Vater und Sohn (Die Gartenlaube 1895)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Adolf Wilbrandt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Vater und Sohn
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–33, S. 449–452, 469–474, 486–490, 501–506, 517–522, 533–538, 549–554
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[449]

Vater und Sohn.

Wahrheit und Dichtung.
Von Adolf Wilbrandt.


  Wirklichkeit, o gieb die Richtung,
  Bilder gieb mir, gieb Gestalten!
  Doch dann mag die Muse schalten,
  Ihren Gaukelschlei’r entfalten:
  Dreißig Wahrheit, siebzig Dichtung.


1.

Volkmar stand am Fenster und hörte den Schnee auf der Straße singen; es war so kalt geworden, daß unter jedem Wagenrad und jedem Fußtritt der noch junge Schnee in hellen, hohen, fast wohlklingenden Tönen knirschte. Die Mittagssonne, die freilich noch niedrig stand – denn der Januar ging heute erst zu Ende – schien die Straße hinunter und sog an den langen Eiszapfen, die zwischen den Häusergiebeln gegenüber an den Dachrinnen hingen; ein bleich kaltes, doch heiteres Blau leuchtete vom Himmel herab. Volkmar sah hinaus, drückte sein Gesicht an die Fensterscheibe und ergab sich eine Weile dem bangen schmerzhaften Gefühl, das ihm auf der Brust lag. Trennung! Vereinsamung! Nur noch ein paar Wochen, und dieses Zimmer, in dem er auf seinen von der Schule kommenden Primaner wartete, war leer, still und tot. Auch das mündliche Examen war dann abgethan; die Bilder und Bücher da an den Wänden wurden eingepackt; aus dem Vaterhaus zog ein junger Student – sein Rudolf, sein Einziger – in die Welt hinaus ..... Wie sehr man sich auch gehärtet haben mag, wie sehr die Seele sich mit dem Rüstzeug der Philosophie gewappnet haben mag gegen jedes Schicksal: beklemmen muß es sie doch, wenn das schönste, innigste Zusammenleben zwischen Vater und Kind, wenn die Erziehungs- und Werdejahre Abschied nehmen. Der junge Vogel fliegt davon. Es ist aus!

[450] Ja, ja, ja! dachte Volkmar, auf die drei jungen Mädchen hinuntersehend, die drüben, lange blonde Zöpfe auf dem Rücken, mit ihren Schlittschuhen am Arm zum Fluß hinabgingen; sie hatten zu ihm in die Höhe geblickt, es mußte ihnen etwas an ihm aufgefallen sein. Sie blieben eine Weile stehen, lächelten, flüsterten. Dann zogen sie sich gegenseitig an den Armen, schwenkten sich ein wenig hin und her und zogen weiter, auf den Hafen zu. Ja, ja, ja! dachte er, ihr fidelen Dinger, die ihr euch noch so gern verwundert und die Köpfe zusammensteckt und tuschelt und huschelt: das wißt ihr noch nicht, was das heißt, wenn man so achtzehn, neunzehn Jahre ein Liebstes hat aufblühen sehen, und hat als Gärtner dabeigestanden, mit großen Augen und mit großem Herzen und nun wandert die Blume fort, man hat sie verkauft, an die „Welt“. Wenn man so einem Wesen Vater und Mutter war, seit der Mutter Tod. ...

Er biß die Zähne zusammen und studierte das zarte Blau des wolkenfreien Himmels, in dem ein Abglanz des Erdschnees mitzuleuchten schien. Die Sonne lockte so schön, wie wenn sie ihn zu trösten suchte. Nichts liebte Volkmar mehr als die Wintermittagssonne, da ist sie der richtige Freund, da wärmt sie einem so recht das Herz, ohne zudringlich oder schroff oder ermüdend zu werden, wie wohl im Sommer auch sie es, gleich anderen Freunden, thut. Sollt’ ich nicht hinausgehn? sagte er zu sich, gegen die Fensterscheibe sprechend. Rudolf kommt nicht. Er wird über den Wall zum Fluß gegangen sein, Schlittschuh zu laufen. Wenn ich ihn dort träfe? ihm bei seinen Künsten wieder einmal zusähe? Vielleicht schon zum letztenmal? – Er blickte mit einer Art von Lächeln auf den trüben Dunstkreis, den seine Worte auf die kalte Scheibe hingeatmet hatten. Dann wandte er sich, warf noch einen Blick durch Rudolfs Zimmer, einen kopfschüttelnden, vorausleidenden, nahm auf dem Vorplatz Mantel und Hut und ging die Treppe hinab.

Die Straße endete bald auf den großen Hafen, der sich an dem fast seebreiten Fluß entlang zieht, nicht mehr weit vom Meer; doch man sieht es nicht, da der Fluß sich krümmt. Am Bollwerk, auch an der nächsten Anlegebrücke lag eine lange Reihe von Schiffen, Dampfer und Segler. Sie ruhten aber alle in der „Winterlage“, im Eis, denn der Fluß stand fest, bis zur See hinunter. Das Tauwerk der Segelschiffe, besonders oben von Mast zu Mast, war weiß, ganz mit Reif umsponnen, nur hier und da hatte die saugende Sonne schon dunkel hineingefärbt. Weiß war auch der Fluß, so weit man ihn sah: es war mehrmals Schnee gefallen, nachdem er sich mit Eis bedeckt hatte. Die wintermüßigen Seeleute hatten aber Bahnen gefegt, für die Schlittschuhläufer; eine zum jenseitigen Ufer, andere in der Mitte flußauf und flußab. Volkmar sah viele große und kleine Gestalten auf diesen Bahnen entlang schweben am Ufer, wo die Hauptbahn begann, standen lange Bänke, zum An- und Abschnallen, daneben die dienstbereiten Seeleute, einer mit der Kasse. Er grüßte sie – sie kannten ihn alle, da der Hafen seine Frühlings-, Sommer- und Winterfrische war – warf sein Geldstück in die klingende Kasse und ging auf der nicht sehr glatten Bahn dem anderen Ufer zu.

Eine Weile sah er fast nichts als Kinder vor sich, glitschend oder laufend oder schlittenfahrend; nach seinem schlanken Sohn spähte er umsonst. Auf einem winzigen Schlitten zogen drei kleine Leute vor ihm her: zwei Mädchen, wie große Puppen, ganz eingemummt, saßen hinter einander, eng zusammengedrückt; hinter ihnen der „Steuermann“, ein rotbäckiges Bübchen mit mächtigen Fausthandschuhen, das auf dem Schlitten so wenig Platz hatte, daß es seitwärts knieen mußte, während es sein Fahrzeug mit der ins Eis hauenden Pike vorwärtstrieb. Dabei glitt es denn auch von Zeit zu Zeit auf das Eis hinunter, die Pike fiel ihm aus der Hand, größer als sein Schicksal rutschte aber das Püppchen auf den Knieen hinter der Pike her, fing sie auf, zog mit ihr den Schlitten heran, stieg wieder quer auf und fuhr knieend weiter. Seine kleinen Damen hatten inzwischen wie wirkliche Puppen regungslos gesessen ohne zu merken, was hinter ihnen geschah; als wären sie in der Kälte erstarrt und lebten nur noch ein wenig durch die Sonnenstrahlen, die hinter ihnen her zogen. Sie wareu so still wie die Krähen, die in langer Reihe vor einer Schneewehe hockten, alle das Gesicht zur Sonne gekehrt, sich mit bewegungsloser Andacht wärmend, nur eine, als wäre sie der Hauptmann der Schar, ging mit großen, langsamen, lächerlich majestätischen Schritten an der Front entlang.

Volkmar betrachtete diese drollige Versammlung; plötzlich rief ihn eine helle, kräftige Stimme an: Onkel Albert! Du hier? – Er wandte sich und sah in ihrem lichtgrauen Mantel die schlanke, dreizehnjährige Toni, seine Nichte, die auf ihren Schlittschuhen von einer der Querbahnen herangekommen war. Blutsverwandte Nichte war sie eigentlich nicht: seiner Schwester Mann hatte sie aus der ersten Ehe in die zweite mitgebracht. Vaterlos geworden, lebte sie nun mit der Stiefmutter (als zärtlich verhätscheltes Kind) unter Volkmars Dach, im alten „Familienhaus“. Sie war mit ihren dreizehn Jahren schon eine lange Pflanze, schlank und wohlgebaut; ihr Kindergesicht ging eben in den „Backfisch“ über. Es leuchtete von frischer, ganz eigentümlich goldig bräunlicher Gesundheit, das Dahinsausen in der scharfen Kälte hatte ihr jetzt die Wangen gerötet. Mit noch etwas ungeschicktem Uebermut lief sie grade auf den Oheim zu, wollte knapp vor ihm anhalten, kam aber nicht mehr zum Stehen und fiel ihm fast an die Brust; es gelang ihm, sie festzuhalten, ohne daß er selber zu Fall kam.

Unband! sagte er, ihr die blühende Wange streichelnd. Ich such’ hier meinen Jungen. Hast Du ihn gesehen?

Sie nickte stumm und deutete mit dem Kopf hinter sich nach Westen. Das kluge Gesicht nahm einen andern, frühreif schwärmerischen Ausdruck an, der ihn überraschte, ergötzte. Nach einer Art von Seufzer, der die kleine Brust hob, setzte sie hinzu: Er läuft da hinten, mit ihr.

Mit wem? fragte Albert Volkmar.

Mit der Himmlischen!

Mit der Himmlischen?

Na ja. Mit der Süßen!

Die kenn’ ich nicht. Wer ist das?

Thea Schüler, die Schauspielerin. O Onkel, Onkel! Weißt Du denn nichts von Thea Schüler? Lebst Du wie ’n Murmeltier? – Thea, die Himmlische!

Volkmar war dem Lachen nahe, so verzückt sah ihn der Backfisch an; er machte aber doch ein sonderbares, kritisches Gesicht. O ja, sagte er langsam, ich weiß wohl von ihr, gesehn hab’ ich sie noch nicht. Mit der läuft mein Rudolf? Wie kommt er dazu?

Ich beneid’ ihn, Onkel, antwortete die Kleine mit den guten hraunen Augen; ich beneid’ ihn wütend! Sie soll von ihm Bogenlaufen lernen. Denn eigentlich kann sie noch nichts, auch nicht mehr als ich. Aher alles steht ihr so gut .... Auch wenn sie mit dem Schlittschuh hinten ausschlägt; denn sie ist so –

Himmlisch, ergänzte Volkmar. Aber wie kommt denn Rudolf zu ihr?

Durch einen Referendar und durch einen Lieutenant, die haben ihn ihr vorgestellt, und sie hat zu ihm gesagt: „Sie laufen ja wie ein Gott!“ – Du, das thut er auch. Er kann mehr Kunststücke als all’ die andern, und wie kann er Bogen sausen! – Aber der Referendar, der ist kulig; der –

Was ist der Referendar? fragte Volkmar, ihr in den Geschwindmarsch ihrer Rede fallend.

Kulig ist er, Onkel.

Um Vergebung! Was heißt das?

Ja, wenn Du das nicht kennst – ! – Das kann man nicht gut beschreiben, Onkel. Meine Freundinnen und ich, wir sagen immer „kulig“. Wenn zum Beispiel einer – Sie stockte.

Nun? Wenn einer was?

Na zum Beispiel wie der Kaufmann Marten; der sich immer so hat; „das wollen wir schon machen, mein Fräulein“, „das wird wohl gelingen“. Kulig, na, das ist, wenn man bei allem so wichtig thut – und sich so zierlich macht – und so süß. Aber nicht süß wie Thea, sondern –

Sondern eben kulig, ergänzte der Oheim. Ich verstehe schon. Nun möcht’ ich aber doch einmal zusehn, wenn Rudolf mit dieser Thea –

Er wandte sich der Querbahn zu, die flußabwärts führte. Auf dieser Bahn lief eben ein zweites junges Fräulein heran, etwa ein Jahr älter als Toni, aber eher kleiner als größer, eine zierliche, wenn auch noch unreife Gestalt mit leuchtender Blondinenhaut und gar feinem Näschen. Er erkannte sie sogleich, es war Tonis beste Freundin Helene, die „poetische“, wie er sie im Scherz wohl nannte. Heute sah sie wirklich so aus: auf dem rundlichen Gesicht lag eine ähnliche, drollig aufgeregte Verklärung wie auf Tonis „Tollkopf“; nur verhaltener, etwas mehr bemüht, sich zu verschließen.

Helene! rief er sie an. Du kommst ja von da unten her. Hast Du meinen Rudolf gesehn?

[451] Ja, antwortete sie. Er läuft mit ihr.

Volkmar lachte auf. Er läuft mit ihr, sprach er ihr nach. Du auch?

Toni lächelte. Helene ist ja ebenso schwie wie ich, was Thea betrifft!

Schwie? fragte er, als habe er nicht recht gehört.

Na ja! wir nennen das „schwie“. Wenn einer so ’ne gewisse Schwärmerei hat, weißt Du; „schwärmerisch“ klingt aber gar so majestätisch. Da sagen wir einfach: „schwie!“

Schwie, schwieer, am schwiesten, sagte Helene mit dem feinen Mündchen. Dann lachte sie ein wenig.

Kinder, es wird Zeit, daß ihr ein neues deutsches Wörterbuch herausgebt! – Aber seit wann befindet ihr euch denn in diesem Zustand?

Wegen Thea? fragte Toni, während sie den Oheim auf ihren Schlittschuhen umkreiste; Helene that es ihr nach.

Nun ja!

O! seit wir sie haben spielen sehen; nur wird’s immer schwieer. Zuerst als „Kind des Glücks“; da war sie süß; weißt Du noch, Helene?

Helene nickte, ihre grauen Augen gingen in die Höhe. Und dann, sagte sie, in dem großen historischen Trauerspiel, mit den Pagen am Anfang –

O Gott, Helene, Du schwefelst! Erst kam doch die „Grille“ –

Ja, ja, erst kam die „Grille“; aber dann das historische mit den hübschen, gähnenden Pagen; Toni, weißt Du noch?

Freilich weiß ich noch, erwiderte Toni, die wieder den Onkel umkreiste. Aber am himmlischsten war sie doch – – weißt Du noch, worin?

O Gott! rief Helene, die ihr wieder nachlief. In dem Verkleidungsstück. Bald als Mädchen, bald als Knabe, bald als junger Mann –

Als junger Mann mocht’ ich sie nicht sehen! fiel ihr Toni ins Wort. So in modernen Hosen – das sollte sie gar nicht thun – das ist gar nicht himmlisch. Und eigentlich ein dummes Stück; nicht? – Aber zuletzt als erkannte Prinzessin – o Gott, o Gott!

Ja, seufzte Helene. Zum Niederknieen. Ueber alle Begriffe; nicht?

Toni nickte; Helene dann auch. Sie sahen sich in die Augen, schüttelten den Kopf; dann liefen sie eine Strecke fort, als ließ’ es ihnen keine Ruhe, als müßten die überfüllten Herzen etwas zu schaffen haben. Volkmar sah ihnen nach, mit den schalkhaften Augen und den mitfühlenden Lippen lächelnd. Besser laufen, dachte er, müssen sie noch lernen; Begeisterung haben sie schon genug! – Mit einem Bogenversuch, der beiden noch nicht glückte, kamen sie dann zurück. Die jungen Wangen glühten allerliebst; von der Kälte, schien es, fühlten sie nichts, nur von der Sonne.

Also Thea Schüler! sagte Volkmar, als die beiden Backfische vor ihm Front machten, ihre Stahlschienen auf dem Eise drehend. Also so einen Stern vom Himmel haben wir in der Stadt, und ich kenn’ ihn nicht –

Weil Du nicht ins Theater gehst! rief Toni; ihre sonst so zärtlichen Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an. Das begreif’ ich auch gar nicht, Onkel. Das begreift auch niemand. Und alle, die Thea spielen sehen, sind doch so entzückt –

Warum gehen Sie eigentlich nicht ins Theater? fragte Helene mit ihrem sanften, klugen, neugierigen Lächeln.

Und Du lies’st doch zu Hause so viele Theaterstücke, setzte Toni hinzu. Und lies’st mit Deiner Donnerstimme daraus vor –

Und Sie sind Professor! bemerkte Helene.

Und Du bist ein Dichter!

Der Dichter und Professor verneigte sich vor den beiden reizenden Geschöpfchen und lüftete seinen Hut. Vielleicht geh’ ich ja in mich, antwortete er, wenn man mir so zuredet. Ich bemühe mich ja noch immer, meinen Lebenswandel zu verbessern. Aber eure Leidenschaft für Thea – bleibt die so genügsam? Ich meine, habt ihr ihr noch keine Blumen geschickt, keine Liebesbriefe geschrieben? Seid ihr ihr noch nicht auf die Bude gerückt?

Toni sah Helene an; sie erschraken offenbar beide über den furchtbar verwegenen Gedanken, ihr „auf die Bude zu rücken“. Nein, Onkel, sagte sie dann, sich fassend, auf die Bude gerückt sind wir ihr noch nicht. Einen Lorbeerkranz wollten wir ihr werfen; da hat Mutting uns ausgelacht. Aber wir sehn sie oft; wir laufen ihr ja nach, wo sie geht und steht. Zum Beispiel, wenn sie aus dem Theater von den Proben kommt; oder wenn sie spazieren geht; neulich fuhr sie mit Herrn von Fellenberg im Schlitten ... Wir finden sie überall!

Und ich nirgends! sagte Volkmar, scheinbar sehr verwundert. Ich hab’ sie noch nicht gesehn!

Weil Du immer am Hafen herumspazierst; oder weit draußen in den Wäldern. Da kommt die süße Thea nicht hin; natürlich. Die geht in die Anlagen – oder auf dem „Bummel“ –

Wo die Backfische und die jungen Herren sie bewundern!

Toni lächelte etwas bitter: Das hast Du wohl von den alten Damen, Onkel; die sagen ja alle: sie ist kokett! – Ach, die alten Ueze. Das ist doch ein Unsinn; nicht wahr, Helene? So ein himmlisches, poetisches, göttliches Geschöpf!

Zum Niederknieen! setzte Helene hinzu; sie lief dann eine Strecke, weil sie nun doch zu frösteln begann. Toni lief ihr nach; sie kamen aber sogleich zurück.

Also nicht kokett; das freut mich! erwiderte Volkmar ruhig. Man sagt ja sonst allerlei von der jungen Dame –

Ach, ich weiß, was Du meinst, rief Toni mit ihrem altklügsten Eifer aus; Du meinst Herrn von Fellenberg!

Mit dem sie im Schlitten –

Ja, und sonst. Das sehen wir ja alles, Onkel. Darüber lachen wir! Der ist in sie verliebt, natürlich; das sind wir ja auch. Und sie ist nett zu ihm; aber sie spielt mit ihm. Wie mit einem Hündchen; nicht wahr, Helene? Das sind Huldigungen. So sind sie beim Theater. Das wissen wir ja alles, Onkel. Es huldigen ihr ja auch noch andere

Alle unsere „Gigerln“ –

Die Elegantesten, verbesserte Toni; die am besten tanzen – und so. Ach, laß sie nur, Onkel! Alle vergöttern sie; aber Thea, die schwebt darüber wie – – Die alten Ueze verstehn das nicht. Ach, sie ist so himmlisch. Heute abend spielt sie wieder; sogar ihr Benefiz!

Ah?

Ja; „Die Geschwister“ von Goethe – und dann noch zwei Stücke.

Helene, die wieder im Kreise lief, seufzte laut. Ach, wir gingen so gerne hin! Wir gingen so gerne hin!

Aber Mutting will nicht, sagte Toni kleinlaut. Helenens Mutting auch nicht. Wir gehen viel zu oft ins Theater, sagen beide Muttingse und wir werden noch ganz verrückt!

So sagen sie, setzte Helena hinzu, mit den Achseln zuckend.

Toni schlug mit ihrem kleinen braunen Muff in die Luft: Ach, man hat es schwer auf der Welt!

In diesem Augenblick fuhr auf der Querbahn, auf der sich eine Zeit lang wenig geregt hatte, eine ganze Menschenwolke auf einmal in mächtigem Schwung heran. Vier Damen und vier Herren – zwei davon Offiziere – liefen in kurzen, raschen Bogen miteinander; vier vorauf, vier dahinter, alle acht aber mit den Händen aneinander hängend. Sie waren so fest im Takt, daß sie fast wie ein einziger wunderlicher Körper erschienen, der sich auf vielen Beinen bewegte; nur eine der jungen Damen schien von den andern mehr mitgerissen zu werden, sie hielt sich aber tapfer. Alle waren hübsch. Schau, schau! sagte Volkmar zufrieden. Das konnte man hier früher nicht; und so feine Mädels. Unser Städtchen macht sich!

Onkel! rief Toni ais. Ein „Städtchen“! Fünfzigtausend Menschen!

Ganz so viel doch noch nicht. Aber jedenfalls verschönert sich unsere Jugend. Ihr Backfische, nehmt euch zusammen: laßt den Wagen nicht rückwärts fahren, thut auch eure Pflicht!

Toni, die Schlagfertige, konnte jetzt nicht antworten, sie stieß ein unwillkürliches, aufgeregtes „Ha!“ aus. Ein einzelnes Paar kam auf der Querbahn heran, ein auffallendes: eine schlanke, schöne Jünglingsgestalt, trotz der Kälte im einfachen Rock, und eine junge Dame im Pelz; sie lief an seiner Hand, langsam in großen Bogen, aber noch unsicher und ungleich. Es war Volkmars Rudolf; offenbar mit Thea. Seine Augen ruhten auf ihr; sie lächelte ihn flüchtig an und bewegte die Lippen, dann achtete sie wieder, etwas ängstlich, auf ihren Bogenlauf. Volkmar hätte sie wohl erkannt, auch wenn er sie nicht mit seinem Primaner gesehen hätte: auf ihrer linken Wange bemerkte er den „Feuerfleck“, von dem man ihm erzählt, ein fast rundes Stück geröteter, verbrannter Haut. Es entstellte sie eigentlich nicht; es gab dem auffallenden, lustigen, [452] reizenden Gesicht, mit den braunen „Ponies“ auf der Stirn, noch etwas Fremdes, Außerordentliches, das wohl für jeden, der „schwie“ war, ihren Wert erhöhte.

Der dunkelblonde Rudolf, der sie führte – seine Bogen waren untadelhaft – zog den Hut und grüßte, da sie nun vorbei kamen; er versuchte zu lächeln, herzlich und strahlend, wie es seine Art war; aber sonderbarerweise ward sogleich wieder tiefer, gleichsam befangener Ernst daraus. Nun begann er auch zu erröten, fast über das ganze Gesicht. Vater Volkmar, der dies alles bemerkte, nahm den Hut vom Kopf, die Dame zu grüßen; sie erwiderte durch eine leichte, reizende Bewegung; dann entschwand ihm schon ihr Antlitz. Das Paar „holländerte“ weiter, der sechzehnfüßigen Gruppe folgend, die man in der Ferne noch nach rechts und nach links konnte schwanken sehen.

O Gott, wie ihre Augen blitzten, sagte Helene leise. Was sind das für Augen!

Hast sie recht angeguckt, Onkel? fragte Toni, die erst jetzt wieder Atem holte.

Volkmar nickte lächelnd.

Ist sie nicht entzückend? – Nun müssen wir ihr aber nach, Onkel; nimm mir das nicht übel. Das müssen wir, Helene; nicht? – Also, Onkel Albert, adjö!

Wir wollen an ihr vorbeiläufen, sagte Helene und seufzte. Damit lief sie schon. Die beiden Mädels holten aus, fast als wären sie Strandjungens, und sausten auf der langen Bahn flußauf, dem oberen Hafen zu.


2.

Nachdenklich, langsam ging Volkmar zur Stadt zurück. Das wehmütige Gefühl, das ihn aus Rudolfs Zimmer hinausgetrieben hatte, war einem anderen gewichen, das ihn auch nicht frei machte: einer dumpfen Sorge. Das wunderliche Gesicht seines Jungen, das tief errötende, ernste; dieses Gesicht, das er so gut kannte, so leicht durchschaute wie kein anderes auf der Welt … Verliebt! Offenbar in Thea verliebt! – Nun ja, das war er schon oft: verliebt. Sein leichtentzündetes Herz war ja fast stadtbekannt; in seiner Flatterhaftigkeit fand es immer seine Rettung. Doch eines bedrückte Volkmar: dieser offenherzigste aller Söhne, dessen höchster Stolz es war, vor seinem geliebten Vater kein Geheimnis zu haben, der ihm alles gebeichtet hatte als dem „besten Freund“, von Mund zu Mund oder durch sein Tagebuch – warum war er über Thea stumm? Wie konnte er vor diesem besten Freund heute so erröten? – Nun, wenn er eben erst heute Thea kennengelernt hatte … Aber warum das? Weil er es gewünscht, gesucht. Seit Wochen ging sie ihm offenbar viel im Kopf herum. Sie beschäftigte seine Phantasie. Er sprach gern von ihr. Es war, als beneide er den Fellenberg …

Immer tauchte es wieder vor Volkmar auf, dieses befremdend ernste Gesicht. Eine Schauspielerin wie die: in dieser guten Stadt nicht von gutem Ruf … Aber der unerfahrenen Jugend, die sie in edlen Rollen sieht, erscheinen sie als Engel. Warum auch nicht, für eine Weile; möcht’ er immerhin verrückt für sie schwärmen – dachte Volkmar – wie diese Backfische; und mag er auch in heimlicher Verzückung mit ihr Bogen laufen. Nur daß er nicht verstummt gegen mich! Und nicht dies Gesicht!

Er kam nach Haus und ging in sein Zimmer; er vertiefte sich in ein Buch, um die Unruhe abzuschütteln, bis zur Essenszeit. Sophie rief ihn zu Tisch, seine jüngste Schwester, die seit dem Tod seiner Frau mit ihm und dem Jungen lebte. Als er ins Speisezimmer kam, stand Rudolf schon an der Tafel; seine Wangen glühten; ob nur von der raschen Bewegung in der kalten Luft, oder auch aus irgend einem unsicheren Gefühl, konnte man nicht sehen. Volkmar, seiner Art getreu, begann in behaglicher Unbefangenheit von dem angenehmen Eindruck zu sprechen, den ihm sein Sohn als kunstgerechter Bogenlehrer einer hübschen jungen Dame gemacht habe; und von dieser schönsten und gesündesten aller Bewegungen, dem Schlittschuhlaufen, doppelt nützlich für einen Abiturienten, der sonst so viel über den Büchern hockt. Er verhehlte nicht, daß ihm Theas „Feuerfleck“, von dem die Stadt so viel spreche, durchaus nicht mißfallen habe, so wenig der auch zu den akademisch anerkannten „Schönheiten“ der menschlichen Gestalt gehöre. Endlich erzählte er, mit seiner dramatischen Lebendigkeit, sein Gespräch mit den Backfischen, und wie der Schwie-Zustand dieser beiden werdenden Menschen sich entladen habe.

