel genannten Mont Valérien, welchen unsere Soldaten den „Onkel Baldrian“ zu nennen lieben.[1] Es ist das jene weithin herrschende, mit ungemein starken Werken und Casernenbauten gekrönte Höhe im Westen von Paris, welche für das Bois de Boulogne und sein zierliches Landschaftsbild einen so ernsten großartigen Hintergrund bildete und an deren Fuß unmittelbar die Eisenbahn nach Versailles vorbeiführt.

Die wirksame Ergänzung der oben erwähnten Vertheidigungsbauten bildet das bei Boulogne angelegte französische Werk, wie andererseits weiter östlich das detachirte Fort von Issy. Im Nordwest dieser interessanten Nachbarschaft erhebt sich über dem Plateau de Closeaux jener Hügelrücken, über welchen sich weithin der prächtige waldähnliche Park von St. Cloud ausdehnt – mit dem berühmten französischen Herrscherschloß, das er umhegt, mit der hübschen Stadt, die sich von ihm am Abhang bis zur Seine herniederzieht, sonst einer der beliebtesten Zielpunkte der Pariser Spazierfahrten und Landpartien.

Es war bekanntlich am 17. September, nach dem ersten Gefecht, noch vor Paris bei Valentin und Breteil, als das bei Weißenburg, Wörth und Sedan bereits durch seine glänzende Tapferkeit so ausgezeichnete Bataillon des preußischen achtundfünfzigsten Regiments, unter dem ritterlichen Hauptmann Wernecke, [15] den Feind in aufgelöster Flucht bis unter die Wälle des damals noch gänzlich unarmirten Forts Charenton trieb. Es wäre in Paris selbst eingedrungen, wenn es statt der stricten Ordre umzukehren die nöthige Unterstützung durch das nächste Armeecorps empfangen hätte. Schon damals besetzte dasselbe Regiment den Park und die nächsten Umgebungen von St. Cloud, und jener tapfere Officier empfing den Schlüssel des Schlosses. Der denkwürdigen Geschichte dieses französischen Herrschersitzes hatten die dem Kriege zunächst vorangegangenen und die dessen Erklärung zunächst gefolgten Wochen noch manches interessante Capitel hinzugefügt. Dort war vom Kaiser das schicksalsvolle Document unterzeichnet worden, das die Furien des Verderbens entfesselte. Dort hatte die Kaiserin-Regentin noch eine Zeit lang, mit dem Schatten der Macht bekleidet, Hof gehalten und den abwesenden Gemahl repräsentirt. Militärisch war die Position des nahen Mont Valérien halber schwer haltbar. Man gab sie daher zunächst auf und zog die Truppen aus dem Park und Schloß zurück. Und doch erkannte man ihre Wiederbesetzung bald als eine Nothwendigkeit. Ende September wurde der Park neuerdings in Besitz genommen, nicht ohne Verluste der preußischen Truppen, welche ihrerseits leider genöthigt waren, die am Endpunke einer der prächtigen Alleen befindliche und von den Franzosen als Zielpunkt benutzte hochragende „Laterne des Diogenes“ in die Luft zu sprengen.

Wollten die Franzosen dafür Rache üben? Am 13. October schüttete der Mont Valérien auf das wenig besetzte und an sich strategisch wenig wichtige Schloß St. Cloud jenen Regen von Brandgranaten, der den schönen Prachtbau in Flammen setzte und es gleichzeitig den zur Bergung und Rettung der unersetzlichen Kunstschätze, Bibliotheken und Denkwürdigkeiten unerschrocken thätigen preußischen Jägern unmöglich machte, ihr Rettungswerk ganz durchzuführen.

Seitdem ist das prächtige Lustschloß so vieler Herrscher Frankreichs eine traurige Brandruine; statt durch hohe Spiegelscheiben in schimmernde kunstgeschmückte Säle scheint der Tag durch leere ausgebrannte Fensterhöhlen auf ein Chaos von Trümmern, verkohlten Balken, verbogenen Eisen; und was der Bau enthielt, liegt theils darunter zerschmettert, theils ging es draußen im langen Regen zu Grunde, theils ist es in alle Welt zerstreut; nur Weniges im Verhältniß hat durch die Vorsorge der Höchstcommandirenden der deutschen Heere gesichert und erhalten werden können. Mit so viel schönen und bedeutenden Dingen ging denn auch ein mehr zierlich spaßhaftes zu Grunde; der große Spielplatz des „Kindes von Frankreich“, der sich zur Linken des Schlosses auf einem freien, höhergelegenen, von hohen Bäumen eingefaßten Platze noch heute in geringen Resten erkennen läßt. Das Niedlichste darauf war eine in Form einer großen Acht gebildete und somit überall in sich selbst zurückkehrende Miniatureisenbahn, mit allem Zubehör getreulichst ausgeführt, mit Waggons, heizbaren Locomotiven, Bahnhöfen, Weichenstellung, Signaltelegraphen, mit hübschen Viaducten über Thäler, und Tunneln, sicher ein so vergnügliches als lehrreiches Spielwerk für einen vierzehnjährigen Burschen.

