Arzt und Advokat
Eine trübe, nebelige Nacht lag über die Häusermasse Hamburgs. Die feuchten Straßen waren wie ausgestorben, nur von Zeit zu Zeit hörte man die schweren Tritte der Wächter, die sich wie unheimliche Gestalten an den hohen Gebäuden hinbewegten. Die Glocken hatten die erste Stunde nach Mitternacht verkündet, als ein Mann, fest in einen Mantel gehüllt, den neuen Wall betrat, eine der schönsten Straßen, die nach dem verheerenden Brande im Jahre 1812 in der reichen Handelsstadt entstanden sind. Er ging so eilig über die breiten Trottoirs, daß ihm ein alter Diener, der ihn begleitete, kaum zu folgen vermochte. An einem der größten und prächtigsten Häuser blieb er stehen. Der Diener zog einen Schlüssel hervor, öffnete die schwere Thür, und ließ seinen Begleiter eine weite, matt erhellte Hausflur betreten.
„Wo ist Herr Raimund?“
Noch ehe der Diener diese an ihn gerichtete Frage beantworten konnte, öffnete sich eine Thür, und ein junger Mann, bleich und zitternd, trat hastig heraus.
„Doctor! Doctor!“ rief er leise, indem er sich ihm wie ein Verzweifelnder an die Brust warf, den Kopf auf seine Schulter senkte, und leise zu weinen begann.
„Muth, Muth, mein lieber Freund!“ sagte mit bewegter Stimme der Arzt. „Wir Alle stehen in Gottes Hand, und er hat schon oft geholfen, wenn menschliche Kunst und Hülfe vergebens waren. Sie sind meiner Aufforderung gefolgt und von der Reise zurückgekehrt – das ist mir lieb. Jetzt fassen Sie sich, und führen Sie mich zu der theuern Kranken.“
Raimund erhob sich und sah mit seinen thränenfeuchten Augen den Arzt schmerzlich an.
„Mir scheint“, flüsterte er, „der Zustand meiner guten Louise ist sehr bedenklich – sie erkannte mich nicht, als ich vor einer Stunde ankam – in meiner Todesangst ließ ich Sie rufen.“
„Sie haben recht gethan“, sagte der Arzt, und drückte dem betrübten Manne tröstend die Hand. Dann warf er seinen Mantel ab und ließ sich von Raimund in das Krankenzimmer führen, das mit großer Bequemlichkeit, selbst mit Luxus ausgestattet war.
Eine schon bejahrte Kammerfrau entfernte sich bei dem Eintritte der beiden Männer. Der Arzt trat zu dem Bette, dessen weiße Gardinen zurückgeschlagen waren, und betrachtete prüfend das bleiche Gesicht der Kranken, einer schönen jungen Frau von vielleicht drei- bis vierundzwanzig Jahren.
Wohl zehn Minuten verflossen unter tiefem Schweigen. Dann trat der Arzt zurück und flüsterte:
„Es ist eine Krisis eingetreten. Wir können nichts thun, als uns in Geduld fassen.“
„Doctor“, flüsterte Raimund dringend, „verbergen Sie mir nichts, sagen Sie mir die reine Wahrheit, ich habe die Kraft, sie zu hören! Sehen Sie doch – ich bin völlig ruhig – ich beklage mich nicht – was halten Sie von dieser Krisis?“
Trotz der Anstrengung, mit der Raimund seine Bewegung zu verbergen suchte, verriethen dennoch die Blässe des Gesichts die mit Thränen gefüllten Augen, und das leise Beben der Stimme die ungeheure Angst, die sein Herz zusammenpreßte.
