Textdaten
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Autor: Jakob Christoph Heer
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Titel: Auf dem Pilatus
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 504–510
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: touristischer Ausflug auf den Pilatus südlich von Luzern
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[504–505]

Auf dem Pilatus: Rundblick vom „Esel.“
Nach dem Leben gezeichnet von P. Bauer.

[506]

Auf dem Pilatus.

Von J. C. Heer. Mit Bildern von P. Bauer.

Dreizackig, düster und einsam ragt im Süden von Luzern der Pilatus in den Aether. Keiner von all den Bergen, die ihre Gipfel im Vierwaldstättersee spiegeln, nimmt Auge und Sinn so gefangen wie er in der erhabenen Blöße seines schwarzen, wilden, zerklüfteten Gesteins. Ein düsterer Geselle ist er. Wenn die andern Berge sonnige Gesichter zeigen, dann liegt um seine Stirn häufig eine Wolke.

Da sitzen wir auf dem Dampfer nach Alpnachstad. Noch wälzen die Schiffsleute Kisten und Koffer herein. Die Zettel, die an den Truhen kleben, führen durch die Geographie der halben Welt – Monte Carlo, Biberach, Abbazia, Bar-le-Duc, Vitznau, Chicago, Ritzebüttel, Scheveningen, Luzern – eine fröhliche Musterkarte von Städten und Gestaden.

Die Leute, die das Verdeck mit roten und grünen, grauen und blauen Reiseschirmen, mit Bergstöcken aus Eschenholz, Bambus oder Weichsel, mit Feldstechern und Fernrohren, mit roten Führerbüchern, mit Plaids und Handkoffern belagern, muten noch bunter an als jene Namen.

„Sind Sie nicht Herr Tartarin von Tarascon?“ fragt man unwillkürlich beim Anblick jenes behäbigen Herrn im Touristenanzug, der mit lauter Stimme seiner Umgebung von seinen alpinen Heldenthaten erzählt, so sehr erinnert er an den Meisterrenommisten der Daudetschen Romane. Und diese da, das ist gewiß Familie Buchholz aus Berlin. So viel Köpfe, so viel Typen: der Assessor in Ferien, der am Vierwaldstättersee nach einem Goldfische angelt – der alte schwärmende Blaustrumpf im blau getupften Rock nach dem Schnitt, den die Damen der Benedix’schen Lustspiele trugen – der dicke blonde Herr mit der goldenen Brille, der sich immer den Schweiß von der Stirne trocknen muß – der weibliche Gardekürassier, der steif wie eine Statue sitzt – der Professor mit der großen Botanisierbüchse und dem grünen Schmetterlingsnetz, der es nicht sieht, daß er die Weste falsch eingeknöpft hat und ihm am Rocke drei Knöpfe fehlen – die strahlend in die Welt hinausschauenden Gymnasiasten, die von jodelnden Aelplerinnen träumen. Dazu Engländer und Amerikaner.

Ein junges Hochzeitspärchen schmollt. Die Frau ist erzürnt, daß der Gatte ihr die zierlichen Rauchtopasnippsachen im Luzerner Juwelierladen nicht gekauft hat. Und er? – Er starrt in das [507] „Fremdenblatt vom Vierwaldstättersee“, als wolle er die zwölfhundert Namen desselben auswendig lernen. Zuweilen wirft eines, wenn es sich unbemerkt glaubt, einen Blick nach dem andern. Gewiß, sie suchen den Frieden.

„Haben Sie gebeichtet?“

Ich starre die Dame an, die mich das fragt. Ich bin ja Protestant – und wäre ich Katholik, was fragt man mich auf dem Dampfboot nach der Beichte?

Da lacht die lebenslustige Fremde, irgend eine Gräfin Lewinsky oder Bilensky aus Krakau, die vor zwanzig Jahren hübsch gewesen sein mag. „Sie wollen doch auf den Pilatus? – Na, ich auch, ich bin verliebt in den sonderbaren Berg, aber ich fürchte mich. Da habe ich vorher gebeichtet und kommuniziert, im Gasthof ein rechtskräftiges Testament niedergelegt und meinen Freunden Abschiedsbriefe geschrieben, man kann nie wissen –“

Die Umstehenden, die ihre Aufmerksamkeit der auffallenden Fremden zugewendet haben, lächeln, und nun erzählt sie die Geschichte auch ihnen.