Seitdem aber sowohl die Pracht als das Spiel hier auf diesem Gebiet ihr Ende gefunden haben, hat die harte kriegerische Arbeit darauf um so ernstlicher und energischer begonnen. Der ganze weite Park mit den zunächst an seine Umfassungsmauern angrenzenden Ortschaften, mit den Eisenstraßen und Chausseen, die ihn theils durchschneiden, theils berühren, den Gebäuden, die er enthält, ist im Augenblick nur noch Material, aus welchem die unsere Vertheidigungs- und Belagerungsarbeiten leitende Militärbehörde die ihr nothwendig und geeignet erscheinenden Werke formt. Unter den mancherlei Unbequemlichkeiten, welche diese Thätigkeit erschweren, sind die bei Tag und Nacht nie ganz ausbleibenden Granatwürfe die störendsten. Aber auch gegen diese sind die soldatischen Arbeiter bereits ziemlich abgestumpft. Ihr Hauptärger ist nur, daß denen, die jene schleudern, noch immer nicht (hoffentlich jetzt bald!) mit gleicher Münze heimgezahlt werden soll. Wie stark aber auch die Macht der Gewohnheit sei, der Wachdienst auf den Vorposten ist darum doch immer ein in hohem Grade nervös aufregender für Officiere wie Soldaten. Die bereits vom Anfange des Feldzugs her datirenden freundschaftlichen Beziehungen zu Einigen der hierher Commandirten und hierher Commandirenden erschließt mir manches Gitterthor und manche Straße, die für den profanen, den nichtsoldatischen „Kriegsbummler“ sonst ziemlich streng verschlossen bleiben. Wenn Ihre Leser mir dorthin folgen, werden sie jenes eigenthümlich Aufregende dieser Art von Dienst sehr begreiflich finden und Gattungen von architektonischer und landschaftsgärtnerischer Kunstthätigkeit kennen lernen, die schwerlich ihres Gleichen haben.

Von Ville d’Avray aus, nahe vor der großen Bogenüberwölbung seiner Hauptstraße durch die Eisenbahn Paris-Versailles, führt ein ziemlich steil ansteigender Weg zwischen Villen und niedrigen Gartenmäuerchen zum östlichen Seitenthore des Parkes von St. Cloud. Wer allein mit seinem Passirscheine ausgerüstet den Eintritt zu erhalten hoffte, würde diese Hoffnung sicher an der Unerbittlichkeit des Wachtpostens scheitern sehen. Hier hilft nur die persönliche Begleitung eines gastlichen Officiers, wie unseres verehrten unermüdlichen Freundes Lieutenant Bringer vom ersten Bataillon des achtundfünfzigsten Regiments, die mir glücklicherweise nicht gefehlt hat; wie denn durchweg diese Herren dort auf Vorposten gegen ihre wißbegierigen Gäste eine liebenswürdige Aufmerksamkeit und Bereitwilligkeit, gute und unschätzbare Dienste zu leisten, an den Tag legen, die nicht hoch genug anzuerkennen ist.

Nach kurzem Gange durch die nächsten Alleen gelangen wir an den freien weiten Platz, den „Stern“. Nach allen Seiten hin gehen breite Avenuen von ihm aus. Militärische Arbeitercompagnien sind hier mit Axt, Spaten und Hacke beschäftigt, einen großen, quer durch den ganzen nordwestlichen Theil des Parks gehenden Verhau anzulegen, breiten Graben und Wall, Deckungen für Infanterie und Positionen für Feldgeschütz, eine dritte Vertheidigungslinie gleichsam, deren Feuer das jener breiten Alleen beherrscht und dem ausfallenden Feinde, der etwa die beiden vorliegenden überwunden haben sollte, das weitere Vordringen sehr verleiden würde. Erde, Rasen, Sandsäcke und besonders Gesträuch und Bäume des Waldes selbst geben die Baumaterialien, und Pionniere und Linieninfanterie wetteifern im Geschick und in der Schnelligkeit ihres Herbeischaffens und in der Herstellung dieser Arbeiten. – Um von hier aus nach dem Platze der „Laterne“ vorzugehen, thut man immer gut, nicht gerade in der freien breiten Straße zu spazieren, sondern lieber zu „wandeln unter den Bäumen“. Sie haben drüben zur Linken auf dem Mont Valérien merkwürdig scharfe Augen und sind mit Pulver und Granaten von der kolossalen Art der Fünfundvierzig- und Fünfundsiebenzigpfünder so unerlaubt verschwenderisch, daß sie nicht zögern, auch den harmlosen einzelnen Spaziergänger mit deren Sendungen zu beehren. Freilich ist auch das Dickicht nur ein mehr eingebildeter Schutz, denn überall zeigen sich im Moosboden dort die „Trichter“, welche früher eingeschlagene und im Boden crepirte Geschosse zurückließen, zersplitterte Stämme, ja auch wohl verstreute einzelne Exemplare dieser eisernen „Zuckerhüte“ selbst noch uncrepirt auf der dürren Laubdecke.

Diese kritische Stellung darf natürlich unsere Pionniere nicht stören und nicht verdrießen, welche gerade hier etwas weiter vor gegen den Abhang und unterhalb die große feste Batterie zu vollenden im Begriff sind, die, mit schwerem Geschütz armirt, in dem vielleicht doch noch bevorstehenden großen Concert der Beschießung von Paris eine sehr wichtige Rolle zu spielen haben wird. Wenn auch im Allgemeinen die praktischen Resultate dieser französischen Schießübungen hier kaum die theuren Kosten derselben werth sind, so müssen die Unseren doch zugestehen, daß die zwei Monate der Belagerung der artilleristischen Ausbildung der Pariser Besatzung sehr zu Gute gekommen und daß entschiedene Fortschritte in ihren Leistungen gegen früher bemerkbar geworden sind.