Der Arzt begriff nur zu gut die schreckliche Verzweiflung, die sich unter dieser scheinbaren Ruhe verbarg. Er erfaßte die brennende Hand Joseph Raimund’s, drückte sie sanft und sagte in einem schmerzlich milden Tone, mit dem man Unglückliche zu trösten sucht: „Raimund, mein lieber, lieber Freund, ich hoffe zu Gott, daß diese Krisis heilbringend sein wird; aber ich verhehle auch nicht, daß sie die schlimmsten Folgen haben kann. Jetzt entfernen Sie sich, ich beschwöre Sie – Ihre Gegenwart ist mir lästig, sie stört mich in meinen Beobachtungen. Glauben Sie mir, ich bedarf meiner ganzen Ruhe und Kaltblütigkeit. Die geringste Bewegung übt einen unheilvollen Einfluß auf die Kranke aus. Ein Wort, ein Seufzer kann die Hoffnung vernichten, die ich noch hege. Darum entfernen Sie sich, mein Freund – ich bitte Sie!“
„Nein, Doctor, nein!“ antwortete der junge Mann in verzweifelnder Beharrlichkeit – „ich kann dieses Zimmer nicht verlassen. Dort, dort, am Fußende ihres Bettes ist mein Platz. Tragen Sie keine Sorge, ich werde still und stumm sein, denn ich weiß ja, daß von meiner ruhigen Ergebung das Wohl meiner geliebten Louise abhängt.“
„Nun, so bleiben Sie denn, da Sie es wollen; aber ich empfehle Vorsicht, die größte Vorsicht!“
Der Arzt schwieg und setzte sich leise auf einen Stuhl neben dem Bette. Wie überwältigt von seinen Gefühlen, versank Raimund in eine schmerzliche Regungslosigkeit. Eine wahre Grabesstille folgte dem leise geflüsterten Gespräche der beiden Männer. Man hörte nichts mehr als die gleichförmigen Schläge einer Pendeluhr und das schwere Athmen der Kranken. Draußen hörte man die Stimme des Wächters zwei Uhr rufen.
Benutzen wir die eingetretene Pause, um den Lesern etwas Näheres über die drei Personen zu sagen, die sich in dem Zimmer befinden. Der angehende Greis ist der Doctor Friedland, einer der angesehendsten Aerzte Hamburgs. Der jüngere Mann ist der Großhändler Joseph Raimund, der Besitzer eines der größten [310] Handlungshäuser der Stadt. Die Kranke ist Louise Raimund, die innig geliebte Gattin des jungen Kaufherrn.
Joseph Raimund stammte aus einer unbemittelten Familie; aber seine redlichen und großmüthigen Gesinnungen, seine Liebe zu allem Großen und Erhabenen und seine rastlose Thätigkeit wiesen ihm einen Platz in jener kleinen Zahl von arbeitsamen und intelligenten Menschen an, die sich künftig eine Bahn durch die Wogen des Lebens brechen. Joseph hatte früh schon seine Mutter verloren, und sein Vater, ein achtbarer aber armer Maler, hatte ihm jene schlecht geleitete und ungenügende Halbbildung geben lassen, die in unserer Zeit für das praktische Leben so wenig taugt. So hatte er bis zu seinem fünfzehnten Jahre das Gymnasium besucht. Um diese Zeit verfiel der Maler in eine langwierige Krankheit, an Erwerb war nicht mehr zu denken, und Joseph, den Kopf voll Griechisch und Latein, voll heroischer Erinnerungen und glorreicher Traditionen, mußte in dem väterlichen Hause bleiben, um den Kranken zu pflegen und mit Mangel und Elend zu kämpfen. Die Krankheit des Vaters endigte nach einigen Wochen mit dem Tode, und der arme Joseph war älternlos.
Seine Lage war die bejammernswertheste von der Welt, und ein weniger stolzer Geist als der seine würde dieser trostlosen Wirklichkeit, die alle seine Illusionen und Hoffnungen mit einem Schlage vernichtete, erlegen sein; aber Joseph ließ sich nicht entmuthigen. Wie er früher von Ehre, Glück und Vermögen geträumt, so fügte er sich jetzt der Armuth und der Arbeit.
Joseph hatte auf dem Gymnasium mit Julius Morel eine jener so ergebenen, so uneigennützigen Freundschaftsverbindungen unterhalten, die den Anschein haben, als ob sie ewig dauern müßten, aber wie alle Ideen und Ansichten in diesem Lebensalter durch den Druck der socialen Verhältnisse einer Wandelung unterliegen.