Das Dampfboot fährt. Alles blickt nach dem Pilatus. Wird die Wolke, in die sein Gipfel gehüllt ist, weggehen, bis wir ihn erreichen? Die Schiffsleute behaupten es; aber sagen sie nicht alles den Fremden zu Gefallen?

Das ist sicher, der Pilatus ist ein Brüter, ein Sonnenfeind. Rigi und Bürgenstock glänzen hell, nur er ist dunkel. Ich glaube, sein Schicksal ist dran schuld, seine Geschichte. Er hat gelitten wie ein Mensch, er wurde ein Sünder und dann ein Heiliger. In alten Zeiten hieß der Berg Frakmont und hoch zwischen den Felsen lag ein schöner, blauer See. Das war die Seele des Berges, die wie eine Kinderseele Sonne, Mond und Sterne suchte. Da kamen grobe Menschen und warfen Steine in den See, gerade wie sie manchmal Steine in eine Kinderseele werfen. Der Berg geriet wie ein ehrlicher Junge in Zorn, er warf Unwetter auf Unwetter in das Land der Menschen. Nun behaupteten die Leute, in seinen Felsen und Gründen wohnen böse Geister, ja der böseste der Bösen, der Kreuziger Pontius Pilatus. Die Luzerner zogen mit Weihrauchfässern, mit Kreuz und Fahnen empor, um ihn zu entzaubern, und als das nicht half, da nahmen sie ihm den ehrlichen Namen Frakmont und nannten ihn nach dem schlechten römischen Landpfleger, der den Herrn verurteilt hat; und seiner Nase, die nach einem gewaltigen Helden der Vorzeit Etzel hieß, gaben sie den Namen des grauen Tiers, auf welchem der Herr in Jerusalem einzog, als die Verurteilung ihm bevorstand. An den Weg, der auf den Berg führte, stellte die Stadt Luzern zwei Wächter, damit kein Mensch mehr zu jenem schönen, blauen See aufsteige, wo der Dämon wohnte, und zuletzt zerstörte man den See. Da fiel der Frakmont in ein tiefes Nachdenken wie ein armer mißhandelter Mensch, und als er nach vielen hundert Jahren wieder aufwachte, da merkte er, daß ihm etwas Großes, Schönes fehle, was er vorher besessen: der See, die Seele. Seither steht er da wie ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat, und grübelt, was wohl einst gewesen sein möge. Die Wolken, die seine Stirne umziehen, sind die Gedanken, mit denen er dunkel und tastend jenen See sucht, in dem er einst Sonne, Mond und Sterne flimmern sah. Selbst die Eisenbahn, die ihm über Rücken und Schultern krabbelt, rüttelt ihn nicht aus seinem Brüten auf.

Doch da fahren wir schon an Hergiswyl und seinem weißen Kirchlein vorüber. Das Dörfchen unter den wilden dunkeln Flühen des Pilatus gefällt mir. Oben in den Felsen die ewige Drohung, unten im Grün der Wiesen das kleine Glück des Tages!

Ein Kichern und Lachen geht über das Schiff. Ein paar mutwillige Mädchen machen sich mit einem Alpengigerl zu schaffen, der grüne großkarrierte Strümpfe, Kniehosen und Lodenrock trägt, um die Hüften ein Gletscherseil, um den Hut einen Gletscherschleier geschlungen hat und das schwere Eisbeil nicht aus der Hand läßt.

Die Mädchen lachen ihn aus, weil er mit der Eisenbahn auf den Pilatus fahren will.

„Treiben’s doch den Ulk nicht zu weit – ich geb’ mich mit Kleinigkeiten wie dem Pilatus da gar nicht ab oder nehm’ sie doch höchstens als Hors d’oeuvre vor dem Frühstück.“ Der Kraxler setzt umsonst die wichtigste Miene auf, die Mädchen machen sich lustig über seine Spatzenwaden.

„Alpnachstad“ – unser Gigerl atmet erleichtert auf und schießt in den bereitstehenden Zug der Pilatusbahn.