Weiter hinaus, dort unten links am bewaldeten Abhange, schimmern die Waffen der da postirten „Feldwachen“ zwischen den Stämmen herauf. Tiefer, gerade vor uns, die Seine. Durch das raschelnde dürre Laub am weichen Waldboden steigen wir hinab bis zum ersten Absatz, den eine breite Allee, dem Fluß ziemlich parallel, hier auf der Hälfte des Hanges bildet. In dieser Allee ist die Wahl der beschleunigten Gangart und das wiederholte „Deckung suchen“ hinter den Stämmen der Eichen jedem nicht lebensmüden Spaziergänger sehr anzurathen. Gerade von hier aus liegt ziemlich nah und deutlich da unten vor uns die gesprengte Seinebrücke, und in den ersten Häusern von Boulogne drüben hart am jenseitigen Ufer und an der Landstraße nach Paris sind an den Fenstern und draußen an den Gartenmauern die französischen Schützen permanent im Anschlage. Unsere Feldwachtposten diesseits mögen ihrerseits auch der Lust nicht widerstehen, den Grad ihrer Schieß- und Trefffähigkeit an ihrem Vis-à-vis praktisch zu erproben. Die Folge ist ein nie ganz schweigendes, [16] unregelmäßiges Flintengeknatter von beiden Ufern. Wird aber hier oben ein Kopf oder Leib, gleichviel ob uniformirt oder nicht, sichtbar, so spürt der Besitzer desselben sehr bald an dem unheimlich nahen Zwitschern der Chassepotkugeln und ihrem klatschenden Einschlagen in der Bergwand, daß jene Läufe drüben eine bedenkliche Richtung nach seinem eigenen höheren Standpunkte erhalten haben.

Wir nähern uns nun dem schönen Schloß St. Cloud selbst mittelst einer Art von Springprocession von einem deckenden Stamme zum andern. Die auf seine nun vernichtete Façade führende Allee ist in einiger Entfernung vom Schlosse durch ein Gatterthor abgeschlossen. Im Wachtlocale haben sich, in einem Zimmer die Gemeinen, im andern die Officiere des Postens ein soviel als möglich behagliches Dasein geschaffen. Was seine Einrichtung in Bezug auf Einheit des Stils und Geschmacks vermissen läßt, wird wieder durch die Kostbarkeiten mancher Einzelheiten ersetzt. Die Fauteuils und Sessel haben noch immer etwas von dem Glanz ihrer einstigen Bestimmung bewahrt, und man speist nur von Sèvresporcellan, welches mit dem kaiserlichen N mit der Krone darüber gestempelt ist, und trinkt aus Tassen und Gläsern, welche dieselbe Erinnerung an den ehemaligen Lenker der europäischen Geschicke tragen.

Wie traurig und unwohnlich das verbrannte Schloß dort drüben auch gegenwärtig sein und erscheinen möge – eine nicht zu unterschätzende Wohnstätte haben Granaten und Flammen dennoch auch heute noch in seinem verwüsteten Innern zurückgelassen. Freilich nur im Keller. Man hat wunderliche finstere vielverschlungene Gänge zwischen seinen Grundmauern zu gehen, um dort in jenen gewölbten und, Dank seiner Lage und Bauart, ziemlich bombensichern Raum zu gelangen, in welchem die dorthin commandirten Officiere sich gar nicht unbehaglich einzunisten verstanden haben. An Matratzen und wollenen Decken zum Nachtlager ist kein Mangel. Die „Liebesgaben“, die Postpakete aus der Heimath und die gefundenen Schätze in der Nachbarschaft lassen Speisekammer und Weinkeller nie ganz leer werden; und so wird es nicht allzu schwer, hier gute Miene zum bösen Spiele zu machen und sich dieses unterirdische bombensichere Dasein mit guten Cameraden ein paar Tage gefallen zu lassen.

Neben „Lulu’s Spielplatz“ dient eine Reihe von Zelten den Musketieren dieses Postens zum Wohnsitz; ein anderer Posten liegt in einem benachbarten historisch besonders denkwürdigen Raume, dem Orangeriehause, dem classischen Locale des 18. Brumaire und des Staatsstreichs des ersten Napoleon. Von den Einrichtungen für die damaligen Sessionen des Raths der Fünfhundert blieb natürlich längst keine Spur. Der weite Raum zeigt eben nur noch kahle weiße Mauern und hohe kleinrautige Fenster nach dem Park zu. Die alten mächtigen Orangenbäume in ihren grünangestrichenen großen Holzkübeln stehen oder standen vielmehr noch vom Sommer her draußen vor der Pforte. Da das Holz dieser Kübel zum Brennen und besonders zum Feueranmachen sehr geeignet ist und beim Zerspalten jedenfalls viel weniger Mühe verursacht als das harte und zähe der Eichenstämme draußen im Park selbst, so haben sich natürlich die kriegerischen Bewohner dieses Hauses nicht besonnen, von solchen Vortheilen Nutzen zu ziehen. Daß die alten Orangenbäume darüber jämmerlich verdorrt an die Erde zu liegen kommen, ist eben schwer zu vermeiden.