Der Vater des jungen Morel war ein reicher und vielgesuchter Advocat. Er hatte Joseph’s Ordnungsliebe, seine Intelligenz, seine Lebhaftigkeit und seine beharrliche Willenskraft kennen gelernt. Als Herr Morel von dem Unglücke hörte, das den Freund seines Sohnes betroffen, fühlte er das lebhafteste Mitleid, er nahm sich des Verwaisten thätig an, und bald gelang es seinen Empfehlungen, ihm eine Stelle bei einem Negocianten zu verschaffen. Joseph gab sich nun der Arbeit mit einem brennenden Eifer hin. Noch waren nicht zehn Jahre verflossen, und aus dem armen Commis war ein erster Buchhalter geworden. Nach kurzer Zeit ward der Buchhalter Cassirer, und der Cassirer schwang sich zum Compagnon des Handlungshauses empor, in das ihm die liebevolle Fürsorge des Herrn Morel Zutritt verschafft hatte.
Zeit und Unglück hatten das Freundschaftsband, das Joseph und Julius umschlang, nicht gelockert; die beiden jungen Leute liebten sich, und keiner hatte vor dem Andern ein Geheimniß. Joseph sprach von seinen Arbeiten, von seinen Mühseligkeiten und seinen Hoffnungen – Julius ermuthigte ihn, und hatte seine Freude daran, wenn er ihm die Zukunft mit lebhaften und glänzenden Farben schildern konnte. Solche Unterredungen fanden in der Regel Sonntags statt, wenn die beiden Freunde an den Ufern der Elbe weite Spaziergänge unternahmen, sich am Fuße eines Baumes niederließen, und mit jugendlicher Schwärmerei den Ergießungen des Herzens folgten.
In einer dieser traulichen Unterhaltungen gestand Joseph seinem Freunde, daß er die Tochter seines Prinzipals liebe.
Louise Cordes war ein reizendes Mädchen von achtzehn Jahren. Sie hatte ein volles blondes Haar, einen schneeweißen Teint, himmlisch blaue Augen, sanft geröthete Wangen, und schön geschweifte rosige Lippen, die, wenn sie sich öffneten, blendend weiße Perlenzähne zeigten. Oft artete ihre kindliche Fröhlichkeit in Uebermuth aus, aber sie verstand es, zu rechter Zeit den Zügel anzulegen, und dann zeigte sie einen guten, großmüthigen Charakter. Seit ihrer Rückkehr aus dem Pensionate einer benachbarten Residenz wohnte sie bei dem Vater. Joseph, der sie nun täglich sah, liebte sie bald mit der ersten Glut der Jugend, und nach zwei Jahren ungewissen Harrens und Hoffens glaubte er die Gewißheit zu haben, daß Louise ihn wiederliebe.
Sechs Monate später ward Louise Cordes die Gattin Raimund’s, und der junge Mann, der einst als armer Waisenknabe in das Haus gekommen, befand sich auf dem Gipfel irdischen Glückes.
Seit dieser Heirath hatte Louisen’s Vater dem Schwiegersohne das Geschäft übergeben, und sich auf ein Landgut zurückgezogen, was er auf den fruchtbaren Fluren Holsteins besaß. Joseph arbeitete mit verdoppeltem Eifer, er erweiterte den Kreis seiner Operationen, und in wenig Jahren hatte er das Vermögen seiner Frau um das Zwiefache vermehrt. Als Vater eines reizenden Kindes, das er mit Liebe erzog; als Gatte einer schönen, zärtlich geliebten Frau, die ihn wiederliebte; reich, geachtet und geehrt war Joseph Raimund der glücklichste der Menschen. Um diese Zeit kam auch Julius Morel von einer großen Reise zurück, die er nach glänzend bestandenem Examen angetreten; er übernahm die ausgebreitete juristische Praxis seines Vaters, und ward Advokat.