„Wissen Sie, wer das ist? – Der Bariton des Theaters in Klinghausen, ein närrischer Kerl, der mit seiner Großthuerei den Damen imponieren will.“

Wenn der kurze Zug der Pilatusbahn, der mit jedem Eingriff der Radzähne in die Lücken der Zahnstange erbebt, sich auf dem steilen Geleise in Bewegung setzt, so begreift man die polnische Gräfin, die vorher ihre Rechnung mit dem Himmel schloß – die Bahn ist ein außerordentlich keckes Stück technischer Leistung. In düsterm feierlichen Buchenwald steigen wir empor, durch die mattsilberweißen Stämme schimmert der See, da ein Stück, dort ein Stück, wie fallende Spiegelscherben. Alles ist in langsamem stetigen Fall, die Stämme und die grünen Kronen. Jetzt wiegt sich auf der Spiegelscherbe unten eine Nußschale – das nach Luzern zurückkehrende Dampfboot.

Wir sind über dem Wald, die Aussicht entfaltet sich, zwischen die Waldberge stellen sich Schneegipfel, die lebhafte Polin hat das Fürchten verlernt, sie kann nicht mehr still sitzen vor Vergnügen, nur das Alpengigerl zittert noch ein wenig.

„Wissen Sie, das hat mit meinen Bergbesteigungen nichts zu thun, das Fahren trägt die Schuld, es ist nur Nervosität, ich vertrage das Hinuntergleiten der Bäume nicht gut. Eine Jungfraubesteigung wird die Nerven schon wieder stärken. Ah – ah – ah –“ unterbricht er seine Rechtfertigung.

Hinter den Wettertannen der Aemsigenalp ist die blendend weiße Gruppe des Wetterhorns emporgestiegen, das wachsende Panorama hält alles in Atem, die junge Frau fällt dem jungen Gatten um den Hals: „George, wer wird schmollen in dieser Gotteswelt.“ – Nichts als Jubel. Aber seltsam. Während alle übrigen Gipfel wolkenfrei und sonnig sind, schwebt um den „Esel“ immer noch die Wolke, die wir schon von Luzern aus gesehen. Der Zug sticht durch die weißgrauen Felsenrippen der Eselwand, einen Augenblick noch trinkt das Auge die weite Welt – aber jetzt – – – –

Wir sind in der Wolke drin. Es ist finster geworden, der feuchte Nebel zieht qualmend durch die Wagen, alles greift nach den Plaids und Ueberziehern – der dicke blonde Herr hat einen Hustenanfall, nachher wettert er: „Da wär’s ja schon schöner in Hinterpommern. Na, was sagt man zu solch’ einem Reinfall.“

„Sehen Sie etwas?“ fragt die Polin verzagt.

„Keine Telephonstange!“

Der Zug hält, irgend eine Stimme ruft „Pilatuskulm“, die Reisenden tappen ins Freie und tasten sich wie wandernde Schatten nach dem Gasthof. Ein Glück, daß eben Table d’hote ist, daß man sich zur dampfenden Suppe setzen kann und daß der Saal behaglich geheizt ist. Gäste, die schon gestern abend oder am frühen Morgen gekommen sind, freuen sich, daß es eine Unterbrechung giebt in der trostlosen Langenweile, zu der sie hier oben verdammt sind. Sie mustern die Neuankommenden mit kritischem Blick. Seit acht Uhr ist die Wolke da und wankt nicht. Wie ein lähmender Schrecken wirkt der kalte Nebel, das Table d’hote-Gespräch bleibt matt, vereinzelte Anläufe, sich mit Humor über die fatale Lage hinwegzusetzen, werden verdrossen aufgenommen – nur einige Engländer behalten die gleichgültigen Mienen.

Eine Stunde sitzen wir schon. Da kommt der Schaffner der Bahn. „In fünf Minuten geht der Zug nach Stansstad.“ – Das Signal wirkt wunderbar. Die Hälfte der Gäste stürzt nach ihren Siebensachen, wickelt sich in Mäntel und Plaids und fort geht’s in wilder Flucht nach dem Zug. Einer steckt den andern an – im Augenblick weiß man nicht recht, ob das die Klugen sind, die ohne den Pilatus gesehen zu haben, wieder abfahren, oder diejenigen, die auf gut Glück bleiben.