Die Schwester Sophie, eine kleine, lebhafte, heitere Dame, schüttelte doch über diese „tollen Mädels“ den Kopf. Rudolf lächelte über sie, ohne laut zu lachen, wie er sonst wohl pflegte. Die Glut auf seinen Wangen war mittlerweile vergangen, er sah eher blaß aus.

Der Vater blickte ihn liebevoll lächelnd an. Es geht Dir doch allmählich auf die Nerven, sagte er, dieses Examengefühl; diese Spannung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung. Du bleichst doch ab, mein alter Junge.

O nein, mein junger Alter, antwortete Rudolf, mit etwas erzwungener „Fidelität“. Glaub’ mir, das sieht nur so aus. Diese Zeit strengt mich gar nicht an; ich bin eher zu leichtsinnig. Die andern behaupten auch, daß man mir das mündliche Examen ganz erlassen wird; eigentlich sei ich schon durch!

Und was meinst Du selbst? fragte Volkmar.

Jeden Morgen was anderes, sagte Rudolf mit selbstverspottendem Lächeln. Die Frage ist ja nur: hab’ ich beim schriftlichen Examen in allen Fächern ganz genügt? Dann lassen sie mich vom mündlichen fort. Das Dumme ist, daß ich das, wenn’s wahr ist, erst am Prüfungsmorgen und erst in der Schule erfahre. Armer Vater, den Frack hast Du mir doch müssen machen lassen. Na – er sitzt wenigstens gut!

Der Vater ist seinem Sohn einen Frack schuldig, erwiderte Volkmar; zum Glück konnt’ ich ihn auch bar bezahlen, bin ihn also nicht auch dem Schneider schuldig. Zu meiner Zeit gab es solche Dispensationen vom mündlichen Examen nicht, auch für den besten nicht; die Welt wird doch gemütlicher! – Was ich übrigens noch sagen wollte: die aufgeregten Backfische haben mir vorgeworfen, daß ich hier nie ins Theater gehe. Es ist wahr, ich bin darin etwas wehleidig: ich erspare mir gern den Schmerz, schlecht spielen zu sehen. Und in unserer alten Stadt – obwohl sie doch auch eine Musenstadt, eine Universitätsstadt ist – wird so im ganzen, um gerecht zu sein, hundsföttisch schlecht gespielt. Aber nun haben wir ja einen „Stern“: diese Thea Schüler. Sie wird ja nicht bloß von halben Menschen, wie Toni und Helene, sondern auch von ganzen als Talent gepriesen. Du hast sie ja einigemal gesehen; was sagst Du dazu?

Rudolf, der die treuherzigen Augen fest auf den Vater geheftet hielt, konnte doch eine aufsteigende Röte nicht ganz unterdrücken. Was ich schon neulich sagte, gab er mit etwas bedeckter Stimme zur Antwort; ich glaube, sie hat viel Talent. So ’was Frisches hat sie; so ’was – wunderbar Natürliches. So wie sie auch im Leben ist; ich hab’s ja heute gesehen und gehört. Aus Bayern soll sie sein; das hört man ihr auch an –

Und es steht ihr gut? fragte Volkmar.

Sehr gut! – Die beiden Worte kamen heraus wie hervorgestoßen; Rudolf fühlte das, und in einem jähen Unmut darüber verzog der gute Junge den Mund.

Dann muß man sie also sehen, sagte Volkmar ruhig. Auch muß ich mich bei den Backfischen wieder in Achtung setzen, wenn’s noch möglich ist. Nicht wahr, Helene speist heute oben?

Ja, bei ihrer Toni, antwortete die Schwester. Die beiden Mädels sind ja seit Weihnachten rein wie die Kletten.

Dann könnt’st Du ihnen sagen, Rudolf, daß ich sie einlade, heute als meine Gäste, mit mir ins Theater zu gehn. Und der Tante Anna laß’ ich sagen, daß ich für die Mädels fürbitte, für dies eine Mal. Es müsse etwas für unsre Bildung geschehen. Auch wird heut Goethe gespielt.

O! sagte Rudolf, sich für die Mädchen freuend. Das will ich ihnen sogleich – – Er blieb aber stehen. Eine Frage, die er nicht aussprechen mochte, lag ihm auf der Lippe.

Ja, und was dabei aus Dir wird? fragte Volkmar, der diese Frage erriet. Du gehst natürlich mit – wenn Du magst. Und wenn Du nicht fürs Mündliche notwendig arbeiten mußt –

Rudolf schüttelte nur den Kopf. Ein ganz eigener Ausdruck von Rührung, der das weiche, edle Gesicht noch verschönte, lag jetzt um die strahlenden blaugrauen Augen herum. Plötzlich ging er auf seinen „jungen Alten“ zu, um ihn zu umfassen. Was hab’ ich für einen Vater! sagte er leise, während er ihn in seinen kräftigen Armen hielt. Er hätte offenbar gern noch mehr gesagt; sein Herz schien von allerlei voll; mit einem flüchtigen Blick auf die Tante trat er aber zurück. Ich dank’ Dir, sagte er nur. Ich hab’ Zeit und geh’ mit. Also hinauf zu den „Dirns“! – Damit lief er schon aus der Thür.

[469] Es dauerte nicht lange, bis Rudolf wiederkam; Volkmar hatte eben die Tafel verlassen und sich auf das lange Sofa, das alte „Familiensofa“ mit den hohen, krummen Lehnen, gesetzt, als er auf der Treppe, die nach oben führte, ein gewaltiges Herunterpoltern hörte. Die Thür zum Vorplatz ward dann aufgerissen, der Jüngling und die „Dirns“ stürmten herein. Ihre Dankbarkeit kundzugeben, sprangen sie eins nach dem andern mit erstaunlicher Gelenkigkeit über die gebogene Lehne fort und in das lange Sofa hinein; Rudolf voran, hinter ihm die Mädchen. Dann warfen sich Sohn und Nichte um Volkmars Hals; zuletzt, mit einem raschen Entschluß, auch Helene.

Das nenn’ ich noch danken! sagte Volkmar, das ihm in die Stirn gezauste Haar zurückwerfend. Geturnter Dank, doppelter Dank!

O Gott! seufzte Toni vor Glück. Aber wenn’s nur noch Plätze giebt! Theas Benefiz!

Das wäre nun Eure Sache, Kinder, sagte Volkmar, indem er aufstand. „Fremdenloge“ womöglich –

Toni und Helene nickten beide. Wir stürzen hin! sagte Helene.

Wir schwören! setzte Toni hinzu, ihre lange Hand hebend. Sie schien damit sagen zu wollen: Giebt es noch eine menschliche Möglichkeit, Sitze zu bekommen, so werden sie von uns erkämpft!

Der Schwur bewährte auch seine Kraft: etwa eine Stunde später kamen die Mädchen mit vier Fremdenlogenkarten zurück; heimlich hatten sie sich noch mit einem halben Dutzend kleiner, aber duftender Sträußchen ausgerüstet, um sie aus der Loge zu „schleudern“. Es war noch übermäßig früh, als die Vier dann am Abend ins Theater einzogen, das sich erst zu füllen begann, und sich auf ihren vornehmen Plätzen über dem schmalen Orchester niederließen. Volkmar hatte Zeit genug, über das kleine, schmucklose, kalte Haus zu staunen – ursprünglich nur ein Sommertheater, später notdürftig winterfähig gemacht – und der Zeit zu gedenken, da er selber in Tonis Alter in dem alten, nun abgebrannten Stadttheater gesessen und wohl manchesmal ebenso aufgeregt und schwergeatmet hatte wie nun Toni und Helene rechts und links von ihm. Er saß zwischen ihnen. Er hörte und sah, wie sie Glück atmeten. Sie dufteten beide nach Kölnischem Wasser. Auf Tonis anderer Seite saß Rudolf, mit großen, ernsten starrenden Augen; ein unbestimmtes Lächeln zuckte zuweilen um seinen Mund. Ja, ja! dachte Volkmar. Ich war noch nicht in Prima, sondern in Sekunda, als ich im alten Stadttheater ein ähnliches Gesicht machte – nur er blond, ich braun – und für die junge Tragödin glühte. Wie viele Verse hat sie mich gekostet!

[470] Ich hab’s überstanden! Das wird er wohl auch. So werden wir auch diese Orchestermusik überstehen; – heiliger Gott! es ist wie im Cirkus. Als würde jetzt gleich Fräulein Thea auf drei ungesattelten Pferden – – Sie kratzen mir die Ohren entzwei. Wie die Dissonanzen schmettern! So werden wir auf Goethe vorbereitet …. Nur Mut! Sie hören schon auf. Das Zeichen. Goethe fängt an!

Der Vorhang ging in die Höhe; in diesem Augenblick kamen vor Volkmar zwei Hände zusammen – die Linke Tonis und Helenens Rechte – fanden sich, drückten sich geschwind und zogen sich wieder zurück. Man sah „Wilhelm“ auf der Bühne an seinem Pulte stehen; einen langen jungen Menschen, der seine Hüften bald sehr unruhig und merkwürdig ungeschickt bewegte. Er blieb auch nicht lange an seinem Platz, er begann auf der kleinen Bühne mit großen Theaterschritten umherzugehen; aber wie auf fremden, geliehenen Beinen. Doch mit besonderer Andacht hörte Volkmar seiner Rede zu; es überkam ihn wieder ein tiefes Staunen, wie naturwidrig manche Schauspieler sprechen können: jedes Wort etwas anders, als es der Dichter gemeint hat. Zum Glück erinnerte Wilhelm sich bald seiner „Schwester“ Marianne und sprach ihren Namen aus, mehrmals, immer lauter, bis sie ihn draußen in der Küche hörte. Die Thür rechts ging auf, und Marianne-Thea erschien.

Toni fuhr zusammen; Helene preßte beide Hände gegen die Brüstung; Rudolf that einen tiefen, langen Atemzug. Die nicht große, fein gebaute, anmutig weich gerundete Gestalt bewegte sich auf Wilhelm zu; mit einer träg wiegenden, gemütlich faulen Art zu gehen, die ihr ganz eigen zu sein schien; denn so etwas spielt man nicht, wenigstens eine so Junge nicht. Ihre Stimme ertönte weich und frisch, mit einem behaglich süddeutschen Anklang. Sie sprach natürlich, drollig; nicht wie eine Marianne aus dem vorigen Jahrhundert, sondern etwas „fin de siècle“, zwischen Schneidig und Urgemütlich, mit einem Anflug von aufgeklärtem Backfisch und von Münchner Kellnerin. Dazwischen kamen auch liebliche, süße, offenbar angelernte Töne; – von allem etwas! dachte Volkmar. Sie war aber in ihrem Hauskleidchen aus der Junggoethe-Zeit allerliebst anzuschauen. Ihre hellbraunen, mehr lustigen als poetischen Augen ruhten nie länger auf Wilhelm, als sie mußten; sie benutzten jeden „freien Augenblick“, um entweder zum Souffleurkasten zu fliegen, mit dem sie offenbar nicht zufrieden waren, oder geschwind einmal in den Zuschauerraum zu sehen. Ihr erster Ausflug galt, wie Volkmar bemerkte, der Fremdenloge gegenüber, in der zwischen zwei jungen Offizieren ein höchst elegant gescheitelter und gekleideter Civilist mit schöngekräuseltem blondem Vollbart saß. Das ist Fellenberg! flüsterte Toni fast in dem nämlichen Augenblick. Rudolfs Brauen zuckten. Die kurze Eingangsscene Mariannens war übrigens bald ausgespielt; „jetzt verbrenn’ ich die Tauben!“ sagte sie mit einem drollig herzhaften Zusammenschlagen ihrer kleinen Fäuste und ging zu ihrer Küche zurück. Ein lebhaftes Händeklatschen begleitete sie. Die Backfische klatschten feurig mit; dann fühlte Volkmar etwas an seinem Rücken; er rührte sich aber nicht. Toni und Helene hoben hinter ihm die versteckten Blumensträußchen empor, zeigten sie einander, wie um sich zu sagen: wenn am Schluß des Stückes geklatscht wird, dann fliegen die hinunter!

„Fabrice“ kam, Marianne kam wieder, das Schauspiel ging weiter und weiter; Volkmar hörte bald wenig mehr von diesem verneudeutschten Goethe, er beobachtete seinen Sohn. Das junge ernste Profil mit dem noch flaumigen Bärtchcn war fest auf die Bühne gerichtet; der Kopf hatte sich vorgestreckt, sein ganzes Leben schien da unten zu sein. Es war, als söge er ein wunderbares Glück mit den leise erzitternden Nüstern ein; wie wenn sich ein Antlitz ganz, in den Wohlgeruch eines Straußes oder in einen Becher mit starkduftendem Wein versenkt. Fast immer, wenn Marianne-Thea zu reden begann, hob sich sein Kopf ein wenig; so oft sie lächelte, spielte eine leichte Bewegung auch um seine Lippen. Nun ja – so war ich wohl auch! dachte Volkmar. Doch die innere Heiterkeit schwand ihm mehr und mehr; allmählich beklemmte ihn doch dieser tiefe Ernst des Glücks in dem weichen Jünglingsgesicht. Er freute sich, als das Stück zu Ende ging. Marianne stieß einen „seelenvollen“ Schrei aus, der ihm aber mehr die Nerven als das Herz bewegte; „Wilhelm,“ rief sie am Halse des jungen Schauspielers mit den fremden Beinen, „Wilhelm, es ist nicht möglich!“ und während der Vorhang vor ihr niederging, begann schon im ganzen Hause schallendes, stürmisches Klatschen.

Rudolf erwachte, gleichsam widerwillig, wie aus einem Traum, und seine großen Hände begannen mächtig gegeneinander zu schlagen; die kleineren der Mädels bemühten sich, es ihm gleichzuthun, einer von Tonis Handschuhen platzte. Es kam aber eine rätselhafte Unruhe über die beiden jungen Geschöpfe; sie rutschten auf ihren Stühlen, sie zischelten hastig hinter des Onkels Rücken, als der Vorhang wieder aufging und die hervorgeklatschte „Himmlische“ erschien. Tonis Gestalt hob sich ein wenig, eines ihrer drei Sträußchcn erschien in ihrer rechten Hand; ihr versagte aber der Mut, vor all diesen Menschen in dem vollen Haus ihre Huldigung vor Theas Füße zu „schleudern“. Helene rührte sich gar nicht; sie schüttelte nur beklommen den Kopf. Plötzlich drückten beide ihren Strauß in Rudolfs Hand; Toni stieß ihn an. Du! flüsterte sie. Wirf Du!

Der Vorhang war wieder unten, doch er hob sich nochmals, Thea stand wieder da, lächelnd, sich verneigend, dankend. Rudolfs Träumeraugen hatten nun erst begriffen, was die Backfische wollten; mit raschem Entschluß, obwohl ebenso rasch errötend, warf er erst das eine, dann das andere Sträußchen zu Thea hinunter. Das zweite traf sie an der Brust und fiel dann, wie in reuiger Verehrung, vor ihre Füße. Die junge Schauspielerin verwunderte sich wie ein Vogel; ihr Blick flog hinauf, sie erkannte nun offenbar ihren Bogenläufer. Sie lächelte ihm anmutig zu, den Kopf ein wenig neigend. Die Röte in Rudolfs Gesicht stieg bis an die Schläfen. Er ermannte sich aber geschwind; mit dem redlichen Blick seiner guten Augen deutete er nach links, auf die eigentlichen Geberinnen, er wies auch, etwas unbeholfen, mit der Hand auf sie. Nun lächelte Thea sehr lustig; mit raschem keckem Humor verbeugte sie sich auffallend, tief, wie vor höchsten Herrschaften. Toni und Helene dachten zu vergehen; sie schlossen beide die Augen, um nicht zu sehen, daß man auf sie sah. Sie hörten nur neues, wildes Klatschen; das brach los, weil die Schauspielerin die Sträußchen aufgehoben und an ihre Lippen gedrückt hatte. Noch einmal rauschte der Vorhang, nieder, hinauf und hinab. Endlich ward es still.

Ich kann nicht mehr! seufzte Toni vor Glück, eine Hand mit der andern zerrend.

O Gott! hauchte Helene.

Das war zu viel! Ich kann nicht mehr! wiederholte Toni. – O, wie süß sie war. Und wie hat sie gespielt!

Vollendet! flüsterte Helene.

Rudolf sagte nichts. Er starrte noch eine Weile auf den Vorhang, den ausgeblichenen, phantasielos häßlichen, als läge der jetzt wie ein Grabtuch über einem märchenhaften Glück. Langsam, zögernd wandte er sich endlich nach links, und seine Augen strahlten den Vater an. Wie hat sie Dir gefallen? fragte seine weiche Stimme.

Volkmar lächelte freundlich. Was soll ich da sagen? Meine Freunde, verlangt keine Aeußerungen von mir; so wie Ihr kann ich nicht mit. Ich ziehe mir nur Haß und Verachtung zu, wenn ich –

Nein, Vater, unterbrach ihn Rudolf, immer mit gedämpfter Stimme; sag’ uns, was Du denkst!

Gut; das will ich denn also thun. Fräulein Thea sah sehr angenehm aus und hat frisch drauf los gespielt; nicht wie ihr Wilhelm in Theatertönen. Was sie noch nicht kann, mag sie ja noch lernen. Sie kokettierte nur zu viel mit dem Souffleur; was geht der Souffleur sie an. Und dann sprach sie nicht lauter Goethe; es war auch einiges von Thea Schüler dabei.

Woher weißt Du das, Onkel? fragte Toni kleinlaut.

Dieses Stück kenn’ ich fast auswendig, meine gute Toni. Ich höre wenigstens jedes falsche Wort.

Nu ja, murmelte das Mädchen; ein Litteraturprofessor wie Du!

Auch Schauspielerinnen sollten ihre Rollen –

Verzeih’, Vater, sagte Rudolf leise. Du hast uns doch öfter gesagt: diese armen Schauspieler an den kleineren Theatern, die eine Rolle nach der andern „fressen“ müssen – manchmal über Nacht –

Ja, ja; aber die Marianne in Goethes „Geschwistern“! Und beim Benefiz!

Die drei jüngeren waren eine Weile still; als wäre ihnen etwas Erde in den Himmel gekommen. Toni, die jüngste und die trotzigste, beugte sich endlich hinter Volkmars Rücken zu Helene hinüber und flüsterte geschwind: Sie hat aber doch vollendet gespielt!


[471]
3.

Es folgten noch zwei einaktige Lustspiele; eines von der beliebten Art der Verwechslungsstücke, wo eine Hauptperson für eine andere gehalten wird, als die sie eigentlich ist (in der vorletzten Rede klärt es sich dann auf); das zweite war eine Bauernkomödie aus den Bergen, mit Sommerfrischlern gemischt. Fräulein Thea zeigte in beiden Stücken ihre wahre Stärke: ihre ansteckende, gemütliche Fröhlichkeit, durch ein gewisses süßes Phlegma gewürzt, und ihre kindlich unbefangene Freundschaft mit dem Publikum, als spielten die alle mit. Sie teilte jetzt ihre Vorzugsblicke zwischen der rechten und der linken Fremdenloge; so oft Toni und vielleicht sonst noch jemand auf den Herrn von Fellenberg da drüben eifersüchtig wurde, flog ein ausgleichender, unwiderstehlich vergnügter Blitz aus den Rehaugen herauf. Die Zuschauer nahmen das hin, als könnt’ es nicht anders sein, als sei das eben die Thea; das „fidele Madel“ von der Isar riß sie alle mit. Als die Verwechslungskomödie zu Ende ging, warf Rudolf wieder zwei von den kleinen Sträußchen. Wieder dankte Thea mit einer drollig großen Gebärde. Die Backfische hielten diesmal mutig ihre Augen offen; aber hinter dem Onkel flochten sie ihre Hände ineinander und drückten sie, bis der Lärm vorbei war.

Im dritten und letzten Stück stieg die „Himmlische“ noch einen Himmel höher: sie war Sennerin im Hochgebirge, sie ließ alle Töne ihrer Heimat los, sie sang Schnadahüpfl, sie juchezte, sie jodelte, endlich tanzte sie, steierisch, bayerisch, alles. Es stand ihr gar gut. Der Beifall ward wild und toll, als der Vorhang fiel; Volkmar war, als hätte er seine Landsleute noch nie so gesehen. Toni trommelte mit den Füßen, um ihr Herz zu entladen. Rudolfs Lippen zuckten von einem ruhelosen Lächeln. Als nun die große Blumenhuldigung begann und aus dem Orchester mächtige Sträuße und Blumenkörbe zur Bühne hinaufgereicht und geworfen wurden, aus Herrn von Fellenbergs Hand ein riesiger Lorbeerkranz mit goldbedruckten Schleifen der Beneficiantin zu Füßen flog, jetzt kam die große Ueberraschung: auch Rudolf stand auf, und hinter den letzten Sträußchen der Backfische schleuderte er einen Lorbeerkranz hinab, gegen den der Fellenbergsche zur Brezel wurde. Man hatte ihn ihm heimlich im Zwischenakt aus der Blumenhandlung gebracht. Ein Blick wie ein Sonnenstrahl dankte ihm dafür … Eine gute Weile tobte noch der Beifall; endlich starb er hin, wie alles. Thea erschien nicht mehr. Das Haus leerte sich. Auch die vier gingen hinaus, in die kalte Nacht.

Schneidig! stieß Toni hervor und drückte Helenens Arm. Helenens sanfte graue Augen funkelten; schneidig! wiederholte sie. Arm in Arm gehängt gingen sie voraus, um sich frei zu sprechen, um dieses neue Wort, das sie für die Himmlische gefunden hatten, noch so oft wie möglich der Nachtluft anzuvertrauen. Als sie vor Helenens Hausthür Abschied nahmen, hauchten sie sich statt des „Gutenacht“, wie ein heimliches Losungswort, ein allerletztes „Schneidig!“ zu.

Rudolf sprach fast kein Wort. Er sah zu den Sternen auf oder vor sich hin, er schien diesen ganzen festlichen Abend in seiner stummen Seele nochmals zu erleben. Auch zu Hause, beim Nachtmahl mit dem Vater und der Tante – Toni war oben bei ihrer Mutter – saß er schweigsam da. Erst als die Tante Sophie sich erhoben hatte und nach ihrer Gewohnheit ins andere Zimmer ging, trat Rudolf vor den Vater hin, und mit all der liebreichen Offenherzigkeit seiner leuchtenden Augen lächelte er ihn an. Hätt’st Du ein bißchen Zeit für mich? fragte er. Hab’ Dir was zu sagen. Es ist nur für Dich.

Volkmar nickte seinem Jüngling zu, stand auf, und einen Arm auf dessen Schulter legend – prachtvolle Muskeln! dachte er mit Vaterstolz – führte er ihn in sein Arbeitszimmer. Die wenigen Stühle dort waren, wie gewöhnlich, mit großen Büchern und Atlanten belegt; er räumte einen ab, für den Sohn, und warf sich auf die Chaiselongue an dem letzten Fenster. Du kannst Dir wohl denken, begann er das Gespräch, daß ich mir denken kann, was Du sagen willst.

Rudolf nickte lächelnd; die Brust hob sich ihm aber stark. Vater! stieß er heraus. Ich sag’ Dir ja alles. Ich hätte auch schon früher – – wenigstens durch mein Tagebuch – –. Aber Du weißt ja: das Tagebuch war lange voll. Du hast es, es liegt bei Dir. Ich wollt’ immer ein neues anfangen; ich komme nicht mehr dazu. Für diese Ergüsse bin ich, wie es scheint, doch zu alt geworden. … Kurz – Vater! Diese Thea!

Das dacht’ ich, sagte Volkmar, fast mitleidig lächelnd; wie ein Vater lächelt, der zugleich ein Freund ist. Hast das etwas dumm gemacht, lieber Junge: Dich vor dem mündlichen Examen zu verlieben –

Schon vor dem schriftlichen, Vater! verbesserte ihn Rudolf.

Nach dem Examen, als „Maultier“, da hätt’st Du wenigstens freie Zeit; jetzt ist es der reine Raub! Was hilft es; Du mußt nun durch. Mußt zeigen, daß Du ein Kerl bist, der zugleich unter dem Brustkasten schweren Unfug treiben und unterm Schädel die „reine Vernunft“ sein kann! – Eine Schauspielerin; da haben wir’s. Das kommt wie die Masern. Ich hab’s auch gehabt; und noch früher als Du. Wann geht sie wieder weg?

Diese Leidenschaft?

Nein; die Thea mein’ ich. Aber „Leidenschaft“ – was für ein Wort. Du bist wieder einmal, nach alter Gewohnheit, verliebt. Warst aber aus der Gewohnheit gekommen, hattest als Oberprimaner ein ganz freies Herz; nun wunderst Du Dich, was für ein neues, sonderbares Ding das ist. Wann geht sie wieder weg?

Ach, ich weiß nicht, Vater, sagte Rudolf, mit düsterem Blick auf die Wand. Ich mag nicht daran denken. Es ist – nicht wie früher. Verzeih’ mir. Es wird Dir – Kummer machen, fürcht’ ich. So war ich noch nie –!

Er unterdrückte das Wort „verliebt“, das noch folgen sollte. Es schien ihm zu schwächlich, zu verbraucht, zu heiter zu sein für das, was er heute fühlte. Ein langer Atemzug, den er that, befreite ihn doch nicht. Vater –! seufzte er tief.

Volkmar schwieg einige Augenblicke, doch etwas betroffen. Er faßte sich aber, seinem verstörten Jüngling mit den Augen zulächelnd, stand auf und ging zu seinem Schreibsekretär. Aus einem verschlossenen Fach, das er öffnete, nahm er ein schön gebundenes, aber offenbar vielbenutztes Buch, das seinen eigenen Schlüssel und auf der oberen Messingklammer des Schlosses eine Inschrift hatte: „Rudolfs Tagebuch“. Er trat damit zur Hängelampe, lehnte sich an den Tisch voll Bildermappen und Albums, der darunter stand, und schlug das Tagebuch auf. Ueber so ein Buch geht nichts! sagte er heiter. Darin kann man die Geschichte seines Herzens studieren wie in einem Erddurchschnitt: all die abgelagerten Schichten liegen da übereinander. Heut’ nachmittag, als ich dachte: holla, holla! da hab’ ich wieder einmal lange darin gelesen. Als Du anfingst, es zu schreiben, warst Du – laß sehen – warst Du zwölf Jahre und sieben Monate alt – und schon nicht zum erstenmal in einer „Leidenschaft“. Ich hab’ hier und da ganz zarte blaue Striche gemacht … Soll ich Dir Einiges vorlesen?