Joseph Raimund feierte einen hohen Festtag, als er Julius, den Freund und Bruder, seiner geliebten Louise vorstellen konnte. Das Haus Joseph’s ward auch das Julius Morel’s, und die Freundschaft erhöhte das Glück der Liebe.
So standen die Sachen, als Raimund, der, wie schon gesagt, seine Handelsverbindungen erweitert hatte, eine Reise nach Süddeutschland unternehmen mußte. Er wollte nur einen Monat dazu verwenden; glückliche Anknüpfungen aber veranlaßten ihn, länger zu bleiben, und in Frankfurt am Main empfing er von dem Doctor Friedland eine telegraphische Depesche, die ihn von der Krankheit Louisen’s in Kenntniß setzte. Die Eisenbahn brachte ihn bald nach Hamburg, und drei Stunden nach seiner Ankunft fand die Scene statt, die wir Anfangs mitgetheilt haben.
Joseph Raimund war dreißig Jahre alt; aber schon zeigten sich in seinem schönen Gesichte die Spuren seines Fleißes und seiner anstrengenden Thätigkeit. Das Haar begann zu bleichen, auf der Stirn zeigten sich Furchen, und die vollen Wangen sanken zusammen. In diesem Augenblicke, wo wir ihn zu den Füßen seiner kranken Gattin sehen, lauschend auf jeden Athemzug, der dem geliebten Munde entquillt, beobachtend jedes Zucken der zarten Glieder, die er schon dem Tod verfallen wähnt – jetzt erliegt Joseph, der starke Mann, das Werkzeug seines eigenen Glückes, zum ersten Male den Schlägen des Unglücks. Eine herbe Verzweiflung hat sich seines Herzens bemächtigt, und in der vom furchtbaren Schmerze erzeugten Zerrüttung seiner Sinne hadert er mit dem Himmel, der ihm sein höchstes Gut zu entreißen droht.
Ein durchdringender Schrei, den plötzlich die Kranke ausstieß, weckte ihn aus seiner schmerzlichen Betäubung. Die Krisis hatte begonnen. Louise erhob gewaltsam ihren schweren Kopf. ihre Augen blitzten in einem seltsamen Feuer, und gebrochene Worte und klagende Seufzer entrangen sich den bleichen Lippen.
Der Arzt gab Raimund ein Zeichen, daß er sich ruhig verhalten möge. Der unglückliche Gatte sah mit trockenen, starren, Augen auf die Leidende, mit übermenschlicher Anstrengung suchte er seine Fassung zu bewahren – aber der Schmerz besiegte ihn, zitternd faltete er die Hände, und sank neben dem Bette auf beide Knie nieder.
Die Kranke stieß einige unverständliche Worte aus, dann begann sie bitterlich zu weinen.
Eine peinliche Pause trat ein. Wie gern hätte Joseph seine arme Gattin in die Arme geschlossen, und die Thränen von ihren hohlen Augen geküßt – aber der Arzt bat durch Geberden und Winke, daß er seine Anwesenheit nicht verrathen möge. Das schwache Licht der Lampe beschien eine traurige Gruppe.
„Mein Gott! Mein Gott!“ flüsterte die Kranke in ihrem Fieber, „ich bin verloren! Warum habe ich auf ihn gehört? Joseph, mein guter, großmüthiger Joseph, darf ich Dir je wieder unter die Augen treten? Laß mich – ich bin eine unglückliche Gattin – laß mich – ich bin Deiner nicht mehr würdig!“
Bei diesen Worten hatte sich Raimund erhoben, seine starren Augen glühten, und, gebeugt über das Bett, schien er jedes Wort zu verschlingen, das in kurzen Stößen den Lippen der Sterbenden entschlüpfte.
„Fieberphantasien!“ flüsterte der Arzt.
Aber vergebens bemühte sich der besorgte Greis, den aufgeregten Gatten von dem Bette zu entfernen. Joseph sah und hörte nichts mehr – sein Gesicht, noch blässer als das ihrige, neigte sich tiefer über das Bett, und er sog begierig alle Worte ein, die das Delirium der unglücklichen Frau entriß.