Drinnen in den ungeheuren kahlen Saal hatte man am Tage des Schloßbrandes und den nächstfolgenden Alles bunt durcheinander hineingeflüchtet und gerettet, was man zuerst dem Feuer und dann dem Regen draußen zu entreißen vermochte. Aber es blieb noch eine bedeutende Menge prächtiger Möbel hier zurück, Pianinos, Stutzuhren, Tische mit Bronzebeschlägen, vor Allem aber köstliche Divans, Chaiselongues, Armstühle und Sessel. Rothe Sammet-, reiche Gobelin-, lichte, mit reizenden Bouquets gestickte Atlasbezüge, vergoldete oder geschnitzte, graciös geschweifte Beine und Lehnen Louis des Fünfzehnten, classisch geradlinige Louis des Sechszehnten, – überall eine Eleganz und Pracht, die unsern Schlesiern und Posenern aber nicht im Mindesten imponirt und sie keinen Augenblick abhält, von der in diesen elastischen weiten Polstern gewährten Bequemlichkeit den ausgedehntesten Gebrauch zu machen. Auf dem Fliesenboden sind die Feuerheerde mit ein paar Steinen schnell und leicht construirt, das Kochgeschirr liefert der eigene Tornister, das Tafelgeschirr der anscheinend an Unerschöpflichkeit den hiesigen Weinadern gleichkommende Bestand edler und köstlicher Porcellane und Fayencen. Für den Abzug des Qualms sorgen zersplitterte Scheiben und Thürflügel zur Genüge. Das giebt dann Genrebilder so voller Charakter, und zumal, wenn die helle Morgensonne auf Bronze, Atlas, Sammet, Vergoldung und Fliesen blitzt, so voller brillanter Farbenwirkungen, daß man ihnen nur einen Meyssonnier zum Darsteller wünschen möchte. Ein paar dieser derben Burschen schüren das Feuer, rühren den Erbswurstbrei; andere spalten das Holz, die Flamme zu nähren; einer sucht nach Melodien auf dem gänzlich verstimmten kostbaren Piano aus Ebenholz, und jener dort liegt mit vorgestreckten und bis zum Schenkel mit Lehmkoth bedeckten Beinen im weißen Atlasfauteuil und studirt die gestern endlich von der Feldpost an ihn gelangte alte Nummer der lieben, über Alles willkommenen „Gartenlaube“. Draußen knarren schwere Räder durch den fetten, kothigen, ausgefahrenen Parkweg. Es sind das die massiven, flachen, niedrigen Wagen, welche sonst zum Transport jener riesigen Orangenbäume in ihren Kübeln gedient haben. Jetzt führen sie eine andere Last von einem Theil des Parks zum andern: gewaltige Eichenstämme von hundertjährigem Alter, die man in jenen Alleen und Dickichten gefällt hat, und die nun, von sechs davor gespannten starken Pferden unter reitender Artilleristen Begleitung und Aufsicht dorthin gefahren werden, wo man ihrer zu den Arbeiten an den Batterien und Verschanzungen bedarf.

Sie spielen eine wichtige Rolle in dieser Art von militärischer Baukunst. Hier nicht weit hinter dem Orangeriehaus zieht sich die lange, etwa sieben bis acht Fuß hohe Mauer des Parks von St. Cloud in unabsehbarer Ausdehnung hin. Die Pforte, die dort gerade hinaus zum unmittelbar darangrenzenden Villenstädtchen Montretout führt, ist das sogenannte Grille d’Orleans. Montretout geht in das hart an der Seine gelegene Städtchen St. Cloud fast ohne Abgrenzung über. Beide, bis nicht vor langer Zeit in des Feindes Händen, waren für diesen sehr gelegene Ausgangspunkte für Ausfälle zur Störung unserer Arbeiten und Posten, und zur Vertreibung der letzteren. Seit dem großen blutigen Ausfall gegen hier und Bougival am 21. October sind unsere Pionniere daher auf’s Eifrigste thätig gewesen, diese Mauer und das diesseits und jenseits angrenzende Terrain nach allen Regeln der Ingenieurkunst zu befestigen und den Gegnern den Winteraufenthalt dort in jenen Ortschaften so unerträglich als möglich zu machen. Das beste Mittel zu letzterm Zweck war jedenfalls die Vernichtung der Gebäude selbst, hinter und in denen sich seine Schützen einnisten und decken konnten. Und solch ein Werk besorgt das Feuer bekanntlich besser und geräuschloser, als jedes Geschoß. Jede Villa selbst liefert das geeignetste Material zu ihrer Selbstverzehrung. Wohlausgetrocknete Pianinos, alte Kunstmöbel und minder moderne Seiden- und Sammetfauteuils, zumal mit einem etwas freigebigen Beisatz von Petroleum, empfehlen sich in dieser Hinsicht als das Zweckentsprechendste. So von kleinen Anfängen ausgehend, ist man denn von Stufe zu Stufe weiter vorgerückt, und hat bereits eine ganz hübsch ausgedehnte Ruinenstadt im Umkreis des Parks geschaffen, an deren Vollendung die französischen Granaten, statt sie zu verhindern, auch ihrerseits nicht unwirksam mitgearbeitet haben. Wenn nun auch nicht mehr der Feind, so können doch dafür unsere vorgeschobenen detachirten Unterofficierposten dort Stellung und Deckung finden; letztere ist dort gegen Seine und Mont Valérien gleich sehr wünschenswerth.

Für den kaum wahrscheinlichen Fall, daß der Feind, diese Posten zurückwerfend, und das Feuer unserer „Montretout-Schanze“ aushaltend, dennoch gegen den Park vordringen sollte, dürfte er in dessen Nähe sich noch auf manche Ueberraschung gefaßt machen und seinen Weg gewiß nicht mit Rosen bestreut finden. Es giebt außer den kaum sichtbaren, jeden Fuß unentrinnbar zum Straucheln zwingenden Fallen, welche dort den Boden überspinnen, für solche Anlässe besonders zwei Gattungen von sinnreichen Veranstaltungen. Bei der einen derselben, von mehr idealer Natur, beabsichtigt man hauptsächlich einen moralischen Effect: sie nennt sich die „Flattermine“; bei der andern den derbsten physischen Effect: die „Steinmine“. Auch der Tapferste wird im stürmischen Vordringen für einige Momente lang stutzen, wenn er plötzlich nahe vor sich den Boden bersten und Flammen speien sieht. Das allein und die dadurch gewonnene kurze Frist bezweckt und erreicht die erste Gattung. Die zweite aber sprengt, schleudert, zerschmettert auffliegend mit ihrer fürchterlichen Füllung Alles, was sich ihr naht.

Das Ausgangsthor der Parkmauern ist hier wie anderwärts

[17]

Im Granatfeuer bei Villiers.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

Straße nach Villiers.  Fort Nogent.     Fort Rosny.     Berg Avron.