Rudolf rückte auf seinem Stuhl. Es nützt ja nichts, Vater, sagte er, die furchtbar ernsten Augen auf den Boden heftend. Jetzt ist’s ja ganz anders. Damals war ich ein Kind – und jetzt –

Hm! murmelte Volkmar; sprach aber nicht aus, was er dachte, und die vierte Seite aufschlagend, fing er sogleich an: Hör’ nur ein wenig zu! „Ich habe aufgehört, die schöne Else von drüben zu lieben. Mein Herz wendet sich zu einer andern Blume, auch eine Else; wenn sie mich doch liebte! – – An Else habe ich ein Gedicht gemacht, es ist an eine Tote in meinem Herzen. – – Auch sonst habe ich gedichtet: ‚Das Lied von Lust und Liebe‘…“ Schau den Schwerenöter!

Aber lieber Vater –

Hör’ zu! – Etwa einen Monat später – es fehlt hier das Datum – in einer Art von Geschwindstil: „Besondere Ereignisse: Zeitung gegründet. Else oft gesehen, sie mich wohl auch lieben. Else heißt jetzt ‚Cimon‘. Herausgekommen, daß ein andrer auch Else liebte. Er nannte sie ‚Epaminondas‘. Er hat sie mir abgetreten.“ – Wieder etwas später, zur Pfingstmarktszeit: „Ich fuhr mit Else im Schiffskarussell. Wir unterhielten uns prachtvoll. Wir sind wie für einander geschaffen. Und lieben uns gegenseitig.“ Und hier im Herbst, nach einer kleinen Stockung der Gefühle: „Götterkind! Engel! Ich bin in Dich ganz wahnsinnig verliebt!“ Vier Ausrufungszeichen. In demselben Monat, da: „Mir ist zu Ohren gekommen, daß Dimitri von Gröben und meine Geliebte Else sich Liebesbriefe schreiben. Ist das wahr, so wird Gröben zu Weihnachten furchtbar verhauen. Ich will ihn aber auf jeden Fall verhauen!“

Bitte, Vater, ein Wort! sagte Rudolf, da Volkmar einige Augenblicke schwieg. Hat sie Dir denn gar nicht gefallen?

Eure Thea? – Warum nicht; gewiß hat mir an ihr allerlei gefallen. Eine gefährliche, reizende – – Sie hat ja auch zwei unsrer hoffnungsvollsten Backfische um ihren Verstand gebracht. [474] Aber, guter Rudolf! Was Dir jetzt diese junge Künstlerin ist – wohl so gegen zwanzig alt –

Ja, so sagt man, Vater –

Das waren Dir damals die Elses, und die ihnen folgten! Denn es kamen ja andre; wart’ nur! – Er blätterte wieder im Tagebuch. Mit Dimitri endete es noch gut, fing er an, denn nach Weihnachten schreibst Du: „Mit Gröben bin ich versöhnt; er possiert (so steht da) Else schon lange nicht mehr, und das mit den Briefen war nur erlogen.“ Bald danach ein großer Tag: „Ich habe lange Hosen bekommen, und ich gefalle mir gut in meiner männlichen Tracht.“ Aber – sind es diese langen Hosen, oder was sonst – nachdem Du vierzehn Jahre und etwas alt geworden, nimmt auch Dein Herz ganz andere Dimensionen an. Ich hab’ da einen Zettel eingelegt; ja, da steht’s: „Ich liebe augenblicklich eigentlich drei Mädchen: immer noch Else, dann ein Mädel, sehr hübsch, aber älter wie ich: Grete Müller, und drittens ein sehr hübsches Kind, dessen Namen ich nicht einmal weiß.“ Dieses hübsche Kind erscheint auf dem nächsten Blatt als „seelenvoll-dunkeläugig“ wieder –

Du willst mich verspotten, Vater.

Nein, gewiß nicht, erwiderte Volkmar; nur Dich ein wenig beruhigen, wenn Du Deine jetzige „Leidenschaft“ etwa zu tragisch nimmst. Uebrigens, wer sagte denn dieser Tage, Fräulein Thea gehe nach ihrer Benefizvorstellung fort?

Rudolf schüttelte den Kopf. Das ist nur so ein Gerede; weil sie mit dem Direktor einen bösen Zusammenstoß hatte. Sie bleibt aber doch wohl bis zum Schluß der Spielzeit; sie hat mir’s heute selber gesagt.

Hm! Sie bleibt ... Da fällt mir Dein Lorbeerkranz ein; alle Achtung, Rudolf. Mir kam’s vor, als sei er größer als Dein Geldbeutel –

Ja, Du hast wohl recht, sagte Rudolf mit etwas zerknirschtem Lächeln. Ich sah Nachmittags beim Blumenhändler den Kranz des Herrn von Fellenberg für Thea; da riß mich’s: „machen Sie meinen um die Hälfte größer!“ – Das find’st Du kindisch; nicht wahr?

Nun – so eigentlich männlich noch nicht! – Und doch faßtest Du schon damals, als Vierzehnjähriger, den Entschluß, Dich „zum Manne zu schmieden“; Du schriebst das sogar an Else, in einem „liebevollen Brief“, – da steht’s: „in welchem ich ihr erkläre, daß wir für unser Verhältnis zu alt geworden seien“ ... Aber das arme Herz kommt doch nicht zur Ruhe. Das Schlittschuhlaufen war Dir schon damnals gefährlich; gleich auf der nächsten Seite steht: „Auf dem Eise wurde ich zwei jungen Damen vorgestellt, von denen mir Grete Müller“ – die schon erwähnte – „sehr gut, aber Marie Walter noch besser, fast zu gut gefällt. Ich unterhalte mich prachtvoll mit ihr; beide sind sehr hübsch. Buridans Esel!“

Das war ja doch nicht Liebe, Vater. Kindliche Tändelei –

Du liesst auch damals schon Bogen, Rudolf: fast so gut wie jetzt! – Nur noch eine kleine Blütenlese aus dem Tagebuch, aus dem nächsten halben Jahr. Seite 190 „... Die entzückende Marie, die ich jetzt wirklich liebe und von der ich weiß, daß sie mich auch wiederliebt. Sie ist ein dolles Mädel, aber so berückend hübsch und hold!“ – Seite 226: „Heute ist Gründonnerstag, himmlisches Wetter, und ich bin verliebt. Und zwar bin ich wieder einmal doppelt verliebt; Marie liebe ich noch immer, aber augenblicklich ein noch hübscheres Mädchen, Fräulein Weiß, noch mehr. O, sie ist so hübsch – und ich kriege so liebe Blicke von ihr!!!“ – Seite 228: „... Am Abend desselben Tages kehrte ich von einem reizenden Abend bei Wilhelmis heim – mit einem neuen Pfeil im Herzen: die hübsche Bertha hat mir’s angethan!“ – Seite 253: „Meine Liebe zu Marie“ – wir sind also wieder bei Marie – „ist seltsam: manchmal liebe ich sie leidenschaftlich, dann wieder gedenke ich ihrer tagelang gar nicht“ ... Und Seite 264 – da haben wir’s! – Seite 264 „begräbst Du sie als Tote Deines Herzens“ – – Amen! – Mein geliebter Junge! So, hoff’ ich, wird Dir’s auch mit der himmlischen Thea ergehen. Zuerst „Tage lang gar nicht“, sondern als tapfrer Abiturient über Deinen Büchern; und dann, etwas später, „Tote Deines Herzens“!

Rudolf stand auf er trat vor den Vater, ihn gerührt, doch wehmütig anblickend; ging von ihm hinweg, durchs Zimmer hin, und kam wieder zurück. Ach, Vater, Du meinst mir’s gut, sagte er bewegt; die Dankbarkeit lag wie ein Schleier über seiner Stimme. Es kann mir’s auch nie ein Mensch so gut meinen wie Du! Es giebt auch keinen solchen Vater wie Du –

Das sagen viele Söhne, unterbrach ihn Volkmar lächelnd.

Ich glaube doch, keiner von ihnen –

Volkmar unterbrach ihn wieder: Da müßten wir doch auch erst von dem Sohn sprechen. Meiner hat viel Liebe zu mir, das ist gewiß!

Ja, das ist es, Vater. Glaub’ mir – – Du hast aus dem Buch da von allerlei Verliebungen vorgelesen; glaub’ mir, Vater, so wie Dich hab’ ich von denen keine geliebt! Nie! nie! – – Aber jetzt – ich muß Dir ja alles sagen – jetzt hab’ ich so ein verrücktes, quälendes, schlechtes Gefühl in der Brust; als wär’s zum erstenmal anders; als ging’ mir diese Thea – – Ich kann ja nichts dafür, Vater. Es ist so gekommen. Zuerst als Schauspielerin – dann auf der Straße, als – – und nun auf dem Eis, so gut, so lieb – gleich wie eine Freundin. Es ist alles so harmonisch in ihr ... Du lächelst. Vielleicht versteh’ ich das auch noch nicht. Ich bin ja noch jung. Ich mußte Dir nur sagen, Vater: wie ich Dich liebe, das kann nie anders werden, nie geringer werden; aber so wie für Thea – hab’ ich noch nicht gefühlt!

Ja, der hat herzensgute Augen! dachte Volkmar; auf der Tischkante sitzend, versenkte er sich in das junge, liebeausstrahlende, nur jetzt etwas zu elegische Gesicht. Kann ja sein, sagte er nach einer kurzen Stille, mit seiner gewöhnlichen Ruhe und Fassung. Vielleicht irrst Du – vielleicht auch nicht. Wer weiß das im Augenblick! ’s ist wie mit Deinem Examen, Rudolf: vielleicht bist Du schon durch, das mündliche wird Dir erlassen; aber vielleicht auch nicht. Wird es Ernst mit dem mündlichen, nun, dann mußt Du außer dem Frack auch Deine Stärke anziehen, Dich in geistige Gala werfen. Wird es mit dieser Thea Ernst – treibt der Teufel sein Spiel mit Dir – so mußt Du Dich wehren, bis Du den Teufel am Boden hast. Aber nur nicht weich sein und denken: ja, ja, es hat mich, es hat mich! Nicht wie diese Fürsten und Feldherrn, die vor dem großen Napoleon so ’nen höllischen Respekt hatten, daß sie immer dachten: er hat uns schon; sondern wie der alte Held, der Blücher, auf ihn los ging, ohne Menschenfurcht: „Da kann der Bonaparte die schönsten Schmiere kriegen!“ Oder wie der kleine Bengel heute ... Auf dem Eis sah ich ein Kerlchen, das immer wieder vom Schlitten fiel, weil es zu wenig Platz hatte; aber unverzagt immer wieder hinauf. Denk’ Du nur: „Der Teufel foppt mich, es ist nicht so schlimm. Ich sitz’ schon auf einem ganzen Berg von Verliebungsschichten.“ Darum nahm ich ja das Tagebuch! Nur zu Deiner Stärkung!

Ja, ja, sagte Rudolf leise. Ja. Ich will’s versuchen ...

Er faßte plötzlich des Vaters Hand und küßte sie. Dann sah er ihn voll Dankbarkeit an; um seine Lippen zog sich aber doch etwas Unheimliches, und er zuckte die Achseln, als wollte er sagen: mir ist nicht zu helfen! – Gute Nacht! sagte er nur noch, scheinbar ruhig wie sonst, machte eine unbestimmte, grüßende Bewegung mit beiden Händen und stürzte aus der Thür.

[486]
4.

Als Volkmar am nächsten Nachmittag vom Spaziergang heimkam und seine Treppe hinaufstieg, sah er Tonis schwarze Strümpfe oben über dem Treppengeländer vorbeifliegen, vorwärts und zurück. Sie stand in den Turnringen, die auf seinem Vorplatz an zwei langen Gurten von der Decke herabhingen, und schaukelte sich darin; geschickt und mit kräftigem Schwung, ihrem Vetter Rudolf nacheifernd, freilich ihn nicht erreichend, denn der „lange Bengel“, wie sie ihn zuweilen nannte, konnte sich so hoch hinaufschwenken, daß er mit den Fußspitzen an die Decke fuhr, die denn auch Schrammmen und Narben hatte wie ein Corpsstudentengesicht. Sowie Toni den Oheim auf der Treppe sah, stieß sie einen vergnügten Schrei aus. Wart’ einen Augenblick! rief sie dann. Bitte, einen Mojiment. Ich muß mit Dir sprechen!

Sie flog noch eine Weile, aber langsamer; Volkmar war unterdessen oben angelangt, fing sie mit beiden Armen auf und hob sie herunter. Auf einmal sittig geworden – die kleine Wilde wechselte immer in raschen Sprüngen – fragte sie sehr bescheiden, mit fast süßer Stimme: Hätt’st Du ein bißchen Zeit für mich, Onkel? Höchstens zwei Minuten?

Für Toni Götz werd’ ich doch wohl etwas Zeit haben, antwortete er, an ihrem braunen Zopf mit gemütlicher Zärtlichkeit zupfend. Eh ich wieder an die Arbeit gehe, sag’ mir, was Du auf der Brust hast; – schau! es guckt Dir ja schon da oben aus den Augen heraus. Bist Du wieder einmal mit „Mutting“ uneinig, und ich soll Dir helfen?

Furchtbar klug bist Du doch, Onkel Albert! sagte das Mädel; ihr bewunderndes Lächeln war aber auch nicht dumm. Ja, es ist so ’was ... Komm, ich nehm’ Dir den Mantel ab; den schönen, olivengrünen Radmantel, Deinen Salzburger; so schön hat hier keiner einen. Ach Gott, Du denkst wohl, ich will Dir schmeicheln, damit Du mir beistehst; nein, Onkel, es ist wirklich wahr. Helene ist in Deinen Mantel förmlich verliebt ... Soll ich mit in Dein Zimmer gehen?

Volkmar schob sie stumm in die Thür, die ins Speisezimmer führte, und durch das hindurch bis zu seinem Schreibtisch. Er setzte sich, stellte die schlanke Knospengestalt zwischen seine Kniee und legte beide Arme um sie. Also heraus damit, sagte er mit seinem herzlichen mutmachenden Bariton. Also Mutting will nicht so wie Du?

Sie schüttelte den Kopf. – Diesmal ist’s so ’ne große Sache, Onkel ... Du, erst sag’ mir eins; bitte, bitte. Wie alt war wohl der jüngste Mensch, als er sein erstes Stück schrieb, das wirklich auf dem Theater gespielt wurde?

Ueber diesen Satz mußte Volkmar lächeln. – Du wirst mich jetzt verachten, Toni, gab er dann zur Antwort, ich muß Dir aber offen sagen: das weiß ich nicht. Von Mozart hat man eine Oper, die jetzt wieder gespielt wird, aus seinem zwölften Jahr; aber wie es mit den Schauspieldichtern steht, ist mir nicht bekannt.

Aha! stieß Toni triumphierend hervor. Aus seinem zwölften Jahr!

Das war Mozart, das Wunderkind. So junge Schauspieldichter hat’s wohl sicher nicht gegeben –

Nicht? Meinst Du, nicht? – – Na, das ist dann auch egal. Schreiben wollen wir’s doch!

Was, mein Herz?

Ein Theaterstück.

Wer?

Helene Ammann und ich.

Ihr zwei? Ein Theaterstück?

Bitte, nicht so lächeln, Onkel! bat Toni und ward plötzlich rot. Das mußt Dü nicht thun; Du bist ja doch nicht wie die alten Damen; Du verstehst doch alles. Wir möchten so gern für Thea – – Ach nein, nun sei einmal ernst!

Ich bin furchtbar ernst, Toni. Das siehst Du ja doch. Was möchtet Ihr für Thea –?

Etwas thun, etwas leisten, Onkel. Seit gestern abend geht uns das im Kopf herum, Helene und mir. Heut’ morgen in der Schule haben wir’s uns gesagt; beide ganz dasselbe, denk’ Dir! Ein großes Stück in fünf Akten, mit einer wunderachönen Rolle für Thea! Helene hat auch schon einen Stoff gewußt; aus der Geschichte – aber natürlich, das meiste wird Erfindung. Und Theas Rolle wird ganz Erfindung. Helene hat auch gleich ein Blatt Papier genommen und schon in der Schule, während der französischen Stunde – – das mußt Du aber nicht weitersagen, Onkel –

Ich? Wie das Grab!

Da hat sie schon Notizen gemacht . . . Helene meint, es muß glücken: wenn wir beide es zusammen machen – und sie ist schon vierzehn alt ... Mozart war erst zwölf!

Ja, aber um Vergebung, meine Freunde, dafür war es Mozart –

Versuchen wollen wir’s doch! – Find’st Du das zu frech? – Sag’ nicht, Du find’st es zu frech. Du bist selber Dichter; und hast so früh angefangen; noch viel früher als wir. O, Gott, wenn wir eines Tages zu Thea kämen, mit unserem fertigen Stück ... Was sie dann wohl sagt. Mich rührt dann der Schlag!

Das wär’ unpraktisch –

Süßer Onkel! sagte Toni plötzlich und spielte ganz leise in seinem ergrauenden Bart. Morgen könnten wir anfangen, ’s ist Sonntag; und heute nachmittag, bei Helene, haben wir uns die Hauptsachen auch schon ausgedacht. Sie ist die Gelahrte, weißt Du; ich bin die Schneidige! Aber als ich nun damit zu Mutting komme, so lacht sie mich aus; will nichts davon wissen. „Ihr schnappt wohl noch über,“ sagt sie. Wahrhaftig, das hat sie gesagt. Das ist doch feudal, daß die Muttings soviel älter sind und uns darum so oft nicht verstehen!

Was ist es? fragte Volkmar.

Feudal! – Ach, das wundert Dich. Wir sagen in der Schule immer feudal statt fatal. – Nun sei Du ’mal recht nett und recht gescheit, Herr Professor Volkmar. Sprich für uns als Kollege, als Dichter. Sag’ Mutting, daß wir für eine heilige Sache kämpfen. Kurz, daß es ein Unsinn ist. Wenn sie ’s uns verwehren will, mein’ ich. Wenn Du mich wirklich ein bißchen lieb hast, o dann thu’s! dann thu’s!

Ihre Hände lagen auf seinen Armen, sie drückte sie zart, doch von Herzen. Volkmar lächelte sie an, betrachtete sie eine Weile stumm; es war so eine Freude, in dieses lebhafte, fast geistreiche Gesichtchen zu sehen, mit dem treuherzigen Blick. Auch über Dreizehnjährige geht doch nichts! dachte er bei sich. Und die da ist gut! – Die bleibt mir doch wenigstens, wenn mein Junge fortgeht ...

Er fühlte wieder einen Schlag auf die Brust, inwendig. Im nächsten Augenblick durchfuhr ihn aber eine Phantasie: wenn dieser Junge dann heimkäme, nach Jahren, als fertiger junger Mann, und dieser Backfisch stünd’ als fertige Jungfrau da, „in der Jugend Prangen“. Und sie würden etwa gar ein Paar ... Jedenfalls ein holdes, dachte er; wenn sie beide so fortwachsen ... Statt daß ihn jetzt diese Thea – –.

Er streichelte Tonis durchglühtes, ungeduldig wartendes Gesicht. Was Thea alles anrichtet! sagte er. Also ein Stück für sie! – Aber sei nur ruhig. Wenn der Geist Euch treibt ... Ich will zu Deiner Mutter hinaufgeheu, jetzt, sogleich. Ich will mit ihr reden!

Und Du glaubst, daß Mutting –?

Ja.

Glaubst Du’s wirklich, Onkel?

Ich bin überzeugt.

Er ist überzeugt! Wie süß!

Sie packte ihn und küßte ihn. Dann ließ sie ihn los, sprang im Zimmer umher, brach in einen Triumphgesang aus und warf ihre langen, dünnen Arme in die Luft.

Plötzlich wurde sie wieder ernst und kam zu ihm zurück. Indem sie mit beiden Händen über seinen Rockkragen strich, als müsse sie ihn glätten, sagte sie lieblich schmeichelnd, aber mit ihrer bedeutendsten Miene: Du gelahrtes Haus, wenn Du die Mutter [487] herumkriegst – o wie himmlisch bist Du! – dann sag’ ihr auch, bitte, daß man uns beim Dichten nicht stören soll. Von neun bis zwölf morgen vormittag schließen wir uns in meiner Stube ein, denn dort wird gedichtet; und so jeden Sonntag, bis wir fertig sind. Wenn um Zehn Line kommt, uns das Butterbrot zu bringen, dann soll sie leise anklopfen, leise eintreten, den Teller leise auf einen Stuhl stellen und dann wieder fortgehen. Willst Du Mutting das sagen, Du?

O, ich will mehr thun, entgegnete Volkmar ebenso ernsthaft. Line kann das nicht; das kann nur ein wirklicher Dichter. Ich werd’ um Zehn selber kommen und das Frühstück bringen; wie ein Geist, sag’ ich Dir. Kein Wort, keinen Laut!

O, wie bist Du süß! schrie sie und warf sich ihm nochmals an die Brust.

Volkmar stand auf. Er nahm ihren Arm. So gingen sie, in gleichem Schritt, zum Vorplatz hinaus und die Treppe hinauf.


5.

Der Oheim hielt Wort: die Mutter gab nach, wie schon manches Mal. Als es am andern Morgen zehn Uhr schlug, stand er selbst, pünktlich wie ein König, mit dem Butterbrotteller oben auf Tante Annas Vorplatz und klopfte an Tonis Thür. Nach kurzem Tuscheln ward ihm geöffnet; er trat ein und sah etwas Unerwartetes: die jungen Dichterinnen hatten, um sich für ihr ernstes, halb tragisches Werk in ernster Stimmung zu erhalten, die kleine Stube schwarz behängt, mit allen Zeugen und Stoffen, die sie in ihren beiden Häusern aufgetrieben hatten. In der Mitte stand der runde Tisch, an dem sie schufen; wieder in dessen Mitte ein mächtiges Tintenfaß. Helene, dunkel gekleidet, hatte über den rechten Arm einen dunklen Schreibärmel gezogen; Toni nicht; dafür hatte sie sich eine Art von schwarzem Schleier ums Gesicht gelegt.

Volkmar verzog keine Miene. Er verneigte sich nur und grüßte stumm. Dann stellte er seinen Teller auf den Tisch, grüßte noch einmal in tiefem Ernst und ging wieder hinaus.

Die Mädchen waren allein. Toni, die jüngere, mußte nun doch ein wenig lächeln; der feierliche Onkel und das Butterbrot waren ihr zu komisch. Aber die andre im Schreibärmel, am Tisch, blieb ernst, und Toni faßte sich schnell. Sie schloß die Thür wieder zu; darauf trug sie das Frühstück auf den Dichtertisch. Du, sagte sie, während wir das essen, können wir ja weiterdenken; hurra, die Sache ist im Schwung! Im dritten Akt stirbt Janko, in: vierten seine Schwester Arabella, im fünften heiratet Philipp Johanna und Kaiser Max versöhnt sich mit Sickingen! So endigt es doch noch gut; das will ja das Publikum.

Es ist auch überhaupt angenehmer, bemerkte Helene und biß in ihr sprottenbelegtes Butterbrot.

Na ja, meinetwegen. Ich hatt’ eigentlich gedacht, wenn die arme, süße Arabella tot ist, dann muß niemand mehr glücklich werden; nieder mit der ganzen Bande! – Aber sie wollen ja jetzt keine Trauerspiele; immer sollen sich am Schluß welche heiraten. O, die Wurst ist gut! – – Was Du für furchtbare Kenntnisse hast. Maria von Burgund, Philipp der Schöne und Margarete, ihre Kinder; Kunz von Rosen, Franz von Sickingen, Johanna von Spanien – Du, von all’ den Herrschaften hab’ ich noch nichts gewußt. Und die drei Bürgermeister von Brügge; und die Senatoren …

Sie stand aber auf und setzte mit einer triumphierenden Armbewegung hinzu: Aber Arabella, die Zigeunerin, die war mein Gedanke! Die schöne, rührende Arabella mit den schwarzen Augen. Helene, wenn uns das glückt – das wird Theas schönste Rolle; nicht?

Wollen’s hoffen, antwortete Helene, mit den kleinen, feinen Zähnen ein Stückchen Käse zerbeißend. Aber gackel’ nur nicht so viel; das Ei ist ja noch gar nicht gelegt. Eigentlich weiß ich auch nicht recht, wie die Zigeunerin und ihr Bruder Janko in das Königsschloß zu Aachen kommen; ob das auch natürlich ist.

Natürlich ist! natürlich ist! fuhr Toni auf. Na, ganz gewiß ist’s natürlich! Die Kaiserin Maria und ihre Kinder, die sind oben im Schloß – das heißt, auf der Bühne; da tritt einer ans Fenster – meinetwegen die dreizehnjährige Prinzessin Margarete – und sagt lebhaft: „Welch ein Auflauf!“ „das Volk rottet sich zusammen!“ so wie’s gewöhnlich auf dem Theater ist. Dann spricht sie weiter, immer aufgeregter – denn natürlich muß es sich steigern: – „ah, sie schleppen einen jungen Burschen, wie ein Zigeuner – und an ihn klammert sich ein dunkles Mädchen mit schwarzen Locken“ – das ist Arabella, verstehst Du. „Jetzt wirft sie sich dem Volk zu Füßen, und pfui, man weist sie zurück. O, sie kommt hierher, grade auf das Schloß zu; durch die Wachen drängt sie sich hindurch – und nun ist sie im Hause – sie wird herkommen. Das Volk drängt nach. Ich ängstige mich, was bedeutet dies? O, Philipp, beschütze uns!“ Sie klammert sich an Philipp. Denk’ Dir die Spannung, Helene! Alle blicken mit Spannung auf die Thür. Die Thür wird aufgerissen, eine Zigeunerin stürzt herein, wirft sich vor ihnen auf die Knie; das ist Arabella! ich meine Thea!

Na ja, murmelte Helene zustimmend. Aber warum –

Und dann kommt das Volk und schleppt ihren Bruder Janko herein!

Aber warum thun sie das?

Helene, Du bist komisch. Das ist doch sehr einfach. Das Rathaus von Aachen ist doch abgebrannt; damit fingst Du die Sache an. Nun kommen die Bürger mit Janko und sagen: „Wir suchten den Brandstifter, hier bringen wir diesen Burschen, der hat es gewiß gethan!“ Und der erste oder zweite Bürger sagt, höhnisch lachend und auf Arabella weisend: „Und da steht die Hexe, die ihm geholfen hat! Seht, wie sie erbleicht!“ – Janko will sich in seiner Empörung auf den ersten oder zweiten Bürger stürzen, sie halten ihn aber fest. „Halt da, mein Bürschchen“ – na, und dann so weiter!

Na ja, sagte Helene, das wird auch wohl gehn. Sie suchen einen Brandstifter. Und da finden sie die Zigeuner –

Und Zigeuner gab es doch damals schon!