„Ich ertrage es nicht mehr!“ fuhr sie unter leisem Schluchzen fort. „Meine Kraft ist gebrochen – die Strafe ist zu schrecklich! [311] Julius, lassen Sie mich – vergessen Sie mich – ich darf Sie nicht mehr anhören! Gehen Sie – ich muß meine verlorene Ruhe wiedererlangen. O wie strafbar sind wir! Joseph ist Ihr Freund – Ihr Bruder – wir haben ihn verrathen! Mein Gott, verzeihe mir!“
Joseph war zur Bildsäule erstarrt. Fürchterliche Gedanken durchkreuzten seinen Kopf. Diese Frau, die er glücklich, schön und tugendhaft verlassen hatte, fand er auf dem Sterbebette wieder, eine Sünderin an den heiligsten Pflichten, eine Verrätherin an der Liebe, die ihm Alles war auf dieser Welt – und der Urheber dieses Unglücks war Julius, sein einziger, sein bester Freund!
Es schien, als ob die Kranke von einem gewaltigen, unwiderstehlichen Drange zum Reden gezwungen würde, als ob die Stimme des Gewissens sie zum Geständnisse und zur Bekehrung aufforderte. Ihre hastig und kurz ausgestoßenen Worte unterbrachen Seufzer und ein heftiges Schluchzen.
„Nehmen Sie Ihre Briefe zurück, Julius,“ fuhr sie fort, indem sie die bebenden Hände ausstreckte – „sie brennen wie Feuer auf meiner Seele – sie tödten mich – vernichten Sie die Papiere – und alle Erinnerungen an unsere verbrecherische Liebe!“
Der arme Joseph vermochte seine Fassung nicht länger zu bewahren, er stieß einen durchdringenden Schrei aus, und sank neben dem Bette nieder, dessen Pfosten er mit vor Schmerz und Verzweiflung bebenden Händen umklammerte.
Durch diesen Schrei schien Louise zum Bewußtsein und zum Leben zu erwachen; sie erkannte ihren Mann, und machte eine verzweifelte Bewegung, als ob sie sich der Papiere, von denen sie gesprochen, wieder bemächtigen wollte. Dann sank die unglückliche Frau in die Kissen zurück, und ihre Glieder erbebten in einer fürchterlichen Convulsion. Der Arzt trat hastig näher, führte den willenlosen Raimund zu einem Sopha, und beschäftigte sich dann mit der Kranken.
Eine ängstliche, unheimliche Stille herrschte in dem Gemache. Die kranke Gattin lag wie todt in ihrem Bette, und der unglückliche Gatte, von gräßlichen Gedanken gefoltert, fast regungslos, einer Leiche ähnlich, in einer Ecke des prachtvollen Polsters.
So verfloß eine halbe Stunde, dann schloß der Arzt die Vorhänge des Bettes und setzte sich zu Raimund, der in diesem Augenblicke aus seinem schmerzlichen Nachsinnen erwachte. Als er die geschlossenen Vorhänge sah, fragte er mit tonloser Stimme:
„Ist sie todt?“
Und zugleich überlief seinen Körper ein kalter Schauder.
„Sie ist gerettet,“ antwortete leise der Greis – „sie wird leben!“
„Gerettet, gerettet,“ schluchzte der arme Mann, „und ich bin verloren!“
Er bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, sein Schmerz löste sich in Thränen auf – er begann still zu weinen. Der Himmel hatte ihm seine Gattin wiedergeschenkt, der Freund hatte sie ihm entrissen.
Auch dem greisen Arzte traten die Thränen in die Augen.