[18] heute ein sogenannter „Tambour“, dessen Wände aus dicken festen Eichenstämmen aufgerichtet und als Dach mit eben solchen gedeckt sind, deren Lage durch darauf gehäufte Erde und Rasen eine selbst für schwere Geschosse fast undurchdringliche Dichte und Festigkeit erhalten hat. Solche Bedachung ist es denn auch, die dem großen „bombensicheren Gang“ seine Schutz- und Widerstandskraft giebt, welchen man eben jetzt nahe der Mauer, unterhalb ihres Umkreises herzustellen beschäftigt war. In schrägem Winkel gegen dieselbe gerichtet, ist er tief und weit genug in die Erde gewühlt, um nöthigenfalls fast einer ganzen Compagnie gesicherten, wenn auch etwas unbequemen Aufenthalt zu gewähren. Wände, Dachwölbung, Eingangspforte zu seiner Höhle sind Meisterstücke solider Architectur aus dicken eisenfesten Stämmen und Erde. Auch während des Arbeitens daran ist der noch unfertige oft genug den abwechselnd dazu commandirten Pionnieren und Infanteristen ein sehr willkommener Zufluchtsort. Wenn sie auch an dieser Stelle nicht direct mehr von feindlichen Posten gesehen werden können, so wissen die Leiter der französischen Batterien doch die allgemeine Lage, wo unsere Hauptarbeiten vorgenommen werden, gut genug, um nach deren Richtung hin ihre Granaten aus den weit tragenden Geschützen werfen zu können. Von Zeit zu Zeit erdröhnt von fern her der laut hallende Krach des Schusses, dem das eigenthümlich zischende und schmetternde Heulen des die Luft durchschneidenden Projectils folgt. Für besorgtere Herzen, wie sie auch wohl unter der Uniform schlagen, ist das genügend, schleuniges Hineinspringen in die bombenfeste Pforte zu veranlassen. Die Mehrzahl der durch lange Gewohnheit Abgehärteten und einsichtig Gewordenen erkennt aus der Art des Knalls sicher den Ort, von wo er ausging, und ebenso aus der zischenden Flugbahn das Ziel, für das der jedesmalige „Zuckerhut“ bestimmt ist. Spaten oder Hacke ruht wohl einen Moment lang in der Hand, die eben zum Hiebe oder Stoße damit ausholte. „Geht nach Sèvres-Schanze,“ „geht nach Montretout-Schanze,“ „für Batterie bestimmt,“ „ist vom Onkel,“ „ist Kanonenboot“ ruft je nachdem Einer dem Andern das Resultat seiner Prüfung zu; das laute scharfe „Pang“ der platzenden Granate ertönt näher oder ferner, jenes Urtheil bestätigend oder berichtigend – und die Spaten klirren wieder von Neuem; und die Vorsichtigen tauchen wieder aus auf dem dunkeln Höhlenthor des Bombensicheren unter dem ironischen Willkommengruß der Cameraden: „Lieb’ Vaterland, kannst ruhig sein, sie schießen nicht mehr!“ –

Die Parkmauer, welche diesen ganzen weiten Bezirk umhegt, hat nicht nur zum Vertheidigungswall, sondern ebenso sehr zum Beobachtungsposten zu dienen. Zu diesem Zwecke sind an ihrer innern Seite in halber Höhe die sogenannten „Banquets“ angebracht, d. h. horizontale Bretterlagen, welche es den auf ihnen postirten Soldaten ermöglichen, mit den Augen über den obersten Mauerrand hinwegzulugen. Wo dicht an der Mauer Bäume standen, ruhen diese Banquets auf deren unteren Zweigen oder ad hoc bearbeiteten Stämmen. Wo die fehlen, muß jeder gerade zur Hand liegende Gegenstand zur tragenden Stütze dienen, aufgehäuftes Holz, Steinhügel, häufig genug auch Möbel, zuweilen solche von der kostbarsten Art, wie sie die benachbarten Villen und Schlösser hergaben. Aus Schrank- und Stubenthüren, aus Commodenwänden und Tischplatten aber construirt erheben sich in gewissen Abständen, meist paarweise nebeneinander, auf diesen Banquets die freilich auch nur sehr geringe Deckung gewährenden Wachhäuschen für die einzelnen Beobachtungsposten.

Gewiß, es giebt angenehmere Schildwachdienste als diese dort: nicht ohne aufrichtige Bewunderung konnte ich immer diese braven Männer und Burschen dort stundenlang stumm und unbeweglich ausharren sehen, das Gewehr schußfertig im Arm, den Blick spähend hinausgerichtet über den Mauerrand, anscheinend gleichgültig auch gegen den kalten Herbstregen, den ihr luftiger Verschlag so wenig wie ihr grauer Tuchmantel hindert, sie bis auf die Haut zu durchnässen, gleichgültig auch gegen jene schlimmen fünfundsiebenzigpfündigen Schloßen, die in jedem Augenblick ihrem Postendienst ein Ziel für immer setzen und sie ablösen können zur ewigen Ruhe.

[44]
II.
Unsere militärischen Wegebaumeister. – Die Romantik der Tunnelgewölbe. – Orientalische Gastfreundschaft. – Bahnwärterhäuschen und Salons. – Bei strenger Arbeit. – Ablösung und Nachtruhe. – Leere Schlösser und verlassene Villen. – Zertrümmerte Herrlichkeit. – Aus der Verwüstung gerettet. – Eine bairische Bierbrauerei. – Im Familienkreise. – „Zur Meldung“. – Feldpost und Liebesgaben.