O ja, Toni; schon lange, lange. Aber das müssen wir nun nie vergessen, daß alles natürlich wird. Du weißt ja, wie oft die Leute im Theater sagen: das ist nicht natürlich! – Ach, Du, da hab’ ich einmal eine Dummheit gemacht – aber nicht weitersagen – da hatt’ ich angefangen, eine Novelle zu schreiben; es ist aber schon lange her. Da kam ein Soldat drin vor, der wollte nicht mehr leben; und vor seinem Selbstmord wollte er erst seinen Säbel verbrennen. Und er nahm ein Schwefelholz und zündete es an, und hielt es unter den Säbel; so lange, bis der Säbel ganz in Flammen aufging –

Weiter kam sie nicht, denn Toni lachte so heftig auf, daß Helene verstummte. Sie lachte nun selber mit. Tonis Lustigkeit ward so wild und endlos, wie nur Kinder es kennen; lang ausgestreckt warf sie sich auf den Boden hin, trommelte mit den Füßen und schleuderte sie dann hoch in die Luft.

Ach, mein Gott! sagte sie zuletzt, vor Erschöpfung seufzend; setzte sich aufrecht, fuhr sich durch die verwirrten Haare, um etwas Ordnung zu machen, und runzelte die junge Stirn. Jetzt müssen die Dummheiten aufhören; wieder an die Arbeit! Mit dem Butterbrot sind wir fertig. Ernsthaft, ernsthaft, Fräulein Toni Götz; Sie haben wohl ganz vergessen, daß Sie hier in einem schwarzverhängten Musentempel sind! – Sie sprang auf die Füße und setzte sich auf ihren Platz an dem runden Tisch. Helene! rief sie. Wie das aussehen wird! Auf dem Theaterzettel: Historisch-romantisches Schauspiel in fünf Aufzügen, von Helene Ammann und Toni Götz!

Nur noch nicht gegackelt, Toni. Jeder nimmt wieder seinen Bogen Papier und schreibt. Den ersten Aufzug also, den hatten wir im Entwurf beisammen –

Scene eins bis sieben!

Jetzt sollten wir erst den ganzen Entwurf fertig machen, mein’ ich –

Ach, das eilt ja noch nicht, sagte Toni, mit ihren eckigen Schultern widersprechend. Das ist zu langweilig. Wir könnten doch gleich den ersten Akt schreiben; nicht?

Können wir auch, erwiderte die nachgiebige, gefällige Helene. Also dann nimm einen andern Bogen; ich auch. Jeder sagt, was ihm einfällt; und wenn wir beide einverstanden sind, schreiben wir es hin. Erster Aufzug. Erste Scene. Ort: Vorsaal im Königsschlosse zu Aachen. Abenddämmerung. Ist Dir die Abenddämmerung recht?

Natürlich!

Sie begannen beide eifrig zu schreiben. Also mit vier Pagen fangen wir an, sagte Toni, während sie noch kritzelte; das ist fein! Zuerst sind nur zwei auf der Bühne: Waldemar und Toor; später kommen Hildmann und Goldmar. Im Entwurf [488] steht zur ersten Scene (sie blickte auf ihren andern Bogen): „Unterredung über den Zweck von Kaiser Max’ Abreise nach Brügge.“

Ja, das muß das Publikum durch die Pagen erfahren, erwiderte Helene mit ihrem „gelahrten“ Gesicht; aber natürlich müssen sich die Pagen das nicht merken lassen, sie müssen ganz gemütlich miteinander sprechen.

Einer muß sich räkeln –

Ja, auf einem Diwan; der andere steht am Fenster. Waldemar liegt auf dem Diwan, denk’ ich; er kann ja auch wirklich eingeschlafen sein –

Toni nickte eifrig. Er ist überhaupt der Bequeme, der Faule; nicht? Es müssen doch verschiedene Charaktere sein. Er kann zum Beispiel so im Gespräch zu Toor sagen, der darüber flucht, daß sie als Pagen so viel Langeweile und so wenig zu thun haben: „nun ja, Du bist eben für die Abwechslung; ich finde es schöner, gemütlich zu leben.“

Ja, Toni, das kann er thun. Dabei müssen sie aber auch über Philipps bevorstehende Verlobung mit Johanna von Spanien sprechen; das ist ja doch die Hauptsache. Fangen wir nur an!

Sie schrieben die Pagenscenen; dann kam Philipp, Kaiser Maximilians Sohn. Auf Tonis Verlangen meldete ihn ein Diener an: „Herzog Philipp!“ was Helene zwar überflüssig fand, da nur die Pagen zugegen seien; aber Toni hatte das Gefühl, auf dem Theater müßten die fürstlichen Personen mit gehobener Stimme angemeldet werden, und Helene gab nach. Nun kommt aber der erste Monolog, sagte sie dann wichtig, die Feder an ihr kleines Ohr gedrückt; wenn Philipp die Pagen fortgeschickt hat, so hält er seinen Monolog (Toni nickte); und dann ist es gut, mein Herz, daß die Zuschauer gleich darauf vorbereitet werden, daß er sich sehr leicht verlieben wird – in Arabella, mein’ ich. Zuerst muß er sagen, daß dies sein Verlobungstag mit der spanischen Prinzessin sein sollte und warum noch nichts daraus geworden ist; und dann sollt’ er fortfahren, verstehst Du: „Gern hätte ich die für mich Auserwählte gesehen, da mir so viel von ihr vom Vater erzählt wurde (Helene machte dabei ein möglichst prinzliches, vornehmes Gesicht). Blond, von fürftlicher Anmut soll sie sein. Das ist eigentlich nicht wein Geschmack“ . . . Verstehst Du! – „Ich liebe diese weißen Milchgesichter nicht“ –

Aha! warf Toni dazwischen und reckte ihren Arm.

„Ich liebe diese weißen Milchgesichter nicht; mich verlangt’s nach einem glutvollen Weibe, einer dunklen Schönen. Doch da sie der Vater mir bestimmt hat“ – und so weiter.

Das ist famos! rief Toni bewundernd aus. Nun weiß man schon, was kommen wird. Und nun wundert man sich auch nicht, wenn es kommt. Den ganzen Monolog, den mußt Du diktieren; mach’ zu!

Helene diktierte, sie schrieben beide; wie fix das geht! murmelte Toni entzückt. Am Schluß sah Herzog Philipp nach der Uhr: „Die Mutter kann jeden Augenblick kommen“; jetzt meldete auch schon ein Diener: „Die Kaiserin naht mit der Prinzessin“. Vierte Scene. Sie begrüßen sich; die Kaiserin Maria giebt ein Zeichen, das Gefolge zieht sich zurück. Die dreizehnjährige Prinzessin Margarete geht bald ans Fenster; Mutter und Sohn unterhalten sich über den Aufstand in Brügge und daß die Prinzessin Braut nun bald kommen wird, und daß man den Brandstifter des Rathauses noch nicht gefunden hat. Toni ließ die kluge Helene das alles machen, sie schrieb, was die vorschlug; es kam aber eine Unruhe über sie, die von Zeile zu Zeile wuchs. Ihre langen, dunklen Brauen zogen sich finster zusammen, sie rutschte auf ihrem Stuhl. Na, was hast Du denn? fragte Helene endlich.

Nein, so geht es nicht, sagte Toni. Sie reden immer so eben fort. Es kommen keine Schlagworte. Es müssen Schlagworte hinein!

Schlagworte?

Ja; so was Bedeutendes – das man sich dann merkt. So besondere, schneidige Gedanken, weißt Du ...

Ich hab’ einen! rief sie plötzlich aus und hob ihren Finger, als meldete sie der Lehrerin in der Schule, daß sie etwas wisse. Wenn Maria zu Philipp gesagt hat: „nein, gefunden hat man den Brandstifter noch nicht“, dann lassen wir sie fortfahren: „doch vermutet man, daß es einer aus Rache gegen Max gethan hat. Welcher große Mann hätte weder Neider noch Feinde!

Helene nickte stumm. Sogleich stürzte sich Toni auf ihren Bogen Papier – sie war schon unten auf der dritten Seite – und schrieb dieses Schlagwort hin; vier Ausrufungszeichen setzte sie in ihrer Begeisterung hinzu. So! sagte sie dann aufatmend, nun kann’s weitergehn!

Nun kommt der Auflauf, bemerkte Helene. Den Margarete vom Fenster aus sieht, so wie Du’s gesagt hast.

Hurra, wir sind also schon beim Auflauf! schrie Toni.

Sie kamen in ein Feuer, daß die Worte und die Federn flogen; die Federn konnten nicht mit. Endlich stürzte die eigentliche Heldin auf die Bühne, Thea-Arabella; ihr Bruder Janko ward von den Bürgern hereingeschleppt: „Führt ihn vor die Kaiserin!“ – Jetzt giebt die Kaiserin der Prinzessin ein Zeichen, schlug Helene vor, worauf diese sich zurückzieht –

Warum? fragte Toni.

Ach, die dreizehnjährige Margarete, die stört jetzt nur. Die Kaiserin schickt sie fort; das thun die Mütter ja immer, wenn was los ist!

Toni nickte, und sie schrieben es hin. Ja, jetzt ging’s los! Von dem wütenden, drohenden, „die Häude schüttelnden“ Volk wird Janko als Brandstifter, Arabella als Hexe angeklagt . . . „Edel“ antwortet sie. O, sie sind so unglücklich; so unschuldig ... Herzog Philipp steht da „wie erstarrt“, „überwältigt von ihrer so fremdartigen Schönheit“. Sagen thut er noch nichts; aber „wie sie ihn ansieht, begegnet sie einem feurigen, auf sie gerichteten Blick, vor dem sie die Augen niederschlägt“ ...

Janko wird von der Kaiserin verhört; er verteidigt sich. Die Bürger glauben ihm nicht; nun denn, ruft Arabella endlich aus, so will ich mit ihm sterben! wenn keiner mit uns Mitleid fühlt! – Aber sie irrt. Philipp fühlt es. Er befreit den Janko. Er schickt die Bürger fort. Die Kaiserin wird abgerufen, denn es kommt Besuch. Nur Philipp und die Zigeuner bleiben auf der Bühne. Er nimmt Janko in seinen Dienst, schickt ihn zum Kaiser nach Brügge . . . Janko ab . . .

Toni that einen tiefen glückseligen Atemzug: endlich Philipp und Arabella allein! Nun will ich Dir was sagen Helene, fing sie mit gedämpfter Stimme, aber glühenden Wangen an: nun laß mich, bitte, den Philipp dichten und Du die Arabella. Lieben thun sie sich nun ja schon –

Natürlich! Die richtige Liebe kommt ja immer schnell!

Den Philipp, den kann ich gut, fuhr Toni fort. dabei denk ich, daß das nicht Arabella, sonderm Thea ist!

Meinetwegen, Toni. Aber Du mußt doch nie vergessen, daß es ein historisches Schauspiel ist. Und daß Du als Herzog Philipp

O Gott! rief Toni nur, als verstehe sich das von selbst. Fang’ Du nur an, altes Haus!

Ich kann nicht anfangen, sagte Heleue achselzuckend. Arabella ist ein junges Mädchen und „will nun auch gehen“ –

Das thut nichts! Herzog Philipp ruft: „Arabella!“

Ja, dann bleibt sie natürlich stehen. „Was wünscht Ihr, Herr?“

Darauf sagt Philipp etwas gekränkt: „Und Ihr habt kein Wort des Dankes für mich?“

Nun ist die Scene im Gang, murmelte Helene. Sie begann zu schreiben; Toni folgte ihr. Sie glühten jetzt beide wie die jungen Rosen; kritzelnd, sinnend, sprechend; die Augen immer größer und die Buchstaben auch; die Federn wie toll. Helene, an Rudolf denkend, für den sie seit einigen Tagen heimlich schwärmte, stierte aufs Papier. Arabellas Leidenschaft, fuhr sie fort, ist natürlich noch „verhalten“, denn sie ist ein Mädchen; sie antwortet also: „Kein Wort des Dankes? O, könnte ich alle Gedanken, die mein Herz bewegen, in Worte kleiden, wie glühend wollte ich Euch danken. Aber“ – dies sagt sie „bitter“ – „was kann Euch an dem Dank einer Zigeunerin gelegen sein? Denn was ist eine Zigeunerin für Euch?“

Jetzt brach Toni los. „Was Ihr mir seid, Arabella? Soll ich Euch sagen, wie teuer Ihr mir in dieser kurzen Zeit geworden? Ja, ich habe Dich lieb gewonnen, Arabella, Du bist mein Glück, mein Alles!“

„Du bin mein Glück, mein Alles“, wiederholte Helene, als sie das alles hingeschrieben hatte. „Arabella (leidenschaftlich) O Herr, Ihr vergeßt Euch!“

„Nein, Arabella, höre mich an. Ich weiß es, Du liebst mich, Du mußt mich lieben.“ – Jetzt nur zu, Helene jetzt muß sie mit der Sprache heraus!

Das soll sie auch, erwiderte Helene, ihren Schreibärmel in [490] die Höhe ziehend. „Ja, Philipp, ich lieb' Euch. Schon als ich Euch zuerst sah, als Ihr so gut gegen uns wart, und meinen Bruder dem Volke entzogt“ –

Du, sag’ lieber: „Der Wut des Volkes entzogt“, warf Toni im hastigen Schreiben ein.

Ja: „der Wut des Volkes“ . . . „Schon damals fühlte ich es, wie selig war ich in deiner geliebten Nähe“ (o Rudolf! dachte Helene), „wie selig, wenn dein Auge mich traf. Ja, ich lieb’ Euch leidenschaftlich . . . Doch, Philipp! – Armbella wird ernster, zuletzt drohend – Ihr seid von königlichem Blute, Ihr könntet mit mir spielen. Doch bedenket, daß auch ich meinen Stolz habe, und Ihr könntet es bereuen. – Arabella fällt in den alten, liebedurchdrungenen Ton zurück: Doch ich will’s nicht glauben, daß Du so sein könntest, ich weiß es, Du kannst mich nicht vergessen, Du bist mein Engel! – Sie fällt vor ihm nieder und will seine Hände küssen; er hebt sie auf“ –

Halt! schrie Toni; das ist meine Sache. Philipp dichte ich! – „Er hebt sie auf und umarmt sie. Plötzlich scheint ihm etwas einzufallen; er stößt sie zurück, indem er ausruft: Mein Gott, was habe ich gethan! Johanna! – Er wirft einen gebrochenen Blick auf Arabella und stürzt hinaus.“

Ja, er stürzt hinaus, sagte Helene nickend. Und Arabella „hat ganz erstarrt dagestanden mit einem Ausdruck von Angst im Antlitz; jetzt schlägt sie die Hände vors Gesicht: Weh mir!“

Schneidend,“ ergänzte Toni.

Na ja: „schneidend: Weh mir! – Sie fällt besinnungslos zu Boden –“

„Und der Vorhang fällt!“

Helene wiederholte triumphierend: „Und der Vorhang fällt!“

Jetzt ward aber an die Thür gepocht; schon zum zweiten Mal; das erste hatten sie im Feuer des Dichtens überhört. Tolle Mädels ihr! rief Volkmar draußen auf dem Vorplatz. Um Zwölf wolltet ihr aufhören. Es hat Eins geschlagen, Mutting ruft zu Tisch!

[501]
6.

Das Wetter schlug um; die sonnige Heiterkeit dieser kalten Tage versteckte sich hinter Schneegewölk, das ein weicherer und wärmerer Luftstrom von Süden her heranführte. Als Rudolf am nächsten Mittag aus dem Gymnasium herauskam, um einen großen Schicksalsgang anzutreten, warf sich ihm der kleinkörnige Schnee wie eine Wolke von feinen Nadeln ins Gesicht; der Wind brach mit wildem Pfeifen aus den geschüttelten Bäumen der städtischen Anlagen hervor und schleuderte ihn fast in die Thür zurück. Von den hohen Dächern riß er den alten und neuen Schnee mit solcher Wut in die Luft, daß es sich ausnahm, als dampften die Häuser von unsichtbarem Feuer. In erbärmlicher Willenlosigkeit irrte das kleine Geflock, das vom Himmel herabfiel, umher, durch plötzliche Windstöße zu dichten Geschwadern zusammengejagt, die wagerecht [502] dahinfuhren. Die wenigen Menschen, die sich auf der Straße fanden, hatten Mühe, sich gegen diese Kobolde der Luft zu behaupten; Rudolf sah, wie sie kämpften, und lachte.

Was konnte ihn heute anfechten? Nichts. Sein Weg ging zu Thea …. Gestern, beim Abschied auf dem Eise – nach der dritten „Bogenlehrstunde“ – hatte sie ihm mit entzückendem Lächeln gesagt: „Besuchen Sie mich doch, Herr Meister. Kommen Sie morgen mittag, wenn wir beiden Sklaven freigelassen werden: Sie aus der Schule, ich von der Probe. Komm’ ich etwas später, nun, dann warten Sie!“ – Ja, ich werde warten, dachte er, indem er, sich gegen die Winde wie gegen bellende und schnappende Hunde wehrend, auf den festen Beinen dahinschritt. O du lustige, du göttliche Thea, ja, ich werde warten … Er pfiff, er sang vor sich hin; auch der wirbelnde, dichte Schnee gefiel ihm, es war, als wenn er ihn und sein süßes Geheimnis vor der Welt versteckte. Nein, so hatte er noch nie gefühlt; noch nie … Von der Seligkeit der Freude, der Liebe, der Erwartung feuchteten sich seine Augen. Noch nicht neunzehn Jahre, und eine geniale, gefeierte, angebetete Künstlerin hatte zu ihm gesagt: „Besuchen Sie mich doch, Herr Meister!“ – Er stand still und lachte.

Endlich hatte er ihre Straße und ihr Haus erkämpft; es war nur wenige Schritte vom Theater entfernt, vor dem alten Thor. Ein kleines, unbedeutendes Haus; auf einer etwas engen, hölzernen Treppe stieg er zu ihrem ersten Stock hinauf und sah – wie wunderlich ward ihm zu Mut! – die Worte „Thea Schüler“ auf der kleinen Messingtafel vor ihrer Thür. Auf sein Klingeln öffnete ihm eine junge Magd, mit schlotteriger Frisur, aber freundlichem, vergnügtem Lächeln. Der noch nie gesehene junge Herr schien ihr nicht zu mißfallen. Sie werden wohl erwartet, sagte sie, noch ehe er seinen Namen hatte nennen können.

Ja; Rudolf Volkmar! antwortete er fast tonlos, weil er viel zu wenig Atem hatte.

Sie lächelte wieder und nickte. Dann möchten Sie nur gefälligst eintreten; das Fräulein kommt gleich. Im letzten Akt, sagt sie, hat sie nichts zu thun. Hier dauern ja auch die Proben nicht lange. Nur ein bißchen Geduld!

O, ich habe Geduld, sagte Rudolf herzlich, zutraulich, wie zu einer Freundin. Wie kindisch! dachte er dann und errötete; nahm sich aber zusammen und trat möglichst vornehm ungezwungen ein. In einem kleinen, halbdunklen Vorzimmer legte er seinen schneebedeckten Mantel ab; dann ging er durch eine zweite Thür. Das ist Theas Wohnzimmer! sagte er sich, sehr enttäuscht. Es war eine echte Mietstubc, kleinbürgerlich, mit wohlerhaltenen, aber geschmacklosen Möbeln; kein Teppich auf dem Fußboden, die gewöhnlichen, weißen, gewaschenen Vorhänge an den kleinen Fenstern. Nur die Blumen von der Benefizvorstellung, nun erbärmlich welk, und allerlei aufgehängte Lorbeerkränze mit ihren langen Atlasschleifen schmückten das Gemach. Auch einige Theabilder, große und kleine, grüßten ihn von der Wand. Auf dem Schreibtisch standen eingerahmte Photographien, lauter bärtige; die meisten nur mit Schnurrbärten; darunter Herrn von Fellenbergs schöngekrauster Vollbart. Rudolf fühlte einen Ruck in der Brust …

Das lächelnde Dienstmädchen hatte ihn verlassen; er sah etwas ruhiger um sich her und erkannte nun an der linken Wand seinen Lorbeerkranz: die prahlerische Größe verriet ihn, deren er sich heute schämte. Wie ward ihm aber gerührt zu Mut, als er auf dieses grüne „Wagenrad“ mit liebevoller Hand, rund umher, die sechs Sträußchen der Backfische gesteckt oder gebunden sah. Wie lieb das ist! dachte er. Ja, die echte Thea … Und wie klein und wie dumm von mir, daß ich es hier zu ärmlich finde. Das spricht ja wie ein Buch für sie. „Leichtfertig!“ sagen unsre elenden Spießbürger. Wär’ sie leichtfertig – sie mit ihrem Liebreiz – so könnt’ sie in einem Palast wohnen, zwischen lauter Marmor und Gold. Aber da lebt sie mit ihrer großen Kunst, ihrer kleinen Gage, und dem fidelen Struwwelpeter … O ihr erbärmlichen Philister. O Thea! Thea!

Jetzt hörte er draußen ihre weiche, klangvolle Stimme; er fuhr fast zusammen. Er hörte, wie sie den Schnee von ihrem Mantel schüttelte, mit den Füßchen stampfte, um ihn abzutreten. Dann öffnete sie die Thür und in ihrem schlichten Probenkleid, die braunen „Ponies“ auf der Stirn vom Wind zerzaust, das süße Gesicht etwas verfroren, entfärbt, aber doch noch reizend, kam sie auf ihn zu. Sie lächelte flüchtig und gab ihm die Hand. „Pfui!“ sagte sie dann und stieß einen tiefen, zornigen Seufzer aus, wie ein bestraftes Kind.

Ja, dieses abscheuliche Wetter, Sie Arme –

Ach, was geht mich das Wetter an! fiel sie ihm ins Wort. Ein Hundeleben! – Ja, ja, ’s ist ’n Hundeleben. Ein wahres Hundeleben! Dieser Schuft. Dieser Regisseur. „Lernen Sie nur Ihre Rollen besser … Verklagen Sie mich nur beim Direktor; der wird’s Ihnen sagen … Ja, ja, mein Fräulein, hier wird gearrrbeitet und nicht geschnäbelt“ … O Du Lausbub. Wie gern hätt’ ich dem gesagt, was der Münchener Schusterbub zu dem bellenden Köter sagte: „Du Malefizviech, elendig’s, miserablig’s!“

Rudolf starrte sie fassungslos an. Ich – verstehe nicht, stammelte er, als er Worte fand. Ich dachte, im Theater trägt man Sie auf Händen – vergöttert Sie –

Vergöttert mich! lachte sie auf. Na ja – manchmal schon – wenn ich ihnen ein Bombenhaus gemacht, oder ein verlorenes, quatsches Stück gerettet habe – dann bin ich die herrliche Thea … Aber wer kann denn immer volle Häuser machen; wenn ein Esel von Direktor und ein Heuochs von Regisseur die blödsinnigsten Schmarren geben – und mit was für Leuten! So ein Affentheater war ja noch nicht da! – Und dann heißen sie mich ’ne Schuldenmacherin, ’ne Verschwenderin; die immer Vorschüsse und Zulagen will … Wovon soll man denn leben. Von Hafergrütze leb’ ich nicht. Von Lorbeerblättern auch nicht. Auch von Dem seinen Grobheiten nicht … „Ja, ja, hier wird gearrrbeitet, gearrrbeitet“ … O du Hundeseele!

Sie nahm ein Kissen vom Sofa, da sie eben daran vorbeiging, und warf es gegen die Wand, als schleudre sie es dem Regisseur an den Kopf. Dann stampfte sie mit den Füßen, daß die bärtigen Photographien auf dem Schreibtisch – auch der schöngescheitelte Fellenberg – erzitterten und zusammenstießen. Könnt’ ich ihn derschlagen! rief sie aus; ihre Augen blitzten.

Temperament hat sie genug! dachte Rudolf, dem aber doch beklommen und weh ums Herz war. Da sie sich nun aufs Sofa und dort in die Ecke warf, wagte er langsam, zögernd, vor sie hinzutreten. Liebes, gutes Fräulein! brachte er heraus, in Mitleid vergehend.

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Was für ’ne weiche Stimme Sie haben, sagte sie sanft, aber vor Aufregung zitterte ihr Atem. Und so gute Augen … Ach Du lieber Gott, er war auch ganz blaß geworden, als ich das von den „Lorbeerblättern“ gesagt hatte; daß ich nicht davon leben kann. Ja doch, Sie wurden blaß! Es war rührend. Und ich freu’ mich ja doch noch heut über Ihren Lorbeerkranz; da hängt er; mit den sechs kleinen Mädels. Aber ich hab’ dies Leben satt! Dieses Hundeleben! Ich will mich nicht mehr anschreien lassen! Ich will nicht mehr um Vorschüsse betteln bei dem Sklavenhändler! Ich will Freiheit! Freiheit!

Sie fand noch ein Kissen auf der Sofalehne und warf es dem ersten nach.

Wie anders – – wie anders hatt’ ich mir das alles gedacht, stieß der von Kummer betäubte Rudolf nach einer Weile hervor. Ihre Kunst, dacht’ ich … Und so gefeiert – und noch so jung. Ach, Sie werden bald beim ersten Theater ganz, ganz oben sein und über dieses „Affentheater“ lachen!

Ich weiß nicht, seufzte sie. – Ach, ich mag nicht mehr.

Ob Hofbühne oder Schmiere – ’s ist ein Sklavenleben. Bringen Sie mich nach Capri und lassen Sie mich mit beiden Füßen im Mittelländischen Meer baumeln, frei wie ein Fisch – und ich schenk’ Ihnen die ganze Kunst!

Um Gotteswillen! rief Rudolf aus. Er machte ein so erschrockenes, geistverlassenes Gesicht, daß Thea plötzlich laut und von Herzen lachte.

Ja, ja, wiederholte sie, ich schenk Ihnen die ganze Kunst! – – Aber nun lassen wir die dumme Geschicht’. Wir können’s ja nicht ändern. Verachten Sie mich geschwind a bissel, weil ich so wenig Herz hab’ für meine „heilige“ Kunst – und dann lassen Sie uns von ’was anderm reden. Wahrhaftig, ich sitz’ hier und er steht noch immer. Gelt, das ist ’ne feine Dame! die hat Lebensart! – Setzen Sie sich auf den Stuhl; bitt’ schön. Armer Herr Rudolf: da erschüttr’ ich Ihr gutes Herz mit meinem Theaterelend. Und Sie sind noch so jung – und so ideal. Wie lieb schau’n Sie einen an. Unser Bogenlaufen – das war schön … Werd’ ich’s lernen, Meister?