Wir zählen zu diesen. Aus lauter Verzweiflung steigen wir die hundert Schritte zum Plateau des „Esels“ empor. Da oben steht einsam das Gigerl, fröstelnd auf sein Eisbeil gestützt. „Sagen Sie ’mal, das ist schändlich. Warum macht die Eisenbahngesellschaft nicht rechtzeitig darauf aufmerksam, daß man nichts sehen wird? Warum nimmt sie uns das Geld ab? Das ist Betrug. In die Zeitungen soll man’s rücken.“

Der Eindruck ist wirklich trostlos. Nebel, dichter Nebel, und sonst nichts, wie zu jener Zeit, da die Erde noch nicht erschaffen war. Und so bleibt es. Doch nein! Dann und wann glitzert’s im Grau, wie wenn man scherzeshalber die Jalousien eines dunklen Zimmers ein wenig auf- und wieder zumacht. Ein unbestimmtes schwaches Leuchten geht oft minutenlang durch das [508] Chaos. Dann freilich ist’s wieder dunkel. Da erscheint der Teleskopmann und stellt sein Instrument auf. „Mensch, sind Sie wahnsinnig!“ ruft das Gigerl pathetisch, setzt aber doch das Eisbeil beiseite. Der Mann lächelt pfiffig. „In einer halben Stunde werden Sie durch mein Glas Gemsen sehen können.“ – „Unmöglich!“ – Aber der Mann versteht sich aufs Wetter.

Ein reizendes Schauspiel entfaltet sich. Wie ein loses Blatt flattert ein Stück Landschaft im Nebel, ein paar Häuser, Bäume, ein Stück See. Das Bild verschwindet, ebenso lose schwimmen andere vorbei, Stücke vom Rigi, Alpweiden, jetzt ein Dorf, jetzt Luzern. Halb sind die Bilder Wirklichkeit, halb sind sie Schemen, ein wunderliches Mosaik wie die ersten abgerissenen Gedanken, die durch eine Poetenseele laufen, wenn eine Novelle entsteht.

Wenn man die im Nebel gaukelnden flatternden Bänder zusammennähen würde, so gäben sie eine Welt. Jetzt flackert er auf, wird flockig, zerrinnt in der Luft, das Licht strömt herein, die Sonne leuchtet warm auf den Pilatusgipfel. – Und diejenigen, die so eilig wieder in den Zug gestiegen sind, sind die Genarrten. Wie werden sie zu dem nun sonnigen Berg emporstaunen!

„Sehen Sie die sechs Gemsen dort am Hochstollen,“ fragt jetzt der Mann mit dem Teleskop das Gigerl. Der schaut begierig durch das Instrument. „Großartig, hochinteressant, wie die Tiere auf das Grasband zwischen den Felsen gelangen können. Meine Herrschaften, da sehen Sie grasende Gemsen,“ ruft er begeistert. Alle, die müd’ und mürrisch im Hotel gesessen sind, haben sich jetzt auf dem Gipfel gesammelt, alle wollen einmal Gemsen sehen.

Auf dem Tomlishorn.

„Aber die Gemsen tragen ja Glöckchen am Hals,“ bemerkt ein junger Mann, „das sind wohl gar zahme Gemsen?“ „Ziegen sind es,“ ruft der dicke blonde Herr, „Sie Schwindler von Teleskopmann!“ Und der alte Blaustrumpf deklamiert: „Was sind Träume, was sind Illusionen?“ – Lächelnd erklärt der Teleskopmann, er habe das Instrument schon eingestellt, als des Nebels wegen die Tiere noch nicht ganz zu erkennen gewesen seien, und er hat dabei eine so leichte liebenswürdige Art, daß ihm niemand ganz böse sein kann. Er sucht mit dem Rohr an den Bergen. „So, meine Herrschaften, ich entschädige Sie, drei Bergsteigerpartien sind sichtbar – die eine Gruppe sehen Sie auf der Spitze des Wetterhorns – eine andere geht straff am Seil über das Mönchjoch – die dritte kommt vom Titlis.“ – Diesmal spricht er die Wahrheit; ein paar Engländer halten das Rohr belagert. „Splendid, splendid, indeed!“