Quer durch den Park von St. Cloud geht eine breite Landstraße, welche sich in einem tiefen Hohlwege mit der Eisenbahnlinie Paris-Versailles kreuzt. Selbstverständlich ist beiden Straßen im System der Vertheidigungsstellungen eine wichtige Rolle zugewiesen. Wenn Straßen im Frieden dazu gemacht sind, Orte in der möglichst bequemen Weise untereinander zu verbinden, so haben die militärischen Wegebaumeister, denen gegenwärtig deren Umarbeitung obliegt, vor Allem den Zweck im Auge, solche Verbindungen möglichst abzuschneiden, oder doch zu erschweren. Die Mittel, diesen Zweck zu erreichen, sind sehr verschieden. Besonders willkommene Handhaben dafür bieten bei der Chaussee, wie bei der Eisenbahn die Tunnel. Nicht weniger als dreien derselben begegnet man im Park, dem großen und kleinen Eisenbahntunnel und dem Chausseetunnel. Unausgesetzt ist daran gearbeitet worden, dieselben für die Posten, die man in sie verlegte, zu starken Stellungen im Falle eines Angriffs zu machen. Aber gleichzeitig hat man sich gezwungen gesehen, diese Localitäten in Rücksicht auf ihre Bestimmung als Wohnsitz für Officiere und Mannschaften während der Tage und Nächte ihres dortigen Vorpostendienstes nach Kräften wohnlich zu machen und auszustatten.

Schwierig bleibt diese Aufgabe in jedem Falle. In Spätherbst- und Winternächten zumal bietet der Aufenthalt in solchen kellerartigen, an beiden Enden offenen, von eisigem Luftzuge frei durchwehten, feuchten Tunnelgewölben etwas zu viel der Romantik. Es gehört eben auch hier das praktisch-erfinderische Talent des Soldaten und der eigenthümliche Künstlersinn ihrer Herren Officiere, vereint mit einem gewissen verwegenen Humor dazu, um das Gegebene so zu gestalten und soweit erträglich zu machen, als es ihnen in der That gelungen ist. Unvergeßlich bleibt mir der wahrhaft phantastisch-komische Eindruck, den ich an jenem trüben Novembernachmittag empfing, als mich meine Parkwanderung zum ersten Male in den dortigen Chausseetunnel führte. Aus der tiefen, rauchigen Dämmerung des Raumes, der sein Licht nur noch durch schmale offen gelassene Eingänge an beiden Seiten empfing, entwickelten sich dem Auge erst allmählich die Gestalten und Gruppen der Soldaten, die dort theils auf ihren Matratzen, Strohsäcken, Decken am Boden lagerten, theils ihre draußen an den Feuern gekochten Fleisch- und Erbswurst-Portionen aus den Kochgeschirren löffelnd beisammen saßen. Die Flintenpyramiden standen in Reihen zusammengestellt, die Helme hingen daran, das Stimmengewirre hallte als undeutliches elementarisches Brausen durch den düstern Raum. Wenn man das Soldatenlager passirt hat, trifft man zur Rechten des Durchgangs auf einen anderen davon abgezweigten Raum, den eigentlichen Salon dieses originellen Quartiers. Nach der Straße hin bilden die aufrecht gestellten Glasfenster ehemaliger Treibhäuser seine Wände. Gegen den Luftzug vom Tunnel-Ein- und Ausgang müssen ihn ein paar kühn aufgestemmte Wandschirme, aus Stroh geflochtene Glashausdecken, ein paar dicke Velourteppiche und was sonst in diesem Genre von den umliegenden Villen geliefert oder zu retten war, schützen. Diese drei Seiten bilden zugleich mit der Tunnelmauer einen den Umständen nach ganz gemüthlichen, in jedem Falle höchst malerischen Aufenthalt; dennoch aber gerathen diese Herren, welche uns mit der liebenswürdigsten Gastlichkeit einladen, näher zu treten, in gelinde Wuth, wenn man ihnen die besondere Herrlichkeit ihrer Wohnung zu rühmen versucht. Man solle es, rufen sie, nur einmal probiren und ein paar Novembertage, oder gar Novembernächte diesen traulichen Salon an ihrer Statt bewohnen!

Für die Nächte mögen sie Recht haben. Aber während der Tage verstehen es die Officiere vortrefflich, den Unbilden der Localität, des Wetters, Regens und Windes die Spitze abzubrechen. Eiserne Oefen hat ein neulich im verlassenen Montretout glücklich entdecktes und gerettetes Lager solcher Heizmaschinen geliefert. Möbel von der schönsten und kostbarsten Art gaben und geben noch immer die Schlösser und Villen der Umgegend her. Um Spiegel, Bilder, Stutzuhren hat man hier nie verlegen zu sein. Musikkundigen Männern wären gute Pianinos sogar jederzeit gewiß. Es bedürfte nur der Träger, um sie herzubringen. Den Wein liefert der nach drei Monaten der Belagerung und der Erdarbeiten an solchen Schätzen noch immer reichlich ergiebige Boden in der Nachbarschaft zur Genüge. An allem Uebrigen aber lassen es weder Intendantur noch liebevoll sorgende Herzen in der Heimat mangeln, und so ist es ganz erfreulich, hier bei diesen tapfern Männern auf Pferdedecken, Wollenmatratzen, türkischen Teppichen und Prachtfauteuils bei immer vollen Krystallgläsern, aus denen noch vor Kurzem der Kaiser und sein Hofstaat getrunken haben, eine wahrhaft orientalische Gastfreundschaft zu genießen.

Nicht weit davon, in eines andern Hohlwegs Tiefe, liegt der Eisenbahntunnel. Der Aufenthalt war damals wenigstens (jetzt soll er durch sinnreiche Veranstaltungen wesentlich erträglicher gemacht worden sein) viel unheimlicher, als in dem eben geschilderten; die Finsterniß größer, die Kälte und feuchte Kellerluft durchdringender, bei seiner soviel größern Länge. Die Officiere hatten daher auf kräftigere Schutzwehren denken müssen, und unter Anderem statt des offenen, immer etwas luftigen Salons ihrer Cameraden im Chausseetunnel ein paar Bahnwärterhäuschen aus der Nachbarschaft requirirt, diese nicht weit vom Eingange aufgestellt, und in diesen freilich engen Hütten sich, so gut es ging, ihr warmes und behagliches Heimwesen eingerichtet. Natürlich fehlte es auch dem weder an Möbelpracht, noch an Kellerinhalt, während gleichzeitig die trauliche Enge des verfügbaren Raumes auf Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit keinen mindernden Einfluß zu üben vermochte.