[503] Ach, Sie können’s ja schon! erwiderte Rudolf, dem noch ein harter, enger Reif um die Brust lag. Sie lernen so wunderbar geschwind!

Ja, die brotlosen Künste, die – – Aber es klingt so lieb, wenn Sie so ’was sagen. Ihnen muß man alles glauben; so ein märchenhaft unverdorbenes Gesicht! – Wissen Sie, Ihr Vater – den hab’ ich gestern wieder gesehen; der ist doch ganz anders als Sie. Kleiner, und dunkel, und so gar nicht Ihr Geschau –

Und doch lieben wir uns sehr, sagte Rudolf lächelnd.

Sie beugte sich vor: O, das weiß ich schon! Das ist ja ’ne bekannte Geschicht; wie man sagt: „stadtbekannt“! – Eigentlich ist’s beleidigend für unser Geschlecht: Sie sollen gar niemand so lieb haben wie den Herrn Papa. Ist das ganz gewiß wahr?

Sie blickte ihn forschend an; die lichtbraunen, glänzenden Augen beengten ihn sehr, sie zogen ihm förmlich das Blut in die heißen Wangen. Vor drei Tagen war es noch wahr! stieß er mit einem raschen Entschluß heraus.

Ah! sagte sie; ihre starken, kurzen Brauen gingen in die Höhe. Ein Lächeln überflog sie. Dann bewegte sie auch die rundlichen Lippen, als wollte sie sprechen; es ward aber nichts. Statt dessen erhob sie sich, und in ihrer gemütlich-trägen, anmutigen Weichheit ging sie an ihm vorbei, ins Zimmer hinein; legte aber unterwegs eine Hand auf seine Schulter und ließ sie eine Weile so. Die warme, herzhafte Berührung fuhr ihm durch die Glieder. Als sie zum Schreibtisch kam, lehnte sie sich rückwärts an ihn, so daß sie die bärtigen Photographien verdeckte, und blickte den Jüngling zutraulich mit fast kindlichem Lächeln an. Also Ihr Vater ist Ihnen so gut? – Er hat auch Recht, wissen Sie.

Ob er Recht hat, weiß ich nicht, antwortete Rudolf, dem wieder das Blut in die Wangen schoß; aber er ist mir furchtbar gut; – wenn auch wohl nicht so, wie ich ihm.

Ah! Sie ihm noch mehr?

Ich glaub’s! – Ich konnt’ noch nicht lesen, da hatt’ ich leider schon keine Mutter mehr. Die Tante – die war keine Mutter und die ward auch keine. So war er mir alles! Und wenn man so ganz mit Liebe erzogen wird … Ohne einen Schlag. Nur immer mein Ehrgefühl geweckt und mein Pflichtgefühl; auf mein Herz gewirkt und auf meinen Verstand –

So war mein Vater nicht! unterbrach sie ihn. Der hat mich geschlagen – und wie. So lang’, wie er konnte. Furcht sollt’ ich haben; Furcht! – Ja, mein lieber Herr Rudolf, mir ist’s anders gangen. Ja, hätt’ ich einen Vater gehabt wie Sie – „nur mit Liebe“ … O, das muß göttlich sein!

Ihre Augen gingen zur Decke. Sie waren feucht geworden und hatten einen so rührenden Glanz, daß er’s kaum ertrug. Selbst als Marianne in den „Geschwistern“ hatte sie ihn nicht so gerührt, war sie nicht so lieblich. Er seufzte auf, ohne es zu wissen.

Das muß göttlich sein, wiederholte sie leiser. – Ihr Vater thut also alles, was Sie wünschen?

O nein! antwortete er, in aller Bewegung doch ein wenig lächelnd. Wie können Sie nur denken … Er hat ja immer gewußt, was er mit mir will; und was er gewollt hat, dabei ist er geblieben. Zuletzt hat er aber erreicht, daß ich’s selber wollte. Denn das war ja seine Absicht: mich zu überzeugen

Ja, ja, fiel sie ihm ins Wort; diese Auseinandersetzung ward ihr langweilig, wie es schien. Also ein Mustervater; und ein Mustersohn … Was wollen Sie nun werden? Student?

O ja; aber –

Was wollen Sie studieren?

Das ist eben das Tragikomische: ich weiß es noch nicht. Ich taumle noch so hin und her.

Taumeln! Das ist drollig!

Ich meine: mich zieht dies und das. Kein bestimmter, angeborner Beruf … Sie gingen zum Theater, Sie hatten das Talent; das war selbstverständlich. Mein Vater ging zur Litteratur; das war selbstverständlich. Aber ich – ich hab’ nichts als Träume. Weltverbesserung. Einen reineren Gottesglauben verbreiten (er errötete, daß er davon zu dem Mädchen sprach). Meinen Brüdern, den Menschen, Gutes thun; womöglich etwas Großes … Das alles studiert man aber nicht. Das sind keine „Fächer“. So werd’ ich denn wohl zunächst unter die sogenannten „Philosophen“ gehn und von allerlei etwas –

Da brauchen Sie aber Geld, unterbrach sie ihn wieder. Haben Sie so viel Geld?

Reich ist mein Vater nicht, antwortete Rudolf; aber er hat Geld. Er erwirbt ja auch. Und für seinen einzigen Sohn giebt er alles. Fehlen wird mir nichts.

Thea hatte die Hände auf dem Tisch, sie saß halb auf ihm. Jetzt richtete sie sich auf; ich bin arm! sagte sie lachend. Schulden wie Haare auf dem Kopf! – Sie griff in ihre üppige braune „Perücke“.

Ihr Lachen ging ihm fast mehr ans Herz, als wenn sie über ihre Armut geweint hätte; vor Mitleid stand er ganz verlegen da. Wie dürfen Sie – Sie – arm sein, stotterte er hervor. Ein Wesen wie Sie; ein so geniales –

Ach, hören Sie auf, sagte sie und hielt sich die Ohren zu; gar nicht genial. Nur ein armes Lumperl – das auch seine „Träume“ hat – o ja, mein Herr, so gut wie Sie – es wird aber nichts draus. O ja, hab’ auch meine Träume …

Sie ging zum Fenster und sah in das wilde Schneetreiben hinaus. Wie weiße Wolken stiebte es vorüber; dann war’s wieder, als werde oben ein Mehlsack ausgeschüttelt. Der Wind schlug zuweilen ans Fenster, als ziele er nach Theas Gesicht. Darüber lachte sie wieder auf; es klang aber schrill, ohne Lustigkeit.

Fräulein Thea! fragte er etwas zaghaft, neben sie getreten.

Was sind das für Träume? – Wollen Sie mir’s sagen?

Sie schüttelte den Kopf. Sie blickte ihn aber jetzt wie forschend von der Seite an; als denke sie über ihn nach; als gehe ihr etwas durch den Sinn. Was für ein feines Profil dieser Jüngling hat! sagte sie in ihrer gemütlichen Aufrichtigkeit. Hm! – Also so ein Vater! „Für seinen einzigen Sohn giebt er alles“. Das that meiner nicht! Durchgehn hab’ ich müssen, als ich zum Theater wollte; und ohne einen Kreuzer von ihm. Ja, ja, lieber Herr; – beim Theater heißen sie mich die Durchgängerin; zweimal bin ich auch ausgekniffen. Die Leute sagen: noch öfter; aber das ist nicht wahr! – Das erste Mal lief ich meinem Alten fort, zur Bühne, als blutjunges Ding; allein. Das zweite Mal ein paar Jahre später – als mein Direktor mich knechten, ausbeuten, schinden wollte – und noch sonst allerlei – da ging ich mit einem Andern durch, der mir beistand; vom Theater war er nicht … Na ja. So, nun wissen Sie’s. Das war die einzige große Dummheit meines Lebens … Verachten Sie mich darum?

Wie könnt’ ich Sie je verachten, gab Rudolf zur Antwort, so geschwind er die Worte fand; obwohl ihm ein schmerzhaft eifersüchtiges Gefühl Brust und Kehle drückte. Ueberhaupt – eine Künstlerin! Die lebt ja doch ein andres Leben als die jungen Mädchen. Die soll alles verstehen, nicht wahr. All die Leidenschaften, die die Dichter schildern – und die sie darstellen soll – wie kann sie das, wenn sie nichts erlebt!

Den Kopf auf die Seite legend, sah Thea ihn verwundert an. Schau, schau! sagte sie. So jung und schon so gescheit! – Mein lieber Herr Rudolf, so reden die Andern, die Philister nicht –

Aber ich! warf er mit einem treuherzig stolzen Lächeln hin.

Wie kommen Sie denn zu solcher Einsicht –

Durch meinen Vater, fiel er ihr ins Wort. Wenn er vom Theater sprach … Der denkt sich so hinein, in alles. – Von dem lern’ ich so viel!

Hm! murmelte sie, immer nachdenklicher. Also solch ein Vater … So sieht er aber auch aus; wie ein Künstler und wie ein Professor; sehr interessant. – Der wundert sich also auch nicht, wenn so ein armes Mädel beim Theater – –

Sie sprach’s nicht zu Ende, sie ging ins Zimmer zurück. Er sah ihr mit sonderbar trunkenen, verschleierten Augen nach; ihr lieblich träg wiegender Gang entzückte ihn mehr als das edle Dahinschreiten einer Königin. Ach könnt’ ich ihr helfen, dachte er. Könnt’ ich ihr etwas zuliebe thun. „So ein armes Mädel beim Theater“, sagt sie. O könnt’ ich sie glücklich machen!

Er nahm all seinen Mut zusammen; Fräulein Thea! sagte er, als sie sich wieder in die Sofaccke hingeworfen hatte. Sie nennen mich „gescheit“ – und haben doch kein Vertrauen zu mir. Das ist niederdrückend. – Er lächelte, so gut er konnte. Wenn ich Sie nach Ihren „Träumen“ frage, so schütteln Sie nur den Kopf. Ich möcht’ Ihnen aber trotz meiner Jugend so gern – so gern –

Was? fragte sie, da er stockte. Helfen?

Er nickte. Er zuckte dann die Achseln, wie im Gefühl seiner Schwäche. – Alles! stieß er heraus. Alles, was ich kann!

Ein Blick fuhr ihr aus den Augen, ein verwunderter, der ihm durch und durch ging. Ihre Stirn bewegte sich, als dächte

[504]

Auf dem Pilatus: Rundblick vom „Esel.“
Nach dem Leben gezeichnet von P. Bauer.

[505] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [506] die ihren Gedanken mit; – dann ward aber ihr rundliches Gesicht wieder still, als hätte es weder geblickt noch gedacht. Sie sind ein „lieber Schneck“, wie man bei uns sagt, fing sie harmlos drollig an, recht tief in die Ecke gelehnt. Also Sie wollen durchaus meine „Träume“ wissen … Ja, mein neugieriger Herr, so ideal, so menschenliebend wie Ihre, das sind sie nicht. Erstens will ich also nach Capri – oder irgendwo da herum. Am Mittelländischen Meer muß es sein! Da will ich mich auf den Felsen räkeln – und zwölf- oder zwanzigmal zu mir sagen: Thea, du bist frei! Thea, du hast keinen Direktor! keinen Regisseur! Thea, du bist glücklich!

Ganz allein wollen Sie das –?

Sie schüttelte den Kopf. Sie machte ein so heiter süßes Gesicht, daß er für sein armes Herz keinen Platz mehr hatte. Wie kann man so fragen, sagte sie. Allein – das wär’ ja der Tod! Nein – mit noch einem Menschen. Der es ebenso meint wie ich!

Muß es eine Frau sein? fragte er, ein leichtes Lächeln erzwingend.

Es darf auch ein Mann sein, antwortete sie; ihre Rehaugen lachten. Meinetwegen auch jung; das thut nichts. Aber ein Herz muß er haben; und zwar grad’ für mich. Und er muß denken wie ich: jetzt sind nur wir zwei auf der Welt! Freiheit, Freiheit, Freiheit!

Sie warf ihre Arme seitwärts in die Luft, als spannte sie Flügel aus.

O wie Sie sich nach Freiheit sehnen! sagte Rudolf, der in Mitleid und Liebe zerschmolz. Gewiß ein schöner Traum … Ich möcht’ ihn mitträumen; ich – – Aber was wird dann? – Verzeihn Sie mir die dumme Frage. – Sie können doch nicht jahrelang so auf dem Felsen sitzen –

O nein, fiel sie ihm ins Wort, ganz ernst. So bin ich ja nicht. Ich bin ja eigentlich ein sehr solides Geschöpf! Wenn ich das Gefühl der Freiheit ausgenossen hab’ – wenn ich meinen Sklavenhändlern aus der Ferne geflucht und lange Nasen gemacht und verziehen hab’ – aber das alles muß ich erst, gelt? – Ja, das sieht er ein. Also wenn wir uns an der Freiheit satt gegessen haben – dann gehn wir nach „Europa“, das heißt: zur Pflicht, zum Beruf, zurück. Und weil wir noch Geld haben – denn ohne das geht’s nicht, ohne Geld kein „Traum“! – so lassen wir die junge Künstlerin Thea Schüler noch zwei Jahre ganz, ganz still bei den großen Meistern studieren, damit auch aus ihr eine Meisterin wird; denn jetzt wird sie nichts. Sie ist halt einfach vom Vater weg zur Bühne gelaufen – wissen Sie – und hat zu viel Unsinn im Kopf gehabt; war halt ein dummes Ding. Sie muß erst ordentlich arbeiten lernen; arrrbeiten, wie Der sagt. Und den großen Stil lernen – oder die große Natur – ach, das ist dasselbe. Und wenn sie das alles gelernt hat, dann in Gottes Namen zur „heiligen“ Kunst zurück!

Gelt, das ist kein dummer Traum? setzte sie nach einer Weile hinzu, da Rudolf nichts sagte.

Der gute Junge atmete tief. Es ward ihm so schwer, wieder zu sprechen. – Und der – und das – – o Fräulein Thea! Das sollte nicht Wirklichkeit werden?

Nie! seufzte sie. Wie sollt’ er das? Ohne einen zweiten Menschen nicht; und wo findet man den? – Die wollen ja alle nur ein bissel lustig sein mit der „fidelen Thea“. Ein paar Flaschen Sekt, o ja – oder Schlittenfahren – auch Bouquets werfen – Bogenlaufen – etcetera etcetera. Damit ist’s aus!

Ich bin nicht so, Fräulein, sagte Rudolf so leise, daß sie ihn kaum verstand. Er war blaß, seine Augen hatten aber etwas Glühendes. Glauben Sie mir, ich – –

Seine Stimme begann plötzlich und heftig zu beben; er kämpfte aber solange, bis wenigstens Kehle und Lippen wieder Ruhe hatten. Ich möchte für meine Mitmenschen – wie ich Ihnen sagte – – Ach, wenn ich nur für einen, aber einen herrlichen, himmlischen, etwas Großes thäte, das wär’ ja genug! – Verzeihen Sie – „etwas Großes“ sag’ ich. Wie prahlerisch. Welcher Unsinn. Ich wollte nur sagen: Fräulein Thea, für Sie könnt’ ich jedes, jedes Opfer bringen. Damit Ihr Traum Wahrheit wird. Wollen Sie? Wenn nun ich –?

Wenn Sie was?

Wenn ich dieser „zweite Mensch“ wäre – nähmen Sie ihn an?

Ach Sie! warf sie hin, als wär’s nur ein Scherz von ihm. Sie sollen ja studieren –

Sollen – ein Sollen ist’s nicht. Für eine edle Sache leben – das soll ich. Wenn ich nun ganz für Sie leben wollte, nähmen Sie das an?

Lieber guter Mensch! sagte sie gerührt; es klang ihm wie Musik. Wie können Sie so reden. Sie sind neunzehn alt, nicht wahr –

Noch nicht ganz.

Also zwei Jahre jünger als ich!

Was bedeutet das? Was liegt daran? Wenn die Herzen nur – –

Sie war aufgestanden; um Gotteswillen! rief sie jetzt, als wäre sie sehr erschrocken, und trat ein paar Schritte zurück. Reden Sie nit mehr! Ich halt’s nimmer aus. Wenn Ihr Vater das alles hörte – wofür hielt’ mich der. Nein, nein, nein … Gehn Sie, eh’ Sie sich um Hals und Kopf reden. Ich geb’ Ihnen keine Antwort mehr. Heut nicht. Guten Tag!

Ja, ja, sagte er mit blitzschnellem Entschluß; ja, ja, Thea, ich gehe. „Wenn mein Vater das alles hörte“ … Ja, er soll es hören! – Ich komm’ wieder, Thea. Sie sollen ihn erleben, Ihren Traum. Sie sollen in die Freiheit. Ach, und wenn Sie jetzt auch lächeln – wehmütig – es wird doch. Es muß. Es wird! Bis auf Wiedersehn!

Seine Worte überstürzten sich. Er grüßte nur noch mit der Hand, mit den Augen, dann war er aus der Thür.

[517]
7.

Volkmar lag am Nachmittag auf seiner Chaiselongue; er hatte, wie er es gewohnt war, fast eine Stunde geschlafen, dann aber schon eine geraume Zeit mit wachen Sinnen dies und das durchdacht. Es war aber eine seiner Eigenheiten – woher kommen sie? wie entstehen sie? – daß er nach dem Erwachen die Augen oft noch lange geschlossen hielt, bis irgend ein unbewußter Reiz sie öffnete; dann erst fiel ihm ein: ich wache ja schon lange! – Es erging ihm auch heute so. Als er die Lider endlich hob und in das sinkende, dämmernde Licht sah, erschrak er fast: wenige Schritte von ihm stand sein Sohn, bei der Hängelampe am Tisch. Die jungen Augen waren auf ihn geheftet; sonderbar gespannt leuchteten sie aus dem farblos bleichen Gesicht. Es war, als stünd' er schon lange so. Was ist –? fragte Volkmar.

[518] Verzeih, lieber Vater! sagte Rudolf langsam. Ich sehnte mich so sehr … Aber natürlich wollt’ ich Dich nicht stören; bin ganz leise hereingeschlichen – die Thür war nur angelehnt – und hab’ gehorcht, ob Du noch schläfst. Mir schien’s so, als wachtest Du schon. Ich wußt’ es aber nicht gewiß.

Ja, ich wachte schon, erwiderte Volkmar. Was hat’s gegeben, mein Junge? Du kamst nicht zu Tisch –

Das wollt’ ich Dir zunächst erklären, Vater; mich entschul­­digen. Mir ging so was – ganz Besonderes im Kopf herum; ich hätt’ nicht so ruhig dasitzen können neben Tante Sophie und Dir. Ich mußt’ es auch erst zu Ende denken … Da bin ich zu den Tannen und zum Jäger hinausgelaufen –

In dem Schneetreiben?

Es war nicht mehr so schlimm. Und wenn’s auch noch so gewesen wäre – mir war’s grade recht. In mir trieb und jagte es auch; aber so wunderbar –!

Er lächelte und hob die Augen.

Junge! sagte Volkmar, sich aufrichtend. Wie siehst Du aus. Furchtbar blaß –

Das thut nichts, lieber Vater. Mir ist sehr – sehr gut. Beim Jäger haben sie mir ein paar Eier gekocht; ’s war auch Schinken da. Dann stürmte ich wieder in die Stadt, zur Schule; noch zur rechten Zeit. Und nun –

Er zauderte, er stockte. Er hatte etwas in den Augen, das dem Vater auf die Nerven ging.

Was willst Du mir sagen? fragte Volkmar.

Bitte, sag Du mir erst … Wär’ Dir’s recht, Vater, wenn ich mir einen andern Beruf wählte, weil’s mich dazu treibt? – Das heißt, was hab’ ich denn? Ich hab’ ja noch keinen Beruf. Ich will nur so zur Universität gehen und herumversuchen. Ich gelte für besonders begabt, so im allgemeinen; vielleicht bin ich’s gar nicht. Und jeder soll thun, nicht wahr, wozu es ihn im Innersten treibt –

Wozu treibt es Dich?

Glücklich zu machen, Vater. Etwas wahrhaft Gutes zu thun –

Wem?

Bitte, hör’ mich ruhig an. Ich fühle – ich fühle so tief, daß es das Rechte ist. Einem genialen Menschenkind, das aber wie gefangen ist – das hoch, hoch empor will, aber sich allein nicht helfen kann – dem mit allen Kräften helfen, Vater!

Thea Schüler! dachte Volkmar plötzlich; es ging wie ein Schlag durch ihn hin. – Er verlor aber die Fassung nicht. Was wär’ das für ein Menschenkind? fragte er mit äußerer Ruhe.

Nicht erschrecken, Vater. Thea. – Ja, ich weiß, was Du denkst: verliebt! – Glaub’ mir, von dem kommt’s nicht. Bei meinem Gott, dem ich meine Seele – – bei meiner Liebe zu Dir – ich will nur meine Pflicht thun, Vater; denn ich hab’ die Ueberzeugung: das ist meine Pflicht! Ich will ihr mein sogenanntes Lebensglück zum Opfer bringen, um sie zu erretten. O hätt’st Du sie auch gesehen und gehört, als ich heut bei ihr war … Es ist so viel Unglück in ihr – aber auch ein so hohes Streben. Sie sitzt wie im Käfig. Wenn jemand kommt und ihr aufmacht, so kann sie emporfliegen – etwas Großes werden, etwas Herrliches – für die Menschen, Vater – und auch für den Einen. Und er hat dann seine Pflicht gethan … Steh mir bei, lieber Vater! Du bist so still; Du sagst mir nichts; Du schaust mich nur an. Laß mich Thea helfen!

Volkmar starrte auf seinen Sohn, dem nun endlich die bleichen Wangen etwas röter wurden, und dann in die Luft. Ja, dachte er, indem es ihn überlief – so geht’s den Vätern! Es kommt über jeden; so oder so. Ueber diesen schwärmerischen Sohn kommt ein solcher Unsinn … Nur nicht die Ruhe verlieren. Nicht wild werden; nicht mit Gewalt … Mein Gott, wie ein Rausch, wie ein Wahnsinn sieht’s ihm aus den Augen. Um wen? Um solch ein Geschöpf!

Vater! wiederholte Rudolf jetzt. Steh mir bei! Ich kam mit solcher Hoffnung zu Dir. Laß mich Thea helfen!

Wie wolltest Du ihr denn helfen? fragte Volkmar und stand auf.

Wie? – Sie von diesem Theater wegnehmen –

Du?

Bitte, hör’ mich noch ’ne Weile an! – Denk’, sie würde auch Dein Kind – Deine künftige Tochter, mein’ ich – Deine Schwiegertochter. Wir heiraten natürlich erst nach Jahren, Vater … Du reistest vielleicht mit uns – sie und mich zu bilden – einen besseren Bildner und Lehrer als Dich gäb’s ja nicht für uns. Dann ginge sie zu einem großen Meister ihrer Kunst – und nicht eher wieder zur Bühne, als bis sie von allen Besten das Beste gelernt hätte –

Und Du?

Ich würf’ mich auf irgend was, das mich in ein paar Jahren so weit brächte, mich zu ernähren, und wenn’s noch not thät’, auch sie!

Und wovon lebtet ihr bis dahin?

Ich rechnete auf Deine Güte, Vater. Nein, auf Deine Liebe. Soll ich das nicht mehr? – Es ist ja auch eine Summe da, die ihr mir nach und nach geschenkt habt – zuerst noch meine Mutter – dann Du. Wohl an viertausend Mark. Wenn Du mir die während dieser ersten Jahre – neben meinem „Wechsel“ –

Viertausend Mark! Guter Junge! Was sind viertausend Mark für so Eine wie Die!

Vater! rief Rudolf aus.

Volkmar faßte sich wieder; die Erregung hatte ihn fortgerissen. Er ging geflissentlich langsam durchs Zimmer, um die beiden Tische herum, die in der Mitte standen. Als er wieder zu Rudolf kam, legte er ihm eine Hand auf die Schulter; Rudolf zuckte leise. Wir wollen das in Ruhe besprechen, sagte er; und wie Freund und Freund. Nur daß ich der ältere bin, mehr Erfahrung habe – und keinen Spektakel hier in der Brust. Thea Schüler! – Nehmen wir einmal an, sie hätte viel Talent. Nehmen wir auch an, sie hätte auch Ehrgeiz und Charakterkraft genug, um an sich zu arbeiten, bis sie fertig ist. Aber Du weißt doch wohl – – zum mindesten gilt sie für eine „leichte Person“. Für die „Freundin“ des Herrn von Fellenberg – und wer weiß, wessen sonst noch. Kurz, mir deucht, mein geliebter Junge, zur Schwiegertochter taugt sie nicht!

Rudolf war heftig errötet; als thäte er’s für Thea, als dächte er, sie stände dort neben ihm. Vater! sagte er nun, mit etwas bebender Stimme. Sie „gilt“ dafür … Wie oft hast Du selbst gesagt: Niemand wird so tüchtig verleumdet wie Die vom Theater! Die leben eben herzhaft drauf los, kümmern sich nicht viel um den Schein und um das Kopfschütteln der Philister! – – Aber freilich – hier übergoß ihn eine neue Röte – wie die wohlerzogenen Mädchen, ganz so ist sie nicht. Sie hat mir ja selber gesagt – rührend offen, Vater – daß in ihrem Leben „eine große Dummheit ist“ … Gott weiß, daß ich wollte, sie wär’ nicht darin! Als ich draußen in den Tannen ging, mir war plötzlich so, als müßt’ ich mich in den Schnee werfen und nicht wieder aufstehn … Aber das war schwächlich. Künstlerinnen wie Thea, darf man denn die mit der Bürger-Elle messen? Haben sie nicht auch wie die Studenten eine Art von Vorrecht? Sind sie nicht wie Studenten? Und wenn sie das Eine durch ein großes Leben wieder gutmachen will, soll man ihr nicht helfen und sie nicht erretten?

Ist Herr von Fellenberg ihre „große Dummheit“? fragte Volkmar.

O nein. Die war früher. Alles andre, was man sagt, von dem glaub’ ich nichts. Denn sie selber sagt: „es war die einzige“ … Und die ist zu stolz, um zu lügen, Vater!

Mag sein, Rudolf; aber vielleicht sind ihr all die andern kleinen Romane keine „Dummheiten“. – Doch nehmen wir einmal an, Du hättest recht, und die Leute verleumdeten sie. Was ist Thea dann? Eine hübsche, lustige, auch anmutige kleine Schauspielerin, mit etwas Leichtsinn, etwas mehr Talent und noch mehr – Gemütlichkeit; die daher das, was man erarbeiten muß, nie erreichen kann; und die ein sehr viel besserer Mensch durch ein riesiges Vergrößerungsglas betrachtet – und der das thut, ist mein Sohn! – Rudolf! Herzenssohn! An so ein Mädel Dein Leben hängen! – Ich will jetzt von Deinen neunzehn Jahren nicht reden – noch nicht einmal neunzehn sind’s – und daß Du nichts bist, nichts kannst –

Weiß ich denn das nicht, Vater? rief Rudolf mit schmerzhafter, erregter, hoher Stimme aus. Nur um ihr helfen zu können, will ich ja –

Willst Du Dein junges Leben an das ihre ketten!