„Bedenken Sie,“ tröstete er, „daß die Kranke im Fieberwahne gesprochen hat. Die Phantasiegebilde eines Kranken sind oft so wunderlich, daß sie Schrecken erregen, und dennoch entbehren sie jeder Begründung. Sie haben weder ein Recht, Ihre Gattin zur Rechenschaft zu ziehen, noch weniger aber dazu, sich mit verderblichen Illusionen zu martern. Sie bedürfen der Ruhe, mein lieber Freund, gehen Sie zu Bett. Vertrauen Sie Ihrem Arzte, der zugleich Ihr väterlicher Freund ist; hat sich die Aufregung gelegt, so sprechen wir mehr über diesen Gegenstand, und Sie werden sehen, daß ich Recht habe.“
Geduldig wie ein Kind, ließ sich Raimund in sein Zimmer führen. Der Arzt gab der Kammerfrau noch einige Anweisungen. Dann verließ er das Haus, in welchem der Reichthum, aber auch das Unglück wohnte. Nachdem er seine nahe Wohnung erreicht, holte er ein Paket Briefe hervor. Er öffnete einen derselben, las ihn und flüsterte mit Entsetzen: „Louise ist strafbar! Es ist ein Glück, daß ich mich dieser verhängnißvollen Papiere bemächtigen konnte, welche die Kranke in ihrem Bette zu verbergen suchte. Noch gebe ich das Glück des braven Raimund nicht auf, ich hoffe, daß ich die Verirrte auf den rechten Weg werde zurückführen können. Louise ist von Herzen gut und liebt ihren Gatten; der schurkische Advokat muß ein großer Virtuos in der Verführungskunst sein, daß ihm diese Infamie gelungen ist.“
Der Doctor Friedland verschloß die Briefe in seinem Secretair.
Am folgenden Morgen erschien der wackere Arzt im Hause Julius Morel’s. Der Advokat, ein schöner, blühender Mann von neunundzwanzig Jahren, empfing den Doctor in seinem Arbeitszimmer.
„Was ist das, Doctor?“ rief er aus. „Ihr sonst so heiteres Gesicht ist ernst – bringen Sie mir eine Trauerkunde?“
„Nein, Herr Morel.“
„Wie befindet sich Madame Raimund?“ fragte er mit großer Theilnahme, indem er den Arzt zum Sopha führte.
Der Greis sah den jungen Mann mit einem scharfen Blicke an.
„Sie ist seit gestern außer Gefahr,“ antwortete er ruhig und ernst. „Diese Nacht trat eine heilsame Krisis ein.“
„Gott sei Dank!“ rief der Advokat. „Nun fürchte ich die Rückkehr meines Freundes Raimund nicht mehr.“
„Die Krisis,“ fuhr der Arzt fort, „war heilbringend für Körper und Geist der Kranken.“
„Für den Geist?“ fragte Julius verwundert.
„Oder richtiger, für das Herz, Herr Advokat. Es war in Beiden eine Störung der gewöhnlichen Existenz eingetreten, die durch eine Reaction nun wieder beseitigt ist. Ich besuchte diesen Morgen die Kranke. – Die Genesung hat begonnen, und wenn nicht neue, heftige Gemüthserschütterungen eintreten, so wird Raimund’s, unsers gemeinschaftlichen Freundes, Glück bald wieder feststehen. Den ersten Impuls zu der schweren Krankheit Madame Raimund’s hat ein moralisches Leiden gegeben, gegen das sie lange gekämpft haben muß. Die Frauen sind von Natur schwächer als die Männer, und es ist unsere Pflicht, die Schwachheit nicht zu mißbrauchen, vorzüglich wenn ein Freund darunter leidet.“
„Sie sprechen seltsam, Doctor!“ rief Julius, indem er eine leichte Verwirrung zu verbergen suchte.