Nun, wir können das Rohr entbehren. Vom Jura zum Gotthard, von der Ostschweiz bis in die Waadt liegen die Pergamente der Schönheit aufgerollt. Das Kleinod in dem Bild ist der Vierwaldstättersee mit seinen Farbentönen und Lichtreflexen, die von Seekammer zu Seekammer, von Uferstelle zu Uferstelle wechseln. Die Bucht von Luzern ist lichtgrün, weiterhin metallisch glänzend wie die Flügel einer Libelle, die Mitte des Sees schimmert reinblau, die Seekammer von Gersau und die von Brunnen ist dunkelgrün. Und die Dörfer, die Berge, die Wälder spiegeln sich in der Flut. Tief im Thal von Obwalden, fern im Hügelland gegen die blauen Linien des Jura hin, staunen wie träumende Augen kleine Seen zu uns herauf und Myriaden weißer Punkte bezeichnen die Heimstätten der Menschen.

Und im Süden des grünen Landes schwellen die Berge an, höher und höher bis zum Alpenbogen, der sich vom Säntis zum Montblanc zieht. Haupt an Haupt leuchtet das Heer von Gipfeln in Reinheit und Erhabenheit, schön wie am ersten Tag.

[509]

Sonnenaufgang auf dem „Esel“.

„Das müssen wir der Mama unbedingt schreiben,“ ruft ein Backfisch dem andern zu, „und den Verwandten müssen wir schreiben, Aga, Postkarten mit Ansicht müssen wir haben. Wenn ich nur eine passende Strophe wüßte, man sagt dergleichen doch nicht in Prosa. Aber es ist entsetzlich! – Ich finde keinen Reim auf Gipfel – ‚Wipfel‘ geht nicht wegen Baummangel, und ‚Zipfel‘ – etwa ‚und der Buchten grüne Zipfel‘ – nein, das Wort ist abscheulich!“

Da kommt Alpengigerl zu Hilfe, er ist der Retter, das Gedicht entsteht. Es wird nicht besser, nicht schlechter sein als die Tausende, die Sommer um Sommer in die Welt fliegen. Amateurphotographen arbeiten im Schweiße ihres Angesichtes, um die ganze Gebirgsherrlichkeit in die Rocktasche stecken zu können, andere helfen sich etwas altväterisch mit Skizzenbüchern, und wer nicht zeichnen kann, der schlägt einen Stein los, klebt eine Etiquette „Pilatus“ darauf und schafft sich so ein Andenken.

Ein neuer Zug hat eine große Schar Gäste gebracht, Engländer, Amerikaner und Franzosen, darunter ein Paar reizende Pariserinnen, die mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem koketten Französisch Aufsehen erregen. Sie haben nur einen Schmerz: daß auf dem Pilatus auch deutsch gesprochen wird. Sie haben ein paar Bernern zugehört und sind nun überzeugt, daß bloß Preußen eine so schändliche Sprache sprechen.

Ankunft des Zuges in Alpnachstad.

Wir entwinden uns dem Gewühl, wir machen einen Spaziergang nach dem Tomlishorn, dem höchsten Gipfel des Berges. Ein in die Felsen gesprengter, fast ebener Weg führt am Oberhaupt, dem mittleren der drei Pilatusgipfel, die man von Luzern aus sieht, und am „Chriesiloch“, jener natürlichen Felshöhle, vorbei, durch die auf steiler Holztreppe der alte Pilatusweg nach dem Klimsenhorn und Hergiswyl hinunterführt. Das „Chriesiloch“, schriftdeutsch „Kirschenloch“, soll seinen Namen davon tragen, daß in alter Zeit die Alpendohlen soviel Steine von gestohlenen Kirschen hier angehäuft hätten, daß die Steine den Durchgang sperrten. Jetzt ist die Alpendohle am Pilatus nicht mehr so häufig, aber immer ist [510] er noch reich an Vogelleben, seine Felsen erklingen vom Gesang der Lerchen und Ammern und dem Gepiepse der verschiedenen Arten von Mauerläufern. Der halbstündige Weg auf das Tomlishorn ist ein Höhenboulevard durch Tunnel und Galerien, wie man ihn sich schöner nicht denken kann. Bald haftet der Blick an dem Turmkranz von Luzern, das wie eine silberne Krone in blauen Lufttiefen liegt, bald in einsamen Felsen- und Waldschluchten auf der Rückseite des Berges.