Weil sie es wert ist, Vater! Weil sie – – Du bist doch sonst nicht wie die Andern, Vater. Aber jetzt – Du kennst sie nicht – Du hast sie ein einzig Mal spielen sehn – aber ruhig [519] sagst Du: die ist nichts, die wird nichts. Ein kleines, unbedeutendes, charakterloses, faules ... Du weißt alles. Vater –!

Nun ja, sagte Volkmar, so ganz umsonst hab’ ich wohl nicht gelebt, ich seh’ mehr als Du. Ob jemand etwas mehr oder etwas weniger klein ist, dazu braucht’s wohl längeres Hinschauen; aber ob einer etwas wahrhaft Großes ist ober nicht, das fliegt in die Augen – wenn man sie groß aufmachen gelernt hat. Rudolf Volkmar aber, der noch vor dem mündlichen Schulexamen steht, will nach einer Plauderstunde – wie sagtest Du – „sein Lebensglück zum Opfer bringen, um diese Thea zu retten“! – Junge! Du, der Schwärmer für alles Edle und Große – dem kaum die Menschheit groß genug war, unn sich ihr zu opfern – der „in seinem Gott“ lebte – der schon als Knabe so oft in seinem Tagebuch – – da liegt’s noch. Ich hab’ noch gestern wieder drin gelesen. Und die Stellen, die mir am besten gefielen, hab’ ich rot angemerkt – so wie die andern, die „verliebten“, blau. Denn Dein Tagebuch macht Dir auch Ehre, Rudolf. Ich kenn’ keinen jungen Menschen, der so früh und mit so warmem Herzen seinen Idealen, seinem Gott – – Lies zum Beispiel das!

Er nahm das Buch vom Bildermappentisch und blätterte, bis er die erste rot angezeichnete Stelle fand. Da warst Du etwa fünfzehn Jahr’ und ein halbes; hattest wieder den „himmlischen Don Carlos“ Deines „großen Schiller“ gelesen. „O, dieser edle Marquis Posa“ – – Bitte, lies. Aber laut. Daß wir’s beide hören!

Aber, Vater –

Nur zu!

„O dieser edle Marquis Posa“, begann Rudolf mit klangloser, unlustiger Stimme, „er hat mich mit seinen freien, großen Ideen zu einem neuen Feuer angefacht, Freiheit der Gedanken, reinen Gottglauben zu verbreiten, zu meinem Lebenszweck zu machen!“

Ein etwas verunglückter Satz, sagte Volkmar. Das thut nichts. Bitte, da unten auf der nächsten Seite!

„Ja, wie es auch werde, Großes, Edles, Freies will ich thun in meinem Leben, will immer Gott in meinem Busen wohnen lassen und immer thun, was er gebietet!“ – Nun ja, Vater – das will ich auch jetzt. Ich glaube, ich fühle, daß er mir’s gebietet –

Und hier! sagte Volkmar, der ihm das Vuch aus der Hand genommen und mit seinen geschwinden Fingern wieder geblättert hatte. Etwas später; nicht viel. Als Du Marie noch liebtest ... Da lies!

Warum, Vater? – Laß; ich mag nicht –

Nun, so les’ ich! – „Der heutige Tag war schön, aber wieder habe ich ihn für mich hingebracht, nicht für meine Brüder! O wenn doch endlich ein Funke in meine Seele fiele, der zu schaffen gäbe, schaffen will ich!!!“ – Dann ein paar Seiten später: „Auch habe ich Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ wieder gelesen, das mir viel zu denken giebt. – – – Wer Gott hat, ist nie allein, und niemals kann Unglück den beugen, der Gott im wahren Sinne kennt! der Gott vertraut, in ihm das höchste Gut besitzt und sein Gebot erkannt hat: Schmerzen und Leiden sollen Dich läutern und zu Gott erheben aber unglücklich sollst Du nicht sein, um Gottes und der Menschen, Deiner Brüder willen!“ – Für einen Fünfzehnjährigen keine üblen Gedanken, Rudolf. Und dies hier, zwei Seiten weiter, das gehört dazu. „Mein kurzes Gebet, das ich jetzt oft vor mich hinspreche, und mit dem ich alles Schlechte und Gemeine von mir banne, heißt: Mein Gott, ich bin bei Dir!“

Rudolf, der sich gesetzt hatte, wand sich unruhig auf seinem Stuhl. Aber wozu soll ich das hören, Vater, sagte er mit einem Anflug von bitterem Lächeln. Bin ich denn nicht mehr bei Gott? Hab’ ich Gott verlassen? – Wie wenn ich jetzt „Schlechtes und Gemeines“ wollte –

Nein, das nicht. Das wirst Du nie. Aber Unsinniges!

So sagst Du. Und damit gut! – Du weißt, wie hoch ich Dich ehre, Vater – Dich und Deine Gedanken – aber irren kann jeder; Du auch! – „Für meine Brüder schaffen“ – für die Menschheit leben ... Ja, so hab’ ich als Knabe geträumt. Da dacht’ ich noch Wunder, was ich wäre. Wie viele überschätzen sich; ich hab’s auch gethan. Jetzt sag’ ich mir: wer bin ich denn? Wo sind meine großen Geistesgaben, meine Talente, mein hoher Beruf? Ich irre so herum. Was hab’ ich vor den andern voraus? Nichts als etwas höheres Streben – auch wohl mehr wirkliche Menschenliebe ... Die will ich ja auch bewähren, Vater. Nicht an Allen, wie ich in meinem kindlichen Größenwahn dachte, sondern zunächst nur an einem Menschen – aber da auch ganz! mit dem ganzen Herzen!

Ja, ja, sagte Volkmar und nickte, das ist Menschenart. Weil jetzt dieser eine Gedanke Dich hat, so machst Du Dich mit Gewalt kleiner, als Du bist!

Woher weißt Du das? Du weißt so viel – aber für Deinen Sohn bist Du doch wohl auch etwas vaterblind! – Du hast mir immer so hohe Gedanken gegeben, hohe Ziele vor mich hingestellt; dadurch kam’s wohl auch, daß ich eine so hohe Meinung von mir kriegte – und Du, Vater, auch. Weil Du es wünschtest, und weil ich Dir nachsprach, darum glaubtest Du’s ... Aber was in meinem Herzen gut ist, das vergeht ja nicht! Und mit „meinem Gott“ bin ich so einig wie je. Du hast mich zur Freiheit erzogen, wie Du neulich sagtest; daß ich meine eigenen Gedanken, meinen eigenen Sinn haben soll, nach dem innersten Fühlen und Bedürfen leben soll, das in mich gelegt ist. Vater, das thu’ ich ja heut! Wie mein Gott mir’s gebietet! Laß mich doch! Wehr’ mir’s nicht!

Wie er seine Sache zu führen weiß, dachte Volkmar zwischen Bangen und Freude. Die Geistesgaben, die er sich abspricht, fehlen thun sie noch nicht! – Er fühlte aber stärker und stärker, so daß es ihn beklemmte: mit dem werd’ ich durch Worte nicht fertig. Durch Neinsagen auch nicht. Was hat sie ihm angethan? Wie ist ihm das so mitten in das Herz gegangen? Wie ist da zu helfen?

Du antwortest mir schon gar nicht mehr, sagte Rudolf endlich – er war wieder aufgestanden – nach einem langen, schmerzlichen Atemzug. Nur Deine Augenbrauen spielen so – wie ich’s an Dir kenne – so unzufrieden; als verwürfst Du alles, was ich sage. Dann nur noch drei Worte, Vater! Ermüden und belästigen will ich Dich ja nicht. Wenn ich ähnlich bin wie Du – ich, Dein Sohn – das wird Dich doch nicht wundern! Du selber, Du hattest immer Deinen eigenen Sinn; hast von frühen Jahren an ganz nach Deinem Kopf, nach Deiner „inneren Stimme“ gelebt; das weiß ich nicht nur von Dir, auch von Andern. Nun, Dir hat es nicht geschadet, nicht wahr ... Ich hab’s von Dir geerbt. Ich hab’ auch so ein Muß in mir, das dann sagt: ich will! Und wenn ich auch vielleicht weicher bin als Du – aufgeben kann ich das nicht, was in mir so spricht, so laut, – wie mit Gottes Stimme. Ich hatte gedacht, Du, mein Vater, mein Vorbild, Du, von dem ich das erbte, Du wirst mich sogleich verstehn; wirst mit Deiner himmlischen Liebe – – aber Deine Augen bleiben starr und stumm. Gut. Verstoß mich, Vater! Jag mich in die Welt hinaus! Vielleicht bricht mir das Herz dabei, ich weiß es nicht; aber das, was ich –

Ach, Du dummer Junge, unterbrach ihn Volkmar, dem wieder todblassen Jüngling etwas näher tretend. Wie wird Dein Vater das thun; brauch’ nicht solche Worte. Da bist Du wieder der kleine Bub, der, wenn die Mutter oder ich ihm seinen Willen nicht thaten, manchmal trotzig schmollte: „dann will ich weit, weit fort!“ – Damals „zischte“ Dir auch schon das Herz, wie Du’s einmal nanntest, als Du an Deine erste Liebe dachtest; die Dir „in den Kopf gedreht“ hatte, wie Du nach Deiner eigenen Grammatik sagtest. – Kennst Du Deinen Vater noch nicht? Wird Dich der verstoßen?

Was wirst Du denn thun? fragte Rudolf, auf Volkmars verschlossenem Gesicht herumforschend.

Was ich thun werde? – Ich – –

Ein jäher, überraschender Gedanke war in Volkmar aufgestiegen; ein verwegener; aber vielleicht der rechte in so ernstem Fall. Er hielt inne, um ihn geschwind zu betrachten; er legte ihn sich gleichsam auf die Hand, wie eine Goldmünze: ist sie echt? kann man das dafür kaufen, was man haben will? – Ja, dachte er, für ein Herz wie das meines Jungen ist es wohl das Rechte. Für diesen Vater und diesen Sohn!

Ich will Dir sagen, was ich thun werde, nahm er wieder das Wort; hab nur noch einen Augenblick Geduld. Selbstverständlich denk’ ich, daß Du noch nicht den Wahnsinn hattest, Dich mit ihr zu verloben. –

Nein, Vater, warf Rudolf dazwischen. Hieltst Du das für möglich? – Sie sagte mir selbst: „reden Sie nicht mehr!“ Und ich – vor meiner Seele stand’st Du: mit dem Vater reden –

Nun, das hast Du gethan. Und es hat sich gezeigt: wir sind gar nicht einig; so uneinig waren wir noch nie. Es muß aber damit endigen wie immer, daß wir einig werden! – Du hast mich beschuldigt, [522] daß ich über Thea Schüler abgeurteilt habe, ohne sie genügend zu kennen. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Damit fängt die Sache an! Ich lerne sie also besser kennen. Ich besuche sie. Ich, als Rudolf Volkmars Vater. So lange, bis ich sagen kann –

Vater! Das willst Du thun?

Unter einer Bedingung! Daß Du mir eine Woche volle Freiheit giebst. Mit andern Worten: daß Du mir gelobst, eine Woche lang Thea nicht zu sehen; weder hinzugehen, noch ihre Wege zu wandeln, noch zuzuschauen, wenn sie spielt. Ihr auch nicht zu schreiben. Eine Woche ist sie für Dich wie auf dem Mond. Du lebst so lange nur für die Schule und für Dein Examen!

Gewiß, Vater, sagte Rudolf zögernd, etwas unsicher. Wenn Du –

Wenn ich unterdessen mich meiner Aufgabe widme, Thea besser kennenzulernen. Ja, das werd’ ich thun! – Ich hab’ meinen Jungen nie getäuscht, das weißt Du; auch nicht aus Erziehungsjesuiterei. Wie Du Wahrhaftigkeit lernen solltest, hast Du sie empfangen ... Also abgemacht. Ich lese das Buch Thea; mit redlicher Gründlichkeit. Du lies’st Homer und Horaz. Nach einer Woche sprechen wir uns wieder.

Vater! Vater! Du bist –

Statt schwache Worte zu sagen, die ihm nicht genügten, warf Rudolf sich dem Vater an die Brust und umschlang ihn mit aller Kraft seiner Turnerarme. Verzeih! stieß er dann ungelenk heraus. Daß ich einen Augenblick zweifeln konnte ... Du, mein bester Freund!

Abwarten, wie es endet, mein Alter! sagte Volkmar, voll Liebe lächelnd. Wir werden beide thun, was wir können. Nun verlaß mich aber, ich hab’ viele Briefe zu schreiben und auch sonst zu schaffen!

[533]
8.

Sechs Tage später, am nächsten Sonntag, saßen Helene und Toni wieder an ihrem runden Dichtertisch, in dem schwarzbehängten Zimmerchen, ihre „Musenrosse“, wie Toni die Schreibfedern nannte, in der rechten Hand. Auch während der Woche hatten sie nicht ganz gefeiert: an den schulfreien Nachmittagen des Mittwochs und des Sonnabends (damals gab es noch Nachmittagsschule) hatten sie auch ein paar Stunden „getagt“ und den Entwurf des Dramas beendet, die Ausarbeitung des zweiten Aufzugs begonnen. In Toni fehlte aber heute das Feuer, mit dem sie sich am ersten Sonntag die Wangen heißgedichtet hatte. Ehe sie noch zur dritten Scene kamen, fing sie an zu gähnen; sie sah oft zum Fenster hin, auf das alte Giebelhaus [534] drüben („das langweilige!“ dachte sie), oder kaute am Federstiel. Für diesen zweiten Akt hatte sie kein Herz: Arabella kam nicht drin vor; welcher Unsinn! Dagegen lauter Politik, Verschwörung, Pläne; nicht ein Wort von Liebe. Sie blies endlich ein mißvergnügtes „Poh!“ durch die Lippen.

Nein, Toni, so mußt Du nicht sein, sagte Helene, die sich schon eine Weile im Stillen abgeärgert hatte. Wenn man was unternimmt, mein liebes Kind, muß man es auch durchführen; das ist ja doch Ehrensache!

Werd’ Du nur nicht kulig, antwortete Toni. Ja, ich werd’s auch durchführen … Aber diese alten Ekels, die drei Bürgermeister von Brügge, die interessieren mich nicht! „Wollet ein wenig Platz nehmen“ … Und dann reden sie so dumme Sachen. Und wie dann Franz von Sickingen kommt, wird es auch nicht besser. Eine ganze Seite lang setzt er ihnen auseinander, wie sie den Kaiser Max gefangennehmen wollen; – „jetzt habt ihr meine Pläne, nun sprecht, habt ihr etwas dagegen oder seid ihr einverstanden?“

Nun, sagte Helene, darauf antwortet der erste Bürgermeister doch kurz und feurig: „Wir sind bereit, Dir zu folgen, sei es zum Sieg oder zum Tod!“

Aber wo bleibt Thea? Die sitzt in ihrer Garderobe und langweilt sich den ganzen Akt! Ich hab’s gleich gesagt: Arabella muß in diesem Akt mitspielen –

Aber wie kann sie das! rief Helene aus. Sie kann doch nicht von Aachen so ohne weiteres nach Brügge reisen; hat sie einen Grund? Und wer soll sich in Brügge in sie verlieben; das sind ja alles alte Leute –

Ach ja! seufzte Toni. Wir haben zu viel alte Leute im Stück. Auch dieser Franz von Sickingen – ich hatt’ mir gedacht, Donnerwetter, so ein berühmter deutscher Ritter, der wird Leben in die Bude bringen! Aber nun ist der auch schon ein alter Knacker! Denn er hat ja die Kaiserin Maria geliebt, die alte Dam’ mit ihrem erwachsenen Sohn, dem Philipp. Und wegen dieser alten Liebe will er sich an dem Kaiser rächen –

Aber das ist’s ja grade! fiel ihr Helene ins Wort, mit dem Federstiel über den Tisch fahrend. Jetzt kommt ja die Rache! Und in seinem großen Monolog, wenn er nun allein ist, erzählt er, wie es ihm damals gegangen und wie das alles gekommen ist; das wird ja furchtbar interessant! Du mußt nur nicht das Köpfchen gleich so hängen lassen. Im Wallenstein und im Egmont langweilt man sich auch; das haben alle historischen Schauspiele!

Na, dann meinetwegen, seufzte Toni. Dann schick’ aber nun endlich die alten Bürgermeister und die Ratsherren fort, damit Sickingen sich aussprechen kann. Dalli!

Die Kleine hatte dieses polnische Wort irgendwo aufgeschnappt, ohne es zu wissen; statt „Mach’ zu!“ oder „Hurtig!“ sagte sie gerne „Dalli!“

Dabei waren wir ja eben, erwiderte Helene und nahm ihren zweiten Akt – einen blauen Bogen Briefpapier – wieder in die Hand. „Also auf morgen, ihr Herren!“ sagt Sickingen. Die Ratsherren: „Auf morgen!“ Ratsherren exeunt.

Exeunt? Was ist das?

Das heißt: sie gehen ab. Bei Shakespeare in seiner englischen Muttersprache heißt es immer: exeunt.

Herrje, was Du alles weißt! – Also „exeunt“! – Toni schrieb das Wort mit einer gewissen Feierlichkeit und in ihren schönsten Buchstaben hin; ihre herausguckende Zunge schrieb mit.

So! sagte Helene aufmunternd, da sind wir bei der dritten Scene: Sickingen allein! – Ich weiß, was er jetzt zu sagen hat; laß mich mal diktieren, schreib’ nur ruhig mit! – Sie nahm eine finstere, höchst männliche Miene an und begann: „Es muß sein. Er hat es so gewollt. Weiß Gott“ – Nein, „weiß Gott“ ist für so einen Helden doch nicht vornehm genug; „weiß Gott“ laß nur fort! – „Endlich muß ich einmal meine Rache befriedigen. Rache, o, sie wird süß sein“ –

Gott sei Dank, rief Toni aus, jetzt wird’s wieder schneidig!

„Rache, o, sie wird süß sein“ … Hast Du das? – „Welch Leben hab’ ich hinter mir, an Gütern bin ich wohl reich, ich ward’s durch meine eigene Kraft, aber am Herzen bin ich so arm, so arm. Und wer war es, der dies verschuldet hat? Er. Max.“ – Siehst Du, Toni, nun kommt’s!

Ja, sagte Toni, in deren braune Augen wieder Feuer kam, nun geht’s los! – Aber es müssen auch Schlagworte hinein, Helene. Schlagworte haben wir zu wenig!

Ach, das wird schon werden; aber in diesem Monolog paßt sich das doch nicht. Sickingen regt sich ja furchtbar auf, indem er an seine Vergangenheit zurückdenkt; da muß er mehr abgerissen sprechen; manchmal findet er sogar die Worte nicht. Laß mich nur noch weiterdiktieren: „Wie hab’ ich ihn geliebt, wie einen Bruder. Und er erwiderte meine Liebe und innige Freundschaft verband uns bis“ – viele Punkte; er kann nicht weiter – „ja, bis zu dem Tag!“

Bis zu welchem Tag? fragte Toni, auf die Fortsetzung wartend, den Federstiel im Mund.

Das sagt er nicht, antwortete Helene. Mit einer aufgeregten Geberde wirft er das nur so hin – denn er weiß ja auch, was er meint –: „ja, bis zu dem Tag!“ Und dann: „O wenn ich noch daran denke, ich könnte ihn erwürgen mit meinen Händen“ – Hurra! rief Toni, die noch nie eine Fliege getötet hatte: jetzt kommt doch endlich Leben in die Bude! „Ihn erwürgen mit meinen Händen“ … Du, und dann muß er hinzusetzen: „und ich würde nicht zittern!“

Ja, das kann er thun. – Dann weiter! „Als ich Maria meine Liebe gestand“ – Hier bricht er wieder ab; viele Punkte. „Wie war ich selig, als auch diese erwiderte, ich wollte es Max noch nicht sagen, wir wollten das süße Glück noch allein genießen, und als ich ihm mein Herz offenbaren wollte, da“ –

Na? fragte Toni, da Helene verstummt war.

Nach diesen: „da“ kann er nicht gleich weitersprechen; es übermannt ihn, Toni. Er macht nur eine großartige Bewegung mit der Hand – Ja, aber wie’s gewesen ist, muß er dann doch sagen! „Ja“, fängt er wieder an – jetzt laß mich mal machen! – „ja, bevor ich zu ihm reden konnte, teilte er nur seine Verlobung mit Maria mit. War ich bei Sinnen? Träumte ich?“ – Schreib’ das nur hin! Das ist gut!

Helene nickte und schrieb. Er hat aber noch viel zu erzählen, warf sie während des Schreibens hin; darum sollte er recht kurz und abgerissen sprechen. Wie Maria kommt und die beiden Verlobten sich küssen, und wie schlecht dem armen Franz von Sickingen dabei wird; und daß sie nur aus Gehorsam gegen ihren Vater den Prinzen Maximilian genommen hat; und die ohnmächtige Wut in Franz. Und daß nun endlich der Tag der Rache da ist –

Ja, rief Toni mit gehobener Stimme, jetzt ganz in Sickingens Rolle vertieft und ihn zu Ende dichtend: Maximilian, die Stunde ist gekommen, der Rächer naht! – Aber nun muß er doch auch an Maria denken, die er so geliebt hat – er ist ja doch ein guter Mensch –

Na freilich, sagte Helene. Er kann ja dann „zusammenzucken“: „Aber sie, wird sie nicht mit darunter leiden?“ Dann rafft er sich aber wieder auf – weißt Du, wie die Männer sind –: „Nein, nein, ich will nicht weich werden; kalt will ich ihm gegenüberstehn“ –

Oder lieber noch ihm den Rücken wenden! fiel ihr Toni ins Wort. „Und wenn er mich anfleht, will ich ihm stolz den Rücken wenden und sagen: laß ab von diesen Bitten, sie sind vergeblich, Du hast einst mein Lebensglück vernichtet, dies ist die Rache!“ – –

Was hast Du denn? fragte sie, da Helene auf diesen großartigen Schluß des Monologs nichts erwiderte; es war sogar, als hätte sie gar nicht zugehört. Das feine Köpfchen auf die Seite gelegt, schien sie auf etwas andres zu horchen; ihre grauen Augen blickten nach unten, in den Fußboden hinein. Jetzt horchte auch Toni mit. Aus Rudolfs Zimmer, das unter dem ihren lag und in dem es bisher still gewesen war, kam immer heller und lauter lustiger Gesang herauf: ein Studentenlied. Es war Rudolfs Stimme, sie erkannte sie.

Aha! sagte Toni, zu Helene hinüberlächelnd. Darum so abwesend! – Er ist wohl eben nach Hause gekommen. – Er singt aber ziemlich falsch.

Ich liebe ihn! hauchte Helene.

Ich nicht! murmelte Toni. Hör’ doch, wie falsch er singt.

Ach, was thut das. – Es klingt so sonnig, so selig vergnügt. – S–s–süß!

[535] Zuckersüß! spottete Toni, die Augen wie eine Verzückte zusammendrückend. – Nein, wie bist Du komisch. So einen dummen Bengel lieben. Ich kann nur Eine lieben: Thea, die Himmlische!

Ach, mein Kind, das sagst Du wohl. Wenn dann erst die Jahre kommen, wo Du heiraten kannst –

Heiraten? Ich heirat’ nie!

Das weißt Du jetzt schon? und so gewiß?

Ja, das weiß – –

Toni unterbrach sich. Sie dachte ein Weilchen nach, ihren braunen Zopf zwischen die Lippen nehmend. Einen könnt’ ich heiraten, sagte sie dann in tiefem Ernst.

So? Wer wär’ denn das?

Herr von Fellenberg. Weil der mit Thea so gut ist. Dann könnt’ ich mit Thea oft zusammen sein; o Gott! jeden Tag!

Helene verzog ihr Gesicht, um zu lächeln; – auf einmal aber stand es still.

Der Gesang unter ihnen hatte aufgehört, dagegen kam jetzt ein Schrei herauf, ein unbegreiflicher, schrecklicher, der ihr über den Rücken lief. Toni fuhr zusammen. Sie sahen einander an, beide blaß geworden.

Was war das? stammelte Toni. War das Rudolfs Stimme?

Wer denn sonst? flüsterte Helene und horchte. Der Schrei wiederholte sich nicht; es war tiefe Stille. Aber der schauerliche Ton – wie bei einer furchtbaren Ueberraschung – klang ihr noch im Ohr.

Sie stand langsam auf, als müsse sie fort, als müsse sie hinunter. Die Feder fiel ihr aus der Hand und rollte über den Tisch.

Da! flüsterte Toni und zuckte wieder. Unter ihnen gab es einen dumpfen Schlag, als stürze etwas Hartes hin. Ein noch dumpferes, schwächeres Geräusch folgte hinterdrein. Sie blickten sich, über den Tisch hinüber, wieder in die Augen; es überlief sie, diese jungen Kinder, daß sie aus einem gedichteten Drama so auf einmal in dramatische Wirklichkeit gerieten.

Beide sagten nichts. Plötzlich ging Helene stumm zur Thür. Sie öffnete, lief über den Vorplatz und die Treppe hinunter. Toni lief ihr nach.

Sie kamen bis an Rudolfs Thür; dort blieben sie stehen, eng aneinander gedrückt, und horchten wieder. Es rührte sich aber nichts. Es war unheimlich still.

Toni legte ihre blasse Hand auf den Thürdrücker; sie wagte aber weder zu öffnen noch zu klopfen. Was thun wir? flüsterte sie endlich, nur so mit den Lippen.

Statt zu antworten, blickte Helene jetzt mit erschreckendem Gesicht nach der andern Seite. Dort öffnete Volkmar die Thür, die aus seinem Speisezimmer auf den langen Vorplatz führte. Er sah vor sich nieder, mit scheinbar sehr ernstem Gesicht. Langsam ging er dann, wie auf Rudolfs Zimmer zu.

Im nächsten Augenblick huschten die Backfische, wie aufgeschreckte Feldhühner, über die Diele weg und ihre Treppe hinauf. Ohne zurückzuschauen, rannten sie, bis sie oben waren, und in ihren „Musentempel“ zurück. Dort warf sich Toni sogleich in ihren einzigen Lehnstuhl, der am Fenster stand. Sie legte sich eine Hand aufs Herz; es schlug gar so heftig. Du! sagte sie, ohne Stimme. Helene! Was ist denn geschehen?

Ich weiß es nicht, antwortete Helene, die bleich wie eine junge tragische Heldin mitten im Zimmer stand. Woher soll ich’s wissen?