Weiter aufwärts die Chaussee hin gehend, trifft man nach etwa zehn Minuten Wegs auf eine außerordentlich thätige Gesellschaft, der zu munteren Sitzungen wie denen im Tunnel keine Zeit und Muße gelassen ist. Dort sind Pionniere und zur „Arbeit“ commandirte Infanteriemannschaften eben beschäftigt, die am „Stern“ begonnene dritte Vertheidigungslinie, die sie bereits durch den Wald bis hierher geführt haben, über die Straße und durch die jenseitige nördliche Waldpartie zu ziehen. In einer wohl sechszig bis achtzig Fuß breiten Straße sind die Bäume dort bereits unter der Axt gefallen. Ein tiefer Graben durchschneidet, vom Walde sich fortsetzend, die ganze Chaussee. Die aufgeworfene Erde mit den [45] Stämmen, mit dem Strauchwerk und den daraus geflochtenen Schanzkörben wird zu immer festeren Schutzwällen gegen die Angriffsfront gefugt.

Etwas weniger den französischen Geschossen ausgesetzt als ihre schanzenden Cameraden vorn an der Parkmauer, sind diese Schaufler, Gräber, Holzfäller, Schmiede und Zimmerer dennoch niemals ganz sicher vor den weitreichenden Würfen des Onkel Valérien. Und wenn auch die anstrengende körperliche Arbeit erwärmt, so ist doch in diesen November- und Decembertagen, wo der launische französische Himmel immer zwischen Schnee, Eis, sechs bis zehn Grad Kälte, und wieder strömendem Regen und nebelfeuchter, unnatürlicher, fieberbrütender Frühlingswärme hin- und herschwankt, das Commando hier draußen kein angenehmes. Der Theil der Extraerquickungen, der auf diese Leute fällt, ist dazu ein ziemlich mäßiger. Nie kann die Verpflegung der Vorposten so unbedingt geregelt werden, daß jeder Mann jeder Zeit davor bewahrt bliebe, die hohen Tugenden des Entbehrens und Entsagens, mehr als ihm selbst wünschenswerth ist, üben zu müssen. Der französische Marketender, der die Leute dort mit seinem mit Cognac, Brod, Käse beladenen Karren aufsucht, versteht es vortrefflich, aus ihrem Bedürfen und Verlangen für sich die Quelle eines gaunerischen Profits zu machen und ihnen für die wenigen verfügbaren Sous ein recht schlechtes Gebräu und Gebäck zu verkaufen.

Das früh hereinbrechende Abenddunkel bringt den Arbeitscompagnien im Walde Ruhe, den Posten Ablösung und die Abgelösten mit ihren Officieren rücken wieder in ihre Nachtquartiere in Ville d’Avray und Marnes ein. Es ist kein Mangel an solchen. Die Mehrzahl aller Häuser bilden Villen, kleinere und größere Schlösser reicher Pariser, darunter viele in ganz Europa bekannte und genannte Größen der hohen Finanz, der Kunst und Wissenschaft, der Diplomatie und Verwaltung. Auch an solchen coquetten Asylen fehlt es nicht, welche sich galante Schönheiten des modernen Babel von den überreichen Opfern ihrer Verehrer hier in stiller weltverborgener Park- und Garteneinsamkeit gegründet haben. Die sie einst bewohnten, sind längst entwichen, ehe der erste Schuß in diesen reizenden Thälern widerhallte.

Alles Kostbare und in der Eile Transportirbare haben sie mit fortgenommen. Aber außer dem Wein, den sie vergruben, mußten sie auch zum größten Theil die Möbel, die Billards, die Spiegel und jene Masse von kostbarem Porcellan und Fayence in ihren Räumen zurücklassen, welche im Haushalt und in der Schätzung der französischen Reichen einen Platz einnimmt, wovon wir in Deutschland uns schwer eine Vorstellung machen. In manchen dieser Villen haben frühere Einquartierungen, haben auch, da man sich um den Verschluß nicht viel Sorge machen kann, die Plünderungen der eingeborenen Marodeurs, in anderen sogar die Granaten des Mont Valérien ihre unverkennbaren Spuren gelassen. Da sieht es oft wüst und traurig aus, und die ehemalige feine Harmonie ihres Innern, die Nettigkeit und Sauberkeit, der Glanz und Schimmer haben sich längst in ihr schlimmstes widriges Gegentheil gewandelt. Ueber anderen aber hat ein gnädigeres Geschick gewaltet. Jene Schlösser und Villen zum Beispiel, an welchen abwechselnd eine Woche um die andere der Stab und die Officiere des ersten Bataillons des dritten Posenschen Infanterieregiments Nr. 58 ihr Quartier haben, denen ich das Glück hatte in diesem Feldzuge wiederholt persönlich näher getreten zu sein, erfreuten sich dauernd der Fürsorge dieser militärische Gäste in solchem Maße, daß sie heute noch ihren etwa rückkehrenden Besitzern nichts von dem Schrecken und Entsetzen einflößen würden, welches die Eigenthümer so manches andern reizenden Landsitzes nach dem Frieden dereinst erwartet. Unverwüstet prangt in den Treibhäusern noch immer die ganz prächtige Fülle ausländischer Gewächse, welche die hochentwickelte Gartencultur Frankreichs zur herrlichsten Entfaltung brachte; in den Gärten spürt man vor der Menge der mannigfaltigen Nadelhölzer und immergrünen südlichen Gesträuche bei der linden frühlingsgleichen Luft kaum den Winter und bei den wohlgehaltenen Wegen und Beeten kaum den Krieg.