Da treffen wir das Hochzeitspärchen, das sich gründlich ausgesöhnt hat. Die junge Frau sitzt halbvergraben unter einer Last von goldgelben Felsenaurikeln, violetten Soldanellen und tiefdunklen Enzianen in einer Felsennische und der Gatte steckt ihr die schönsten der Blumen ins braune Haar.

Das kleine Plateau auf dem Tomlishorn ist herrlich geeignet, um einsam zu sinnen und zu träumen, denn es ist nie so von Gästen belebt wie der „Esel“. In der Oede zwischen Tomlishorn und Gnepfstein soll jener Pilatussee gelegen haben, den der Rat von Luzern am Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat abgraben lassen, um den Geist des Pilatus vom Berge zu vertreiben.

Wer feine Ohren hat, hört wohl ein Sagenklingen in der Abendluft, wenn er weiß, daß „Gnepfstein“ im Schweizerdeutsch das bedeutet, was „pierre branlante“ im Französischen: einen Opferaltar der alten Kelten, die zur Sonne beteten. Pilatus, der Verbannte, der in dem See hauste, ist niemand anders als der große Tagesstern, den das Christentum vom Stuhle der Gottheit gestürzt hat.

Noch beten die Berge jeden Abend und Morgen zur Sonne. – Eben jetzt. – Der Titlis ist zu einem Altar der Verklärung geworden. Seine reine Firnkuppe glüht, durch die beiden dunklen südlichen Pilatusgipfel eingerahmt, als müßten aus ihm jene Flammen hervorbrechen, die dem alten Propheten auf der Höhe des Tabor erschienen sind; über dem Brünig liegt Glanz und Gloria und vor den hochherrlichen Bergen des Berneroberlandes treten hundert kleine Gipfel heraus, die der helle Tag übersieht, sie stellen sich auf die Zehen, um der Sonne noch einen Gutenachtkuß abzuschmeicheln.

Nun geht sie zur Rüste; eine rotglühende, riesenhafte Scheibe, rollt sie über den langgestreckten Rücken des Jura, sie wird dunkelrot, jetzt berührt sie den Horizont – – – jetzt ist ihr letzter Streifen dahin.

Aber noch glühen die Berge. – Vom Eigenthal herauf klingt die Avemariaglocke und auf den nahen und fernen Alpmatten sieht man die Sennen mit gezogenem Käppchen vor die Hausthüre treten. Den hölzernen Milchtrichter setzen sie an den Mund und rufen den Alpsegen über Weiden und Vieh, eine feierliche Symphonie geht durch die Berge.

„Na, ein bißchen anders ist’s doch als in Hinterpommern,“ meint der blonde dicke Herr, der das Abendschauspiel unter stetem Schweißvergießen genießt. Seit einer Weile steht ein ganzes Grüppchen von Gästen auf dem Tomlishorn.

In der Abenddämmerung wandern wir nach dem Gasthofe zurück. Die Tiefe hat ihre Farben ausgelöscht, tausend und aber tausend winzige rote Lichtpunkte schimmern im weiten Land, Luzern aber mit seinen elektrischen Lichtern glänzt wie das Geschmeide einer Märchenprinzessin. Die Nacht ist auf die Berge gestiegen, die Mondsichel schwebt über die Gipfel, wie große Ruinen stehen die Berge da, ein gespenstisches Schweigen liegt über der Welt, eine Ruhe, tiefer als die eines schlafenden Dorfes, eine Ruhe, wie sie eintreten wird nach dem Weltuntergang.

Doch horch – Gesang! Am Oberhaupt hat sich unsere Polin aufgestellt, sie singt. Groß und fromm, schlicht wie im Kirchenstil erklingt ihr fremdes Lied und weckt das Echo am gegenüberliegenden Matthorn. Dem ersten Wiederhall, der Wort für Wort deutlich wiederholt, folgt ein zweiter so fein, als fielen die Töne aus weiter Ferne herab aus der Luft, als stiegen sie aus den Tiefen des Gesteins.