Ich kann nicht mehr! stieß Toni hervor. Ich kann nicht mehr dichten!


9.

Steh’ doch auf! sagte Volkmar zu Rudolf, der neben einem niedergestürzten Stuhl auf dem Boden lag. Mein geliebter Junge! Ich dachte Dir’s leichter zu machen – und vielleicht auch mir - wenn ich Dir die erste Mitteilung von diesem sonderbaren Schicksal schriftlich zugehen ließe. Dann erst wollt’ ich selbst – – Aber es scheint, mein kurzer Brief hat wie eine Art von Blitz gewirkt. Da liegt er – und Du auch!

Verzeih’, sagte Rudolf tonlos, mechanisch, und erhob sich; darauf starrte er den Vater an, mit völlig verstörtem Gesicht. Ich weiß nicht, wie mir das geschehen ist ... Diese theatralischen Hinwerfungen sind mir so zuwider ... Aber als ich das las –

Vater! rief er, es schüttelte ihn plötzlich. Es ist ja unmöglich. Du und Thea! Es ist nicht zu fassen!

Ich begreife, daß Du so sprichst, erwiderte Volkmar nickend. Wer von uns hätte das vor einer Woche gedacht! – – Was wollt’ ich denn, Rudolf, als das Mädchen besser verstehen lernen, das ich allerdings viel zu wenig kannte. Ich dachte nur an Dich; that’s ja nur um Dich! – So ging ich hin; – sie gefiel mir gleich. Ich kam immer wieder – Du wirst’s wohl bemerkt haben –

O ja, murmelte Rudolf, noch bis zur Versteinerung fassungslos, mit erstarrtem Blick. Und es freute mich ... Vater! – Du! Du, mein Vater!

Warum wunderst Du Dich gar so sehr, daß die auch dem Vater Eindruck macht, die dem Sohn gefällt. Ist’s nicht eher natürlich? Sind wir nicht ein Blut? – Es ist mir nur gar so hart, so vor Dir zu stehn; daß meinem geliebtesten Menschen das ins Herz greifen muß, was mich glücklich macht. Bedenk’ aber auch, wie verschieden unsre Rechnung steht! Wenn Du mir Thea opferst, was verlierst Du dann? Einen Jugenbtraum, den Dir das Leben noch zehnmal wiedergeben kann. Wenn ich sie gewinne, so gewinn’ ich ein letztes, ungeahntes, nie wiederkehrendes Glück. Und gewinnst Du nicht auch? Das Gefühl, nach dem Du Dich so oft gesehnt hast, mir all’ Deine Liebe zu zeigen und mich zu beglücken?

Vater, sagte Rubolf, eine Hand an der Stirn, auf den Augen, – ich versteh’ Dich nicht. All Deine Worte schwirren mir im Kopf. Ja, ich versteh’ sie wohl – ich weiß, was sie bedeuten – aber ich fasse sie nicht. O mein Gott, wie gern, wie gern würd’ ich Dich glücklich machen ... Aber so. Ich fass’ es nicht. Es schüttelt mich. Ich weiß nicht, um wen schmerzt es mich, um mich oder um Dich? Wie ein Wirbel ... Mein Vater und Thea!

Volkmars Brauen und Lippen zogen sich ein wenig hinauf, wie zu einem Lächeln. Guter Rudolf! antwortete er, nun muß ich Dir sagen: ich versteh’ Dich nicht. Sie ist Dir etwas so Großes, die Thea; Du willst ihr Dein Leben, Deine Zukunft opfern; warum ist Dir denn so unfaßbar, daß auch ich es will? – Meiner Jahre wegen? Ich bin ein Fünfziger, ja; aber jünger, nicht wahr, als sonst die Fünfziger sind. Hier am Kinn wird’s grau; aber da oben ist noch alles braun und jung – und so auch die Gedanken, die darunter wohnen. Wenn wir in der Schweiz auf Berge klettern, wer von uns hält länger aus? Auf den schwedischen Felseninseln bei Gothenburg, auf Bratten, hinter Longedrag, wenn wir da von Stein zu Stein sprangen, stundenlang an jedem grünen Fleck vorbei, – sprangst Du besser als ich? – Auf den Spazierstock, den Du mir schenktest, hast Du eingraben lassen: „Der alte Junge seinem jungen Alten“. Nun, so macht wohl der junge Alte noch einen Jugendstreich –

Aber, Vater! rief Rudolf aus. Nicht daß Du – – Aber Thea! Thea!

„Freilich: sie ist sehr viel jünger. Aber Künstlerinnen – die leben wie in Kriegsjahren weißt Du, und darum doppelt geschwind. Und dann kennst Du ja diese Thea: wieviel Großes noch in ihr steckt, das nur freigemacht, nur entwickelt sein will. Dafür will ich ja leben, Rubolf. So werden wir uns entgegenwachsen. Wenn Du mir nur sagen kannst – wie ich Dir in dem Brief da schrieb –: „Dir opfre ich sie, Dir geb’ ich sie, werd’ Du ihr Erretter!“

Rudolfs Augen starrten nicht mehr auf den Vater, sie irrten im Zimmer umher; er schüttelte auch leise, aber immer wieder, den Kopf, als verwirre ihn ein unsinniger Traum. Thea! Thea! wiederholte er. Du sprichst von Theas Jugend ... Nein, so meint’ ich’s nicht. Sondern alles, was –

Er scheute sich offenbar vor irgend einem Wort; er brach ab. Mit einer kraftlosen Handbewegung nach des Vaters Brief, der noch am Boden lag, brachte er mühsam heraus: Du schreibst mir da, sie hat Dein Herz gewonnen. Es geht mir nicht in den Kopf ... Liebst Du sie denn wirklich?

Stünd’ ich sonst so vor Dir?

Nein – natürlich nicht. – Ich bin dumm. Wie mit einer Keule vor die Stirn – – Und sie liebt Dich? Thea?

Das sag’ ich nicht; das weiß ich noch nicht. Ich hab’ nur das Gefühl, daß – – daß sie sich nicht besinnen würde, wenn ich ihr meine Hand anböte. Zu ihr davon zu sprechen, eh’ ich mit Dir gesprochen, daran dacht’ ich doch nicht!

Jetzt brach es endlich aus Rudolf hervor. Vater! Aber [538] diese Thea ... „Sie taugt nicht zur Schwiegertochter“, sagtest Du mir neulich. Mit was für Worten aprachst Du von ihr. Jetzt scheu’st Du Dich nicht, ihr Deine Hand – fürs Leben –!

Soll ich denn nicht an sie glauben wie Du? „Eine große Dummheit“ hat sie Dir gebeichtet; alle anderen leugnet sie. Du warst überzeugt, sie sagt Dir die Wahrheit. Bist Du das nicht mehr?

Rudolf zögerte; dann errötete er über dieses Zögern und warf hastig die Worte heraus: Doch, Vater, doch. Warum sollt’ ich nicht ... Aber Du –!

Was bin ich denn anders als Du? – Ein Mensch. Ein Mensch, der nach Glück verlangt. Und der gerne glaubt, wo sein Herz – – Kurz, ich bekenne mich jetzt zu Deiner Meinung. Aber ich sag’ noch einmal, was ich Dir da schrieb: nur mit Deiner Zustimmung will ich glücklich werden. Nur wenn Du die Kraft hast, mir dieses Opfer zu bringen ... Das ist meine Bitte an Dich. Das ist meine Hoffnung!

Still jetzt! flüsterte er, da er klopfen hörte. Er rief Herein; seine Schwester Sophie öffnete die Thür. Es sei Besuch für ihn da; ein Kollege von der Universität.

Also morgen mehr! sagte Volkmar gelassen, als hätte er mit seinem Sohn von ruhigen und guten Dingen gesprochen, und ging mit Sophie hinaus.


10.

Rudolf, sonst einer der besten Schläfer unter seinen Altersgenossen, fand in der Nacht, die diesem Tage folgte, stundenlang keinen Schlaf. Seine Augen brannten; ihm war, als hätte er Feuer im Kopf; die Decke lag ihm schwer auf der Brust, er schob sie weit zurück und atmete tief und laut. Er hatte ein Gefühl, wie wenn er das Atmen verlernt hätte; die Brust that ihm weh von dieser „schweren Kunst“. Endlich ward ihm völlig klar, daß seine Gedanken, wie Kobolde auf ihm sitzend und alpdrückend, ihn nicht atmen ließen. Es traten ihm Thränen in die Augen, er wußte nicht warum; eine unendliche Sehnsucht ergriff ihn, zu seinem Vater zu sprechen ... Der schlief aber; im Hinterhaus. Es war tiefe Nacht. Er sah es auf seiner Uhr, denn er hatte die Lampe wieder angezündet, die Finsternis quälte ihn. Er stieg aus dem Bett. Was thun? – Aus dem großen Kachelofen kam noch etwas Wärme. Sich in seine Decke wickelnd, wie er als Knabe so manches Mal gethan hatte, ging er mit der Lampe zum Schreibtisch, nahm ein Blatt, das auf der Mappe lag, und fing an zu schreiben:

„Mein geliebter Vater! Der Tag ist so hingegangen, wir haben uns gesehen, aber nicht mehr gesprochen; ich meine über das, was mein ruheloses Herz erfüllt. Immer fremde Menschen; Gäste den ganzen Tag ... Ich kann nicht mehr schweigen. Ich muß Dir wenigstens auf dem Papier sagen, wie mir ist. Bitte, hör’ mich an!

Nur mit meiner Zustimmung, hast Du mir geschrieben und gesagt, willst Du „glücklich werden“. O Vater! O glaub’ mir, aus Selbstsucht würd’ ich das nicht hindern wollen, was Dich glücklich macht; ich würde schweigend vergehn ... Ich hab’ mich diesen ganzen Tag behorcht, befühlt. Ich weiß, ich bin nicht so gut, wie ich mir wohl eingebildet habe daß ich werden könnte; aber mir ist, als könnt’ ich Dir jedes Opfer bringen; als liebt’ ich auch Thea schon nicht mehr so leidenschaftlich, so mit ganzem Herzen, seit ich weiß, mein Vater sieht in ihr sein Glück. Du hast mir auch die Stellen aus dem Tagebuch doch nicht umsonst vorgelesen, nein, glaub’ das nicht; auch die „verliebten“ mein’ ich; sie gehen mir heute nach, sie flüstern und lächeln förmlich, ich hör’ sie. Ich lag diese Nacht da und ich dachte mir: ja, so sind deine „Leidenschaften“! so kann auch noch diese vergehen. Thu’ nur nicht so tragisch! Dein Herz wird nicht brechen!

„Aber – – Du, Vater! Du! – – Du wolltest mich heut’ nicht verstehn. Oder was war es sonst? Du, Vater, dieses Mädchen ... Es liegt mir eine entsetzliche Last auf der Brust; eine Gewissensangst. Sie ließ mich im Bett nicht mehr atmen; darum sitz’ ich hier. Du „glaubst nun an Thea wie ich“, hast Du mir gesagt ... O Gott! – Mein Glaube an sie – wenn er nun leichtfertig war. Wenn ich wie ein junger Mensch, so obenhin, ohne viel zu fragen – – Was liegt auch an mir? Wer bin ich? Hatt’ ich viel zu verlieren oder zu gewinnen? Ein Mensch, der nicht recht weiß, was er soll und will ... Aber Du! mein Vater! Du, der mir so hoch steht, über allen Menschen; der wie ein Vorbild ist, im Wirken und im Wesen; – ich finde nur die Worte nicht. Du, in dessen Liebe ich so glücklich bin; – „ach Du mein Vater, daß ich Dich hab’“; – kennst Du diese Verse noch? Das Gedicht, das ich zu Deinem Geburtstag machte, im vorigen Jahr. Es kam mir heut’ in die Hand, unter alten Blättern. Ein holperiges, schlechtes Gedicht, für Deinen Sohn schauderhaft schlecht; aber wahr ist jedes Wort. O, und heute Nacht ist’s so wahr wie je! – Ich muß Dir’s herschreiben, ganz; es verfolgt mich so; es läßt mich nicht schlafen ...

Ach Du mein Vater, daß ich Dich hab’!
Wenn auch die ganze Welt
Heut noch in Trümmer fällt, –
Ich lach’ und pfeif’ darauf
Bleibt nur ein Stückchen, drauf
Du bei mir stehst!

O Stolz, Dein Sohn sein, Dein deutscher Knab’!
Das Schwerste lerne
Ich mutig und gerne,
wenn Du, mein Vater,
Bester Berater,
Nie von mir gehst!

Du bist mein Leitstern, bis an mein Grab!
Dir folg’ ich voller Dank
Das ganze Leben lang,
Dir sag’ ich alles ja
Als meinem Freunde, da
Du mich verstehst!

„Dir sag’ ich alles ja“ ... Darum hatt’ ich auch keine Ruhe im Bett. Ich muß Dir heute Nacht noch sagen, was mir am schwersten wird ... Ich glaube nicht so fest an Theas Tugend, wie ich Dir damals beteuerte. Ach, ich belog Dich nicht, ich bildete mir ein, fest an sie zu glauben; um ihr zu helfen und um sie zu haben, machte ich mich blind. Aber nun, da Du – – O Gott. Mein „Leitstern“, mein „Freund“ – und ich sollte zusehn, wie Du diesem Mädchen, das mit Fellenberg so gut ist, das mit – – Mir schwimmt es vor den Augen; ich sehe kaum, was ich schreibe. Nein, Du darfst nicht, Vater. Lieber möcht’ ich sterben!

O höre auf Deinen Sohn! – – Was für ein Brief ist das, vom Sohn zum Vater; die verkehrte Welt. – Aber mein Gott, was thut das, wenn’s nur das Rechte ist. Ich fühle, es ist das Rechte; mir wird schon ein wenig leichter ums Herz, ich kann wieder atmen, diese gräßliche Angst läßt nach. Vater, liebster Vater, hör’ auf Deinen Sohn! Vor einer Woche – oder vor sechs Tagen – nahmst Du mir das Versprechen ab, eine Woche lang Thea nicht zu sehn. Ich hab’s gehalten. O versprich Du mir auch – verzeih’ mir diese Bitte, Vater – thn vor dem nächsten Sonntag nichts! Gönn’ mir diese Frist! Laß einmal die Welt so verkehrt sein .... Ich will Dich überzeugen, daß Thea für Dich – – daß Du sie nicht heiraten darfst; Du nicht. Wie? Das weiß ich noch nicht. Gott wird mir schon helfen!

„Er wird mir schon helfen! – Als ich noch halb Kind war, zwischen dreizehn und vierzehn, – wenn ich da Abends im Bett das Licht ausblies, dachte ich immer erst an Gott, mit dem kindlichen Vertrauen: nun wird das Licht gleich ausgehn! Und bis auf einmal geschah es auch; während ich früher oft mehrmals blasen mußte. Ich hatte aber doch schon von Dir „philosophieren“ gelernt; und so lag ich und überlegte bei mir: ‚Ob wohl Wunder geschehen können? Ich glaube, es ist so, daß, wenn man Gott fest vertraut, Gott in uns vollbringt, daß wir es richtig machen; daß wir durch eine gewisse höhere Begeisterung, ein unbestimmtes Etwas, unsere Kräfte richtig konzentrieren; und so läuft es doch darauf hinaus, daß ein festes Gottvertrauen sehr viel vermag!‘ – Ja, so will ich auch heute denken – wenn ich auch kein Kind mehr bin. Ich richte all meine Liebe, all meinen Willen, all meine Kraft auf Dich; und das wirst Du spüren – und der Vater wird thun, was der Sohn so mit allen Kräften seines Herzens bittet. Und mir wird ein Gedanke kommen, ein „rettender“. Vater, gute Nacht! – –

„Diese letzten Worte schreibe ich im Bett. Mit dem allerletzten blas’ ich das Licht aus.       Dein Rudolf.“

[549]
11.

Auf den Wetterumschlag war ein zäher Kampf zwischen Nachtfrösten und auftauender Tagessonne gefolgt; endlich aber brach wirkliches Schmelzwetter mit stundenlangen Regengüssen herein, und die immer wieder gehärtete Eisdecke auf dem Fluß, zu einem schauderhaften Gemisch von Schlamm und Schnee, Schmutz und Neufrost geworden, verlor ihre Festigkeit. Die Schiffe lagen noch still, aber man brach eine offene Rinne für die Dampffähre, die zwischen den beiden Ufern fuhr und nun Monate lang im Eis geruht hatte. Am nächsten Sonntag wanderte sie zum ersten Mal wieder hin und her, durch den noch gefrorenen Fluß; von ferne gesehen wie ein Riesenschlitten, der langsam über die Eisfläche [550] ging, Noch am späten Abend schlenderte Volkmar auf wenige Minuten zum Hafen hinunter: er sehnte sich, das Wasser wieder rauschen und rieseln zu hören, und es war ihm wie eine Art Musik, wenn die kleinen Wellen der Fahrrinne in der dunklen Nacht an den zertrümmerten Schollen spielten. Dazu zauberte ihm der schwüle Wind schon Frühlingsträume ins Herz; freilich sehr verfrühte: man schrieb erst den sechzehnten Februar. In drei Tagen der neunzehnte, ein Entscheidungstag: das mündliche Examen …

Volkmar ging nach Hause zurück; Rudolf war nicht dort, auch beim Abendessen hatte er gefehlt: einige Freunde hatten ihn zu einem kleinen „Gelage mit Hausschlüssel“ abgeholt. Der vereinsamte Vater las lange in seinem Zimmer, die Schwester war zu Bett gegangen; endlich, da es zwölf geschlagen hatte, die Gedanken ihm aber noch keine Ruhe ließen, so that er, was ihm zuweilen ein eigenes Wohlgefühl, einen träumerischen, wechselnden Doppelzustand gab: er versenkte sich in einen Lehnstuhl, schloß die halbmüden Augen und ließ die Bilder, die Gefühle in seinem Hirn ziehen, wie sie wollten. Von Zeit zu Zeit schlief er darüber ein, ohne es zu merken; bald wieder erwacht, genoß er noch das Nachgefühl des von irgend einem Traum umgaukelten Schlafs, und lag doch auch so recht wie im Schooße des Lebens da. Draußen sang der Wind an den Fenstern, und spielte auf seinen Drehorgeln, den Wetterfahnen. Die geöffneten Augen sogen das milde, gelbe Licht der Hängelampe ein, als gehe von dieser kleinen Sonne das Leben aus, das den Körper so wohlig wärmte. Dann sanken sie wieder zu, und die Gedanken flossen langsam, wie Schifflein auf einem Strom, in den Schlaf hinab.

So war er von neuem eingenickt; plötzlich erwachte er und rührte sich, wie von irgend etwas aufgeschreckt. Er saß aufrecht und horchte. Nebenan im Speisezimmer stieß, wie es schien, ein Stuhl gegen den großen Tisch. Gleich darauf klirrte etwas; auf der Kredenz oder irgendwo. Wer ist da? rief Volkmar. Er wartete einige Augenblicke; es kam keine Antwort.

Geschwind war er an der Thür, öffnete sie und trat hinein. Im Speisezimmer war tiefes Dunkel. Wer ist da? fragte er wieder.

Verzeih, Vater, antwortete eine bekannte Stimme, aber jetzt mit schwerer Zunge. Ich bin’s! – Ich hatte nur sehen wollen, ob Du noch auf bist – und durch Dein Schlüsselloch sah ich Licht –

Junge, was hast Du? fragte Volkmar. Du sprichst ja, wie wenn –

Ja, es ist auch so, sagte Rudolf. Ich hab’ etwas zu viel – – Aber das thut nichts, Vater: es war für einen guten Zweck! O, wenn ich Dir erst sage – – Mir wird übrigens nur das Sprechen schwer; der Geist ist ganz klar. Es war eine heftige Kneiperei; dieser Fellenberg – –

Vater! rief er mit einem neuen Anlauf. Kann ich Dich noch sprechen?

Komm nur herein, sagte Volkmar. Rudolf stand noch immer an der Kredenz, an sie angelehnt. Mit etwas unsicherem Gang trat er in des Vaters Arbeitszimmer ein; in der offenen Thür blieb er stehen, als fühle er sich dort am Pfosten in erwünschtem Schutz. Das Licht der Hängelampe beschien sein sonderbar lächelndes, an den Wangen gerötetes Gesicht; die Haare wirrten sich zum Teil in die Stirn hinein; die Augen, auf den Vater geheftet, suchten ihn offenbar innig anzublicken, es lag aber eine gedunsene Röte wie ein Hindernis um sie her. Nur nicht erschrecken, lieber Vater, sagte er und blies den hörbar eingesogenen Atem durch die Lippen fort. Ich bin wohl kein angenehmer Anblick … Anders ging es nicht!

Setz’ Dich doch, sagte Volkmar. Du stehst da nicht gut. Setz’ Dich in den Lehnstuhl.

Ich danke Dir; ja, das will ich thun. – Mit einigen entschlossenen Schritten kam er zu dem Armstuhl hinüber und sank auch schon hinein. – Wie bist Du gut – zu so einem Sohn!

Es war ja für einen „guten Zweck“, wie Du sagst. Wo warst Du denn? Wo kommst Du her? Wenn Du sprechen kannst, dann sprich!

O ja, Vater, es wird wohl gehn. – Grade eine Woche ... Ich meine, eine volle Woche hat’s gedauert, bis ich so weit kam. Die ganze Woche, die Du mir auf meinen Brief zugestanden hattest – sie ging schon zu Ende – ich verlor die Wut. Nein – ich verlor die Geduld und ich kam in Wut! – Bitte, ärgere Dich nicht an meinem benebelten Kopf; und an meinem Sprechen –

Nein, ich ärgere mich nicht, sagte Volkmar, der nun statt Rudolfs am Thürpfosten stand. Laß Dir Zeit. Also Fellenberg –?

Wie kommst Du auf Fellenberg? fragte Rudolf.

Du nanntest ja schon seinen Namen. Was war’s denn mit ihm?

Lieber Vater! Das war der Gedanke – der ersehnte Gedanke – der mir nach dem Lichtausblasen kam: häng’ Dich an Fellenberg! – Ich hatt’ ihn schon beim Schlittschuhlaufen flüchtig kennen gelernt; – er läuft nicht besonders. Nun fing ich an, in die Kneipe zu gehen, wo er Billard spielt – und am Abend in seine Weinstube – – ein paar Abende, weißt Du, war ich nicht zu Hause; „bei Freunden“, sagte ich Dir – es war nicht gelogen: er nannte mich schon seinen Freund. Ich gefiel ihm – ich grüner Junge … Aber immer waren andere da – und – – Was wollte ich sagen. Ja, es waren immer auch Andere da; von dem, was mir auf der Zunge lag, konnte ich nicht sprechen – oder ich mochte nicht! ich bracht’s nicht heraus! Und die ganze Woche ging hin – und ich ging so um Dich herum, wußte nie, was ich sagen sollte – wußte kaum mehr recht, was ich fühlte, was ich dachte – – es war eine unsinnige Zeit!

Auch für mich, mein Rudolf –

Ja, wohl auch für Dich. O gewiß, natürlich auch für Dich! – Aber endlich heute Abend – –! O Vater!

Er stand auf, seine Gefühle rissen ihn empor. Eine Welt von Innigkeit wollte aus seinen Augen heraus; sie lag aber wie hinter einer Wolke, in dem trüben, schwimmenden Blick. Es war rührend lächerlich anzusehn; dem Vater zuckte es um den Mund, aber auch im Herzen. Schweigend trat er dann auf Rudolf zu und drückte ihn sanft in den Lehnstuhl zurück. Bleib’ nur, wo Du warst, mein Junge! Denken, sprechen und stehen wäre zu viel für Dich. Also heute Abend … Sag’ weiter. Ich ahne noch nicht, was es ist!

Ahnst Du es noch. nicht? fragte Rudolf treuherzig. Vater – diese Thea! Ich wollte ja wissen – um Deinetwillen – was die Wahrheit ist! Und als nun heut, am letzten Tag, meine Schulkameraden kamen, mich zu einem Fäßchen Münchener Augustiner zu holen, da wütete ich inwendig; wie ein Gefangener ging ich mit; meine einzige Hoffnung war: ich brenn’ ihnen durch! – Das that ich auch, nach einer Stunde. Länger hielt ich’s nicht aus. Ich erfand mir Kopfschmerzen – was sollt’ ich sonst machen, Vater – und ging „in die Luft“. Dann stürmt’ ich zu Fellenberg; ich wußte, wo er war. Im Ratskeller – ganz allein. Endlich ganz allein! Aber bei einem schweren Wein – – offenbar für mich zu schwer. Ich kann ja was vertragen, Vater; aber gegen ihn bin ich nichts. Und er trank so viel. Und ich mußte immer mit. Darum sitz’ ich nun so miserabel da. Ein trostloser Anblick. Ein „verlorener Sohn“!

Das thut nichts, sagte Volkmar ruhig. Erzähl’ nur zu Ende!

Ja; – ich dank’ Dir, Vater. Es war ja mein Glück, daß er so viel trank! Nun wurd’ er gemütlich, gesprächig – und zu mir fast zärtlich – – und ich kam auf Thea. – O Gott! Als ihm die Zunge gelöst war, was hat er erzählt! Von den Zeiten, in denen er auf andere eifersüchtig war; und von den Zeiten, in denen er das aufgegeben hatte; und von der Wette unter ihren guten Freunden, mit wem sie durchgehen wird. Und als ich hinwarf, sie werde ja wohl heiraten, ich hätte so was gehört – wie hat er gelacht! – „Aber wer heiratet so was, lieber grüner Junge!“ – Und dann wieder, in sein Glas guckend: „Es steht ihr aber alles so gut. Auch wenn sie zuweilen sentimental, melancholisch wird; dann plötzlich wieder ausgelassen wie ein Zigeunermädel; – immer aber schick. Graziös. Um die ist’s eigentlich Schade … Das heißt, warum Schade: sie erfüllt ihren Beruf!“ – – O Vater! Wie hab’ ich dagesessen. Wie hat nur das Herz gezuckt. Wie hab’ ich mich geschämt. So eine hab’ ich so geliebt! – Aber glaub’ mir, das ist mir nun wie vor hundert Jahren. Ich bin hier so frei – so frei. Und in allem Elend, in aller Scham freute ich mich doch fort und fort: „Das leid’ ich für meinen Vater. Es thut nichts! Wenn ich nur erst zu ihm komme – dann wird alles gut!“ – Nicht wahr, da hatt’ ich Recht. Ein Mann wie Du braucht das nur zu hören – dann kann er seine Hand nicht mehr ausstrecken nach so einem Weib. Du, Du kannst es nicht!