„Aber doch für den verständlich genug, der das unbeschreibliche Glück kennt, das Raimund in dem Besitze seiner unbescholtenen Gattin findet. Der Arzt hat einen scharfen Blick, mein Herr, und er sieht durch den kranken Körper in die tiefste Seele, die von jenem abhängig ist. In Louisen’s Seele habe ich nun gelesen, daß sie nicht frei von verderblichen Einflüssen ist, daß sie vielmehr in ihrer Eitelkeit Huldigungen empfängt, die das schwache Weib auf Abwege führen. Der Arzt sucht den Quell der Krankheit zu ersticken, wenn er heilen will – Herr Morel, ich bin der Arzt Louisen’s – Sie sind der Freund Raimund’s – ich bitte Sie, zerstören Sie mir meine Kur nicht durch Unvorsichtigkeit.“
„Was soll das heißen, mein Herr?“ fragte Julius wie verletzt. „Mir scheint, Sie setzen Dinge von so zarter Natur voraus, daß sie dem Bereiche eines Arztes fern liegen.“
„Mein Herr,“ sagte ernst der Greis, „eine lange Erfahrung hat mich meine Pflichten und Berechtigungen so genau kennen gelehrt, daß ich deren Grenzen wohl zu unterscheiden weiß. Fürchten Sie also nicht, daß ich sie überschreite, noch weniger aber, daß ich zu falschen Mitteln greife, wenn ich den Grund der Krankheit erkannt habe. Sie fühlen sich verletzt, indem ich als Arzt zu Ihnen rede – dies ist mir ein sicheres Merkmal, daß ich den rechten Punkt getroffen habe. Herr Morel, Ihr Vater hat Raimund’s Glück begründet – wollen Sie, der Sohn, es zerstören?“
„Ich habe nie daran gedacht!“ fuhr Julius auf. „Uebrigens erklären sie sich deutlicher, mein Herr, und aus Rücksicht für meinen Freund Raimund werde ich Sie ruhig anhören.“
„Gut, gut,“ sagte der Greis, „so will ich reden, und Ihnen als Arzt Verhaltungsregeln vorschreiben. Gestern Abend ist Raimund von seiner Reise zurückgekehrt, ich konnte ihm die tröstliche Versicherung geben, daß seine Louise gerettet ist. Was ich in der Kranken erblickt, die von schmerzlicher Reue gefoltert wird, muß zu seinem und seiner Gattin Heile ihm ein ewiges Geheimniß bleiben. Ihre Freundschaft ist dem braven Manne ein Bedürfniß, ich weiß es – setzen Sie Ihre Besuche als ein wahrer Freund fort, achten Sie Louise als seine Gattin, und tragen Sie Sorge, daß er nie, nie die Verirrungen derselben erfahre. Die Brust des Arztes ist ein heiliges Depositum – unser Gespräch ist vergessen, und selbst Louise, die meine Kenntniß ihres Uebels nicht ahnt, [312] darf es je erfahren, damit wir ihr Zartgefühl nicht verletzen. Ich werde über meine Kranke wachen, Herr Morel, und nur wenn ich mich überzeugt habe, daß keine Gefahr mehr zu fürchten ist, ziehe ich mich zurück. Aber bis dahin bin ich der unerbittlich strenge Arzt, der alle unheilvollen Einflüsse mit starker Hand entfernt. Jetzt ruft mich mein Amt – leben Sie wohl, Herr Morel, und erinnern Sie sich dieses Morgens, so oft Sie Raimund’s Haus betreten.“
Der Doctor Friedland ergriff seinen Hut, verneigte sich, und verließ das Haus.
Julius sah ihm einige Augenblicke gedankenvoll nach, ohne sich von seinem Platze zu bewegen.