Die Abendmahlzeit ist lebhaft, man ist angeregt von den Eindrücken des Tages. Und kaum ist der letzte Gang vorüber, so werden die Takte eines Walzers angeschlagen. Das junge Volk will tanzen. Ein Paar nach dem andern zieht es in den Strudel – die Pariserinnen rümpfen die Näschen, es sind doch meistens Deutsche, die tanzen. Aber eine Rundtour müssen sie doch auch mitmachen. Und nachdem jede Nation eine Viertelstunde lang für sich getanzt hat, geschieht das Wunder: Deutsche, Franzosen, Engländer, Amerikaner tanzen gemischt. Und das Gigerl ist hin vor Vergnügen, daß es den Arm um die Taille einer Französin legen darf.

Wie sich die Pariserinnen nur so vergessen konnten, mit Deutschen zu tanzen! Darüber verwundern sie sich später selbst. Die Bergluft – ja, die Bergluft! Sie ist entschieden dem Chauvinismus ahhold. – – – –

Etliche der Damen und Herren sehen blaß aus in der Frühe; die ungewohnte Stunde, um die man sich erheben muß, wenn man den Sonnenaufgang sehen will, bekommt ihnen nicht. „Kirsch“ – „Cognac“ – „Rum“. Nur langsam erholen sich die Lebensgeister.

Draußen flüstert der kühle Nachtwind im Gefelse, es dämmert schon und im fernen Osten liegt ein roter Streif. Wie Schattengestalten nehmen sich die Gäste aus, die auf den „Esel“ steigen. Fahlgrüne oder gelbe Töne gehen über das Gestein, in der Tiefe kriechen einzelne Nebel, der ferne rote Streifen, der in der Richtung des Bodensees liegt, wandert gegen Osten und wird breiter und breiter.

Erwartungsvoll, etwas fröstelnd steht das Häufchen der Sonnenaufgangsleute, in Mäntel und Decken gehüllt, den Rockkragen aufgestellt oder die Kapuze über die Ohren gezogen.

Die blaßgewordene Mondsichel sinkt hinter die Zacken der Diablerets, eine weite Helle geht über den östlichen Himmel – der Herold der Sonne ist da, der wie Karfunkel leuchtende Morgenstern. Und jetzt röten sich die Firne, es geht ein Zittern und Wogen durch die Berge. Sie wachsen auf im jungen Licht. Die Spitze des Finsteraarhorns hat Feuer gefangen, sie flammt über dem Hochland – und jetzt hat die „Jungfrau“ ihr Rosendiadem aufgesetzt und die Blümlisalp. Gipfel um Gipfel entzündet sich, wie eitel Rosen liegt’s über dem Steinmeer der Berge und auf dem Spiegel des Vierwaldstättersees. Zwei einsame rote Wölklein spiegeln sich in seinen Tiefen.

Und nun rollt die Sonne hinter dem Säntis empor, mit warmem Licht übergießt sie das Pilatusgestein – bald füllt sich das weite Land mit der goldenen Flut, bald leuchtet sie den Mähdern, die in der Tiefe schon bei der Arbeit sind. In alle Fernen ist die Welt hell, majestätisch wandelt der junge Tag, die Schicksale ausstreuend über Thal und Gebirge.

Die Polin gähnt – die Gäste ziehen sich zurück – sie wollen noch ein paar Stunden schlafen – es schlummert sich gut nach Sonnenaufgang. Wir aber steigen hinab auf den Blumenteppich der Mattalp und pflücken uns einen Alpenrosenstrauß – zum Andenken, denn vom Pilatus heißt es scheiden.

Auf der Aemsigenalp, wo die großen Wettertannen stehen, ein Prachtblick auf das Obwaldnerländchen sich erschließt, holt uns der Frühzug ein. Seine Gäste, darunter das Hochzeitspärchen, das Alpengigerl und die Pariserinnen, sind alle beladen mit leuchtenden Blumen des Gebirgs.

Ueber die Felsen hinab rollt das niedliche Fahrzeug, der See schwebt uns entgegen mit seinem Dampfboot. Wir wollen dem Pilatus Abschied winken. Aber schon schwimmen die Wolken um seine Stirn, er brütet wieder über den alten Sagen.

Wenn heute Gäste kommen, so wird er sie vielleicht enttäuschen – vielleicht aber erbarmt er sich ihrer, wie er sich gestern unserer erbarmt hat, und zeigt ihnen eine strahlende Welt voll Licht und Poesie.