Drinnen im Salle à manger stehen die Büffets, Speisetische und geschnitzten Stühle; im weiten Salon die breiten schwellenden Divans, Causeusen und Lehnsessel; die Vasen auf dem Marmorsims der Kamine, die Spieltische unzerbrochen an ihrem alten Platz. In den Schränken der Bibliothek die langen Reihen der schönen Bände vollständig auf ihren Brettern, das Billard unzerrissen in der Mitte des Raumes, die guten alten Stiche an den Wänden, die Menge der Schlaf- und Fremdenzimmer in den höheren Stockwerken, alles das kommt heute den Officieren, Fähnrichen, Aerzten und den selten fehlenden Gästen vortrefflich zu statten. Für ein tüchtiges Feuer in den Kaminen sorgt der nahe Wald. Fehlt es an Betten hinter den bald prächtig damastnen, bald duftigen Mousselin-Vorhängen, so ist auch ohne sie in den schönen, soliden, breiten französischen Bettstellen durch die praktisch geübten und geschickten Burschen aus Decken, Teppichen, Matratzen ein mehr als nur erträgliches Lager leicht hergestellt. Im Salon oder Speisesaal unten versammelt sich (wir haben Alle in Frankreich bereits die höchst vernünftige französische Zeiteintheilung angenommen) die durch das ganze Chateau verstreute Gesellschaft um die abendliche Dinerstunde. Arbeitleiten und Vorpostencommandiren im winterlichen Walde hat einen Wolfsappetit gegeben. Die Tischwäsche wird weniger vermißt, wenn alle Stücke des Tafelgeschirrs so edlen Materials (Porcellan) und so hohen oder allerhöchsten Ursprungs, und die darin servirten Gerichte von so solider Vortrefflichkeit sind, wie hier in den meisten Fällen – Dank den Lieferungen und Dank besonders der über alles Lob erhabenen Kochkunst mancher Officierburschen. Zu allem Ueberfluß erhielten diese Mahlzeiten seit Anfang November durch unsere lieben und anstelligen baierischen Bundesgenossen eine besonders erwünschte Würze. Sie haben in Sèvres eine Brauerei etablirt, die von ihren des Bieres wie seiner Bereitung gleich kundigen Mannschaften mit gutem Erfolg betrieben wird, und ein Getränk zur Vorpostenquartierstafel liefert, welches eine der schätzenswerthesten Abwechslungen in die etwas einförmige Folge der französischen und spanischen Weine bringt, die „der Boden“ hier ringsum fast ausschließlich liefert.

Während dieser abendlichen Mittagstafel tritt der Unterofficier „zur Meldung“ ein und liest unter allgemeinem Schweigen dem Bataillonschef den „Corpsbefehl“ des Tages vor. Die speciellen dienstlichen Anweisungen und Anordnungen für morgen, die er enthält, werden durch allgemeiner interessirende Mittheilungen eingeleitet, wie sie eben von den verschiedenen Kriegsschauplätzen eingelaufen sind. General v. X. hat bei A. den Feind geschlagen, so und so viel hundert Gefangene, so und so viel Kanonen genommen, Festung B. hat gestern capitulirt etc. Kaum ein Tag, der nicht etwas dem Aehnliches bringt. Aber fast ebenso stehend ist die Nachricht, daß der Feind an dem und dem Tage einen Ausfall aus Paris beabsichtigt. Die Truppen haben auf mehrere Tage Rationen geliefert erhalten. „Laßt sie kommen; und kämen sie nur einmal auf uns hier, statt immer gegen Baiern und sechstes Corps, auch wir wollten sie richtig empfangen!“ Das ist der Haupteindruck, den diese Nachricht gemeiniglich hervorruft. Auf der Feldpost des fünften Corps sind eben die Briefe und die längst ersehnten Pakete angelangt, ein ganzes Lager der kleinen mit Leinewand überzogenen Kistchen wird auf den Tisch des Salons gesetzt. Sie haben manche Wochen gebraucht, hierher zu gelangen. Man fällt darüber her; die Zeitungen, die Briefe wird man später lesen, um zuerst den realern Inhalt der Pakete zu mustern. Welch buntes Allerlei: Der zeigt triumphirend eine große Köstlichkeit, eine Braunschweiger Cervelatwurst, Der ein Töpfchen Butter, Jener gar – Gänseschmalz. Der Eine breitet mit Behagen ein Paar wollene und noch dazu prächtig rothe Unterhosen aus, und der Andere wickelt aus ihrer papiernen Umhüllung gar ein Paar lackirte Stulpstiefel, die so innig erwünschten. Wie viel treusorgende Mutter-, Schwester-, Gattenliebe, wie viel herzliches Sehnen, Bangen und Verlangen, wie viel wehmüthige Freude bei denen, die all das sendeten, spricht, auch ohne daß man in die Begleitbriefe blickte, beredt und verständlich aus diesen Sendungen, selbst schon aus der Art ihrer Verpackung! Man meint die liebende Hand zu erkennen, welche diese Enveloppen faltete, das schmerzlich zuckende Gesicht zu sehen, das sich dort darüber beugte. Aber hinweg mit der Wehmuth; hier ist weder Zeit noch Ort, sich weich zu machen mit heimwärts schweifenden Gedanken. Draußen zischt durch die Abendstille wieder ein Granatwurf nahe über den schweigenden Garten hin; vielleicht ist’s eine Visitenkarte Trochu’s, eine Anmeldung für morgen. Also lieber die Gläser von Neuem gefüllt – „und trifft es uns morgen, so lasset uns heut noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit!“


  1. Siehe Abbildung der letzten Nummer des vorigen Jahrganges.