Volkmar lächelte; die Augen feuchteten sich ihm aber auch ein [551] wenig: so freute er sich an seinem Sohn. Nein, sagte er, ich kann’s nicht! – Wie gut hat sich aber Dein Wille bewährt: zuerst wollte die Zunge gar nicht, nun thut sie doch schon so ziemlich ihre Schuldigkeit. Und der Kopf, der „benebelte“, auch. Das ist die Herzenskraft: die hat nicht geruht, bis – – Mein geliebter Junge! Wie dank’ ich Deinem guten Herzen. An mir zweifle nicht. Müßt’ ich nur ganz so gewiß, daß auch Du geheilt bist!

So wahr ich hier sitze, Vater. Seit einer Woche war schon viel geschwunden – in all’ meiner Sorge um Dich – nun ist es hier totenstill! – – O wie schäm’ ich mich. Wie hatt’ ich mich verirrt. Wieder wie in dem Tagebuch – auf das ich so herabsah. Wieder wie ein Kind!

Volkmar trat zu ihm, legte ihm leise streichelnd eine Hand auf den dunkelblonden Kopf. Mein teurer Sohn, sagte er, mit heiter glänzenden Augen, es wird noch nicht Deine letzte Dummheit sein. Wenn sie alle so gut enden, dann ist’s noch nicht schlimm! – Ich muß Dir nun aber noch ein Geständnis machen; da Du mich so genesen anschaust, hab’ ich schon den Mut. Ich bin doch auch einmal falsch gegen Dich gewesen; „Erziehungsjesuiterei“ – die verachtete. Ja, zuweilen ist’s wahr: der Zweck heiligt das Mittel; so, dacht’ ich, in diesem Fall! Was hatte Dich gegen Thea so blind und so opfermutig gemacht? Nur Dein edler Sinn – Dein schwärmerischer – und darum gefährlich. Wenn ich diesen edlen Sinn nun herüberzog – die Liebe zum Vater darin zur großen Feuersbrunst machte, die in alle Winkel leuchtete und brannte … So ungefähr dacht’ ich mir’s, in meiner Vatersnot. So ist’s auch geglückt!

Rudolfs Augen, wieder umschleiert und fast ohne Blick, stierten zu Volkmar hinauf. Ich versteh’ noch nicht –

Kind, was war mir Thea! Ich hab’ sie besucht, ja, in der vorigen Woche jeden zweiten Tag; ich hab’ sie studiert, ihr „den Hof gemacht“, artig mit ihr geplaudert, sogar eine Rolle mit ihr durchgelesen; – an ihre kleine Hand oder ihr großes Herz hab’ ich nie gedacht. Es war eine Lüge, mein Junge, um Dich aufzuwecken; – sie ward mir schwer, glaub’ mir’s. Gott sei Dank, das ist nun vorbei. Du verzeihst mir, Rudolf. Du hast den Herzensverstand, der mit einem Schlag begreift, was ein anderes Herz gedacht! Ich mußte Dich aus dem Wasser ziehn – bin auch dabei naß geworden. Du aber – – wie stehst Du nun da. Das liebe „verschwierte“, umnebelte, tapfere Gesicht. Hast Deinem Herzen einen Preis getrunken, ’s ist Dein Ehrentag!

Vater –! stieß Rudolf nur hervor; er war aufgestanden; er mochte jetzt nicht sprechen. Diese Enthüllung, und dieses Lob, und dieses Glück – – ihm war’s wie ein Traum. Er fühlte wohl, so viel auf einmal könne sein schwerer Kopf nicht fassen. Doch griff er, in seiner grenzenlosen Liebe, nach Volkmars Hand und küßte sie. Volkmar ließ es geschehen, er wußte es kaum; dann zog er aber den Sohn an seine Brust, und wie zwei Männer hielten sie sich umschlungen. – –

Nun solltest Du aber schlafen gehn, sagte der Vater nach einer Stille. Du hast’s nötig, Rudolf. Wir wissen alles; und alles ist gut. In drei Tagen prüfen sie Dich. Also gute Nacht!

Ja, ja, flüsterte Rudolf. Es that ihm noch wohl, sich im Traum zu fühlen; die Geister des Weins gaukelten wieder in ihm – nun, da alles gut war – und die jungen Augen fielen ihm zu. Es schien ihm aber doch unmöglich, zu gehn, ehe er dem Vater noch Eines gesagt hätte: Dabei bleibt’s! fing er an, wenn auch mit müder und wieder schwerer Zunge. Wir beide trennen uns nie! – Wie wir’s neulich besprachen und abmachten: wir beide trennen uns nie!

Doch wohl! erwiderte Volkmar wehmütig lächelnd. In ein paar Wochen ziehst Du mir davon; als Student der Philosophie.

Ja – aber im Sommer sehen wir uns wieder! – Und dann – dann freilich noch mein Freiwilligenjahr –

Irgendwo da draußen; – und noch ein fröhliches Semester am Rhein, das Du Dir gewünscht hast –

Ja, vielleicht auch das noch. Ich hatt’ es eben nicht im Kopf. Ich war – nur ganz einfach glücklich. Glücklich wie noch nie! – – Vater! Aber dann! Nach zwei Jahren wieder zusammen – und dann nie mehr Trennung! Hier oder in Berlin, in München, wenn sie Dich inzwischen berufen; es ist ja im Werk. Ich glaube jetzt an jedes Glück. Ich war nie so glücklich … Oder sagt’ ich das schon?

Ja, antwortete Volkmar lächelnd.

Nie, nie mehr Trennung! – Du mein bester Freund!

Du meiner auch; – ich bin aber doch auch noch Dein Vater und schick’ Dich zu Bett. Diese Nacht kannst Du ruhig und zufrieden schlafen –

Und frei !

Also gute Nacht!


12.

Es kam der große Tag; Rudolf erschien im Speisezimmer, seinen Morgenkaffee zu trinken, angethan mit dem neuen Prüfungsfrack und der weißen Binde; dann, mit dem feierlich heiteren Segen des Vaters, wanderte er zur Schule fort. Toni stand auf der Treppe und begleitete ihn bis zur Hausthür; sie entließ ihn zärtlich, was sie nicht oft that. Eine wohlthuend aufregende, dramatische Spannung lag ihr auf der Brust. Ihre Schule begann heute erst um neun; wenn der „lange Bengel“ vom mündlichen Examen freigelassen wurde, so konnte sie noch seine Rückkehr erleben. Sie lief daher unruhig treppauf, treppab, immer aus einer Wohnung in die andere; als könne sie so die Entscheidung etwas „fixer“ machen. Sie stieg auch in die Turnringe hinauf und schwenkte sich hin und her. Endlich sah sie Volkmar (der wohl auch nicht ganz ruhig war) in der Speisezimmerthür erscheinen, die zum Vorplatz führte. Sie kletterte aus den Ringen hinunter, lief zu ihm und faßte mit den beiden hurtigen Händen die Knöpfe seines Sammtrocks.

Du, wie lang’ das dauert! sagte sie mit einem vorwurfsvollen Seufzer. Diese alten Ueze, die Lehrer!

So respektlos schimpft man nicht, erwiderte Volkmar und zupfte ein wenig an ihrem Zopf. Lieber übt man sich in Geduld.

Ach, nun wirst Du auch so „gelahrt“! Wie Fräulein Müller I in unsrer Schule – sie sprach ihr mit gespitzten Lippen und überfeinertem Stimmchen nach: „Nur immer hübsch Geduld, meine kleinen Fräuleins! Und alles mit Grrrazie! – Mit Grrrazie, mit Grrrazie!“ wiederholte sie. Auf einmal lehnte sie sich an den Oheim an und ihre redlichen braunen Augen sahen mit drollig listiger Neugier zu ihm hinauf. Da wir grad’ allein sind, Onkel … Seit anderthalb Wochen, denk Dir, möcht’ ich Dich was fragen – und ganz komischerweise hab’ ich nicht den Mut. Jetzt will ich aber doch; dalli! – Was war das eigentlich, Onkel Albert, – als Rudolf an dem Sonntag Morgen in seinem Zimmer sang und dann plötzlich losschrie? Und dann kamst Du und gingst zu ihm, und Helene und ich liefen fort. Warum hat er denn so geschrieen?

Das ist sehr einfach, mein Herz, sagte Volkmar, ihr die Wange streichelnd. Seit ihr beide Dramendichter geworden seid, ist über Rudolf die Lust gekommen, zum Theater zu gehen. Darum fing er damals an, sich im Heldenschrei zu üben. Auch im tragischen Sturz.

Die Kleine sah ihm zweifelnd, dann mißbilligend ins Gesicht. Ach, das sagst Du nur so. Das glaub’ ich Dir nicht.

Das glaubst Du nicht?

Nein. Was Du Dir alles ausdenkst … Und was Du Dir alles mit mir erlaubst!

Volkmar lachte auf. Ja, es ist entsetzlich, Toni! – Gut, ich werd’ Dir sagen, wie es wirklich war –

Sie horchte auf.

Aber erst wenn Du heiratest; an Deinem Hochzeitsmorgen. Mein Wort darauf!

Ach, Du bist schlecht. – Ich heirat’ ja nie!

Helene! rief sie jetzt und sprang fort. Helene kam die Treppe herauf, in Mantel und Hut, ihre Schulbücher im Arm; ein Paar Schneeglöckchen hielt sie in der Hand. Da! sagte sie zu Toni; eine davon schenk’ ich Dir. Ich wollte Dich abholen, zur Schule; und hören, wie es mit Rudolf steht?

Ach, es steht noch gar nicht, antwortete Toni, an ihrem Schneeglöckchen riechend. Aber was hast Du für große Augen, Helene? Bloß um diesen Laban?

Ach, Du! sagte Helene. Wenn ich große Augen habe, wie Du sagst – das ist ganz was andres. Denken Sie, Herr Professor! Toni, halt’ Dich fest und fall’ nicht vom Stengel! – Sie ist fort! und wie!

Wer? fragte Volkmar.

Thea! Durchgegangen ist sie! – – Eben kam eine Tante und hat’s uns erzählt. – Mit Hinterlassung eines Briefchens an den Herrn Direktor. ... Toni schüttelt den Kopf. Gott, wie wird [552] sie blaß. So wurde mir ja auch! Aber sie wußte es ganz gewiß. Und – – mit einem Herrn!

Durchgegangen mit einem Herrn? fragte Volkmar, als überrasche ihn das sehr. Also mit dem Herrn von Fellenberg –

Ach nein! Nicht mit dem! – Das ist ja so schrecklich. Mit einem ganz Andern – Geßmann soll er heißen – ein blutjunger Mensch. Und vorher hat ae noch einen Andern dazu nehmen wollen; der hat aber nicht gewollt. Und an den Direktor hat sie in dem Brief geschrieben: sie pfeift auf ihn und sein Theater und die ganze Stadt! Und Herr von Fellenberg hat laut gesagt: er wird sich nicht das Leben nehmen, er freut sich, daß er sie los ist –

Jetzt hör’ auf! rief Toni und rannte fort. Sie stürmte ihre Treppe hinan. Oben, schien es, blieb sie stehn. Man konnte ihr lautes, heftiges Atmen hören. – Toni! rief Helene und wollte ihr nach.

Laß sie, sagte Volkmar leise. Er zog das Mädel sacht zur Thür und in sein Speisezimmer hinein. Nur Zeit lassen, fuhr er dann fort. Setz’ Dich, liebes Kind. Dir ist’s natürlich auch in die Glieder gefahren; – ja, was sind das für Schauermären über die Himmlische. Das Leben hat Täuschungen; was? – – Will nur einmal horchen, was die Andre macht!

Er öffnete leise die Thür. Toni saß auf ihrer Treppe, er konnte sie bis zu den Knieen sehn, weiter nicht. Eine ihrer Hände erschien nahe am Geländer; sie nahm etwas aus der andern Hand, wie es schien, und warf es auf Volkmars Vorplatz hinab. Ein kleines weißes Blättchen war’s; offenbar von dem Schneeglöckchen. Fünf andere folgten nach; dann auf einmal der ganze Rest.

Vater! rief aber jetzt eine jubelnde Baßstimme von unten herauf. Da bin ich!

Mit großen Sprüngen kam Rudolf nach oben, dem hervorgetretenen Volkmar grade in die Arme. Ich und noch einer sind frei. Die Andern blieben da!

Ein herzhafter, fröhlicher Aufschrei, nur ein wenig zitternd, ward auf der oberen Treppe laut; Toni sprang herab. Sie vergaß offenbar ihren großen Schmerz; sie warf sich dem Vetter an die Brust wie ein junger Panther. Dann erschien auch Helene, Rosen auf den Wangen. Sie gab dem „Sieger“ die Hand. Die Backfische zogen ihn ins Zimmer hinein; nun sah man erst, daß Toni etwas Nasses an den Augen hatte. Aber sie that, als bliese sie auf einer Trompete, und ging so durchs Zimmer: Trara! Trara! – –

Eine Stunde später saß Vater Volkmar in Rudolfs Zimmer, allein. Tiefe Stille war um ihn her. Die Mädchen waren zur Schule gegangen, Rudolf zu den Tanten und dann zum Gymnasium zurück, jüngeren Mitschülern sich in seiner „Freiheit“ zu zeigen und auf das Schicksal der weniger Glücklichen zu warten. An seinem Schreibtisch saß Volkmar; draußen fiel wieder Schnee, aber windlos, ganz sacht, in großen schimwernden Flocken, als schüttele wirklich Frau Holle ihr Federbett aus. Wie viel wohler war ihm doch heute in diesem Zimmer als drei Wochen früher, da er hier am Fenster stand, den Straßenschnee singen hörte, an die einsame Zukunft dachte – und dann auf die Eisbahn ging, wo er an seines Jungen Seite die „Himmlische“ entdecken sollte. Guter Junge! dachte er. Zwei Prüfungen überstanden; alle beide gut!

Die frohe Feiertagsstimmung drückte ihm die Feder in die Hand; hier an Rudolfs Arbeitstisch – dem von nun an verwaisten – wollte er das „Festgedicht“ gestalten, das ihm auf der Seele lag, mit dem er den Sohn am Abend überraschen wollte. Die Gedanken in seinem Kopf gaukelten auch so heiter und zugleich so friedlich, so sacht, wie draußen Frau Holle’s Federn. Die Verse flogen ihm zu; – es ward aber, wie so oft, anders als er gedacht hatte. Aus einem scherzenden Jubelgedicht ward ein rechter Herzenssang; gleichsam eine Zwiesprach vor dem Scheiden zwischen Vater und Sohn. Er sah, während er schrieb, wohl hundertmal Rudolfs Gesicht: wie das ihn heute Abend anleuchten würde, liebreich und gerührt, wenn die Verse erklängen ... Heute Abeud! dachte er und freute sich wie ein Kind.

Und der Abend kam. Um den großen Tisch im Speiseziwmer saßen die Hausgenossen, Helene als einziger Gast; der Bismarckpokal – des Reichskanzlers Namenszug war in ihn eingegraben – ging mit „Kaisersekt“ gefüllt herum. Die Gesellschaft war klein, aber Toni allein konnte für vier gelten: eine so wilde Lustigkeit war über sie gekommen, sie deckte damit ihre tragischen Gefühle zu. Ihren Champagnerkelch leerte sie wie ein alter Zecher; Rudolf, der übermütige Schelm, beeiferte sich, ihn heimlich wieder zu füllen, ohne daß „Mutting“ es sah. Sie blies zu jedermann Kußhände hinüber, dem einen so, dem andern so: Volkmar hatte sie allerlei Arten gelehrt. Als der Oheim endlich aufstand, um ans Glas zu klingen und eine kleine Festrede zu halten, schnellte sie auch in die Höhe und rief voreilig mit ihrer kraftvollen Stimme: Rudolf der Unmündliche hoch! Hip, hip, hurrah!

Laß sie nur, sagte Volkmar sanft, als die Mutter des Unbands einen etwas zornigen Verweis begann; das war gleichsam Volkes Stimme, und die soll man ehren. Also ja, unser Rudolf hoch! – Aber. eh’ ich zu diesem Jüngling noch ein paar Worte spreche, möcht’ ich das Handwerk begrüßen: meine neuen Kollegen in Apollo, die Blonde und die Braune; diese verjüngte und verniedlichte Wiederholung von Goethe und Schiller – – man weiß nur nicht, wer hier Goethe und wer Schiller ist? Zuweilen denk’ ich, Helene mit den sinnigen grauen Augen hat das Schillersche; dann lodert es wieder mehr aus der feurigen Toni auf, und Helene wird „olympischer“. Jedenfalls geben sie uns ein edles Beispiel, daß man auch das große Drama zu Zweien zusammendichten kann; wenn nur die Herzen ‚schwie‘ und die Wände schwarz sind. Zwei Akte, hör’ ich, sind bereits geschrieben; möchte bald auch hinter dem fünften stehn: der Vorhang fällt!

Toni stand wieder auf, aber mit zusammengepreßten Lippen und finsterem Gesicht. Sie warf eine Orange, die sie in die Hand genommen hatte, über den Tisch.

Das wird nie hinter dem fünften Akt stehen! warf sie dann der Orange nach. Nie, Onkel! Nie!

Oho! sagte Volkmar. Warum nicht?

Weil das Stück im Graben liegt. Da liegt es, Helene; nicht?

Helene zuckte die Achseln; doch dann nickte sie. Ihre grauen Augen gingen in die Höhe.

Volkmar schien sehr bestürzt. Aber meine teuren Schiller und Goethe, ich bin außer mir! Wie soll ich das verstehn?

Toni lächelte bitter, dann schlug sie aber mit der Hand wegwerfend in die Luft. Das wird nicht weitergedichtet! – Wir wollen nicht mehr, Helene; nicht?

Nein, wir wollen nicht mehr, murmelte Helene.

Aber warum nicht, lieber Goethe? fragte Volkmar, zur Aelteren gewendet.

Goethe kannst Du lange fragen, entgegnete Toni; die sagt Dir’s doch nicht, die ist zu genierlich. – Sie knipste gegen ihr Glas: Ach was; ich sag’s doch. Wir schreiben das Stück nicht weiter, weil Thea – –

Rudolf, weißt Du schon? rief sie jetzt über den Tisch, mit einem Anlauf zum Lachen, als laufe sie so ihrem Kummer weg. Thea ist schmachvoll durchgebrannt! Sie läßt Dich schön grüßen!

Daß sie aus dem Thor ist, o ja, das weiß ich, antwortete Rudolf ruhig. Jeder Mensch hat mirs heut’ erzählt.

Er schaute zum Vater hinüber, dessen Blick ihn suchte. Ein ganz eigenes Lächeln verklärte sein Gesicht. Nur durch eine leichte Gebärde sagte er, aber beredt genug: Sei ganz ruhig, Vater. Hier schlägt ihr keine Ader mehr!

Nun also! warf Volknnar hin, als hätte er wirklich Worte gehört. Kehren wir denn zu unserm siebenundzwanzigjährigen Dichter – denn vierzehn und dreizehn machen siebenundzwanzig – zurück! Sein großes Werk, hören wir, liegt am Graben; ein tragischer, gewaltiger Torso, wie die verhauenen Marmorblöcke Michelangelo’s. Nun ja, das ist „feudal“; aber der junge Meister selber steht aufrecht, und seine beiden langzopfigen Köpfe schauen noch frisch und lieblich in die Welt hinaus. In seinen vier Augen leuchtet noch das heilige „Schwie“, das ihn zu dieser Dichtung begeistert hatte; jetzt wohl mit etwas Schwermuth getränkt – aber einem richtigen Menschen thut das ja nichts. Möchte aus diesen vier Augen nie das helle „Schmie“ der Jugend entschwinden! Nie – hört ihr, Mädels – nie! Ihr wißt, wie ich’s nneine. Unser Goethe und Schiller hoch!

Rudolfs Stimme fiel schmetternd ein; alle Gläser klangen. Die Backfische liefen zum Oheim, lächelten, seufzten, dankten, stießen mit ihm an. Dann drückten sie einander geschwind an die Brust. Rudolf öffnete eine neue Flasche, schenkte wieder ein.

Jetzt hätt’ ich noch ein Wort an meinen Jungen, sagte Volkmar, sich setzend; so ein Vaterwort! – Er zog das Gedicht aus der Tasche, das er am Nachmittag festlich abgeschrieben hatte; und während er nun Rudolfs Gedicht so vor sich sah, wie er’s am [554] Morgen geträumt, die von Wein und Freude durchglühten Wangen, die herzlich strahlenden Augen, nickte er ihm zu und fing an:

Und so sing’ ich denn Amen,
Mein herzlieber Sohn!
Vor’m mündlich’n Examen
Entließ man Dich schon.
Hast’s ihnen schriftlich gegeben,
Und das war genug,
Daß Du reif bist fürs Leben
Und weltprüfungsklug.

Zieh’ hin! Deine achtzehn
Schnurrbärtigen Jahr’
Nicht länger bewacht sehn,
Was hat’s für Gefahr?
Bist zur Freiheit erzogen,
Für eigenen Sinn;
Flieg’ hoch und verwogen
Ins Leben dahin!

Doch auf Ja und auf Amen
Sollst doch vor dem Gehn
Dein mündlich’s Examen
Vor mir noch bestehn.
Wie wirst Du’s nun halten
Ohne Vaters Hut
Mit des Lebens Gewalten,
Jung hitziges Blut?

„O es lacht mir das Leben,
Das Herz in mir lacht;
Drum wird wohl noch eben
Manche Dummheit gemacht.
Doch nicht schlecht werd’ ich werden,
Denn die Liebe mich hält
Zu den Brüdern auf Erden,
Zum Vater der Welt.“

Und so weiß ich’s, so kenn’ ich’s,
Dein lauteres Blut;
Dein Glühen – wie nenn’ ich’s? –
In heiliger Glut.
Doch wie wirst Du’s nun halten,
Du, so weltbrüderweich,
Mit der Heimat, der alten,
Und denn jungdeutschen Reich?

„Alle Menschen zu lieben
In opfernder Lust,
Hast nicht Du mir’s geschrieben
In die sehnende Brust?
Doch soll Gott mich verderben,
Verlier’ ich mein Pfand:
Zu leben, zu sterben
Für mein Volk und mein Land!“

Dich wird Gott nicht verderben,
Wie Dein Aug’ mich anblickt;
Noch der Teufel Dich werben,
Der die Deutschen berückt.
Doch wie wirst Du’s nun halten,
Das sag’ mir zuletzt,
Mit mir, Deinem „Alten“,
Der Dein Stab war bis jetzt?

„O Vater! Du weißt es!
Was fragst noch so viel?
Uns beide, uns reißt es
Zum nämlichen Ziel:
Der Junge, der Alte
Als Bruder und Freund
Bis ans Ende, das kalte,
Untrennbar vereint!“

Untrennbar! Das gebe,
Der die Welt hat erbaut;
Und die Erde erlebe,
Was sie nie noch geschaut!
Es wachs’ uns’re Liebe
Gen Himmel so hehr:
Ob Wahl oder Triebe?
Man weiß es nicht mehr.

Zieh’ denn hin! Kannst Dich weisen
Getrost allerwärts:
Die Muskeln von Eisen,
Doch liebreich das Herz;
Die Welt schmeckst Du gerne,
Jung jauchzt Dein Humor,
Doch es zieht an die Sterne
Dein Gott Dich empor!


Nachschrift.
Albert Volkmar an seine lieben Kinder
Rudolf und Toni.

Sechs Jahre sind dahin und ein viertel, seit wir diese Geschichte erlebten, die ich hier erzählt habe. Es ist gut gegangen, Rudolf! Es ist so gekommen, wie wir beide hofften: zwei Jahre wohl viel getrennt – und auch viel beisammen – dann miteinander in „unserm Haus“, in der Isarstadt. Zwei Studenten in verschiedenen Semestern: denn man studiert ja nicht aus. Vater und Sohn, Bruder und Freund!

Aber immer lag etwas wie eine ungezahlte Schuld auf mir: immer hatte ich der guten Toni noch nicht aufgeklärt, warum Rudolf damals schrie! – „An ihrem Hochzeitsmorgen“ sollte sie’s erfahren. Ja, wer hätte damals gedacht, meine liebe Toni, daß Du wirklich heiraten würdest, Deiner Widerrede zum Trotz; und daß Du gerade Den heiraten würdest, den „Laban“, den „dummen Bengel“ – jetzt Doktor der Philosophie, Weltverbesserer. Der Hochzeitsmorgen ist da; Helene Ammann als Brautjungfer; – doch die Eingeweihten versichern, sie wird bald selber so was brauchen. Sie lächelt zuweilen überirdisch reizend; die Eingeweihten versichern, das ist nichts als Glück. Nun, man wird ja sehn!

Ihr, meine beiden Geliebten, ein Paar! – Geahnt hab’ ich’s nicht, dazu war ich zu dumm; aber manchmal heimlich wünschend geträumt. Wie weit, wie weit wuchst ihr auseinander, als eure Knospen sprangen; und nun wiegen sich eure Kelche so nah’, so innig zusammengerückt, wie auf einem Stamm. Wunderlich, meine Teuren, ist es zugegangen: in Liebe wart ihr damals schon – aber beide für Thea, die nun verschollene „Himmlische“; die stand gleichsam zwischen euch, ihr liebtet sie von rechts und von links. Dann verdunstete dieses Irrlicht; zwischen euch war nichts mehr. Da fandet ihr am Ende euch!

Am Ende, sag’ ich; als die Zeit erfüllet war. Als Rudolfs Bart und Weltanschauung ungefähr die gleiche Fülle angenommen hatten; als aus den Fledermausflügeln des reizenden Kobolds Toni die schönen Engelsfittiche – – Nein! Ein Engel wird die nicht. Immer schneidig, Toni! – Aber ein holder, tapferer, sonniger, Heiterkeit und Liebe ausstrahlender Mensch!

Und ich mit euch – da ihr’s wollt – euer Vater und Freund! – Gar, gar viel Glück. Ich schüttle manchmal den Kopf vor Glück.

Und um der Toni Wort zu halten, hab’ ich gleich diese ganze Geschichte geschrieben; Rudolfs Schrei und alles; heut am Hochzeitsmorgen zu überreichen – mein eigentliches Hochzeitsgeschenk. Rechtzeitig vollendet; nicht Rumpfstück, Torso, wie das große Drama mit der ‚dunklen Schönen‘, der ‚glutvollen‘ Zigeunerin. Verzeiht mir, Schiller und Goethe, wenn ich etwa dies und das ein wenig ausgeschmückt habe, mit des Dichters Vorwitz. Der Cherub oder Seraph, der euch damals zusah, er wird doch wohl sagen, wenn er die Geschichte liest: ja, ja, ich erkenne sie, das sind meine Backfische!

Mög’ euch Neuvermählten das Büchlein von Vater und Sohn, dieses Stück von eurem Leben, ein Haus- und Gedenkbuch sein; und dereinst – – nun ja, euren Kindeskindern!