„Das war eine Drohung!“ flüsterte er. „Der Doctor muß sehr genau unterrichtet sein, er würde sonst diesen Ton nicht angeschlagen haben. Aber wer hat ihm verrathen, daß ich in die reizende Louise verliebt bin, und daß sie meine zärtlichen Aufmerksamkeiten gern annimmt? Er sprach von Reue – Louise war schwer krank – sie selbst! Die alte Meta kann nicht geplaudert haben, da bei der Zerstörung unsers geheimen Verhältnisses ihr eine ergiebige Erwerbsquelle versiegen würde. Ich täusche mich nicht, wenn ich annehme, daß Louise Gewissensbisse fühlt! Diese Krankheit kam mir sehr ungelegen. O, über diese thörichte, schwache Frau! Hat sie nicht selbst das Feuer der Leidenschaft angefacht, das mich verzehrt? Und trägt Raimund nicht selbst die Schuld, da er mir seine Frau empfahl, als er abreiste? Mein Freund ist ein guter Speculant, aber ein schlechter Ehemann. Louise, die junge reizende Frau, fordert eine glühende Liebe – und er bringt ihr eine kalte, ruhige Neigung. Dieser moralische Doctor verbannt sie schonungslos zu einem freudelosen Leben, und weil sie als gehorsame Tochter dem Drängen des spekulativen Vaters bei der Wahl ihres Gatten gefolgt ist, soll sie nun in dem Umgange mit einem trockenen Geschäftsmanne untergehen – das muß jeder Vernünftige eine grausame Tyrannei nennen. So richtig die Herren mit Waaren speculiren, so arg haben sie sich mit dem Herzen Louisen’s verrechnet. Das sind die Folgen einer Speculationsheirath. Louise steht mir näher als Joseph – ich kann und darf sie nicht aufgeben. Doch ehe ich einen Entschluß fasse, will ich sondiren, und wehe Dir, alter Graukopf, wenn Du Dir eine ungebührliche Freiheit angemaßt, wenn Du in Deiner alten Moral zu weit gegangen bist. Dann mag der Prozeß beginnen, der Mediciner kämpfe mit einem Juristen.“
Nach einer Stunde betrat er Raimund’s Haus. Der junge Kaufmann empfing ihn mit schmerzlicher Freundlichkeit; kein Blick, kein Wort verrieth, was in der verflossenen Nacht vorgegangen.
Joseph’s ehrenhafter Charakter konnte es nicht über sich gewinnen, den Sohn seines Wohlthäters durch einen Vorwurf zu kränken, bevor er nicht vollkommen gewiß war, daß er ihn verdient hatte.
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Louisen’s jugendliche Kraft besiegte bald die von der Krankheit zurückgelassene Schwäche, und nach zwölf Tagen schon betrat sie an der Hand des Doctors Friedland das gemeinschaftliche Wohnzimmer, in welchem sich Joseph mit seiner vierjährigen Tochter befand. Die junge Frau hatte eine reizende Toilette gemacht, und die blonden Locken, die unter einem feinen, weißen Morgenhäubchen herabquollen, beschatteten die zarten Wangen, auf denen sich der erste Purpur der Gesundheit zeigte.
„Die vom Tode zum Leben Erstandene!“ rief fröhlich der Doctor, indem er die Gattin dem Gatten zuführte. „Hier ist sie, möge sie Ihnen der Himmel noch lange erhalten!“
„Dank, Dank, Doctor!“ rief Joseph.
Und nassen Blicks schloß er die vor Freude zitternde Frau in seine Arme.
„Joseph,“ flüsterte sie zärtlich, „Du hast meinetwegen viel gelitten! Ach,“ fügte sie hinzu, und schlang ihren Arm um seineb Hals, „aber auch ich habe gelitten, wenn ich an Deinen Schmerz dachte. Wie oft bat ich den Himmel, daß er mich Dir und unserm Kinde erhalten möge – er hat mein Gebet erhört, und mir in diesem braven Freunde einen Retter gesandt. Joseph, unser Glück soll noch nicht zu Ende sein!“
Des guten Joseph’s Glück läßt sich nicht beschreiben. Er umschlang Weib und Kind, und sandte einen dankenden Blick zum Himmel.
„Wenn die Liebe so rein ist,“ dachte er, „kann der Argwohn sie nur beflecken. Für diese so frische Seele, für diese so zarte Blume kann ein Flecken nur der Tod sein!“
Zum ersten Male wieder nahmen sie zusammen das Frühstück ein, bei dem der Doctor als Gast blieb. Er schied mit der vollen Ueberzeugung, daß Louise in jeder Beziehung genesen sei.
Dieser hohe Festtag war ein Sonntag, weder die Börse noch andere Geschäfte nahmen die Thätigkeit des Kaufherrn in Anspruch, und die beiden Gatten verbrachten ihn mit einander in stillem Glücke. Der Zufall wirft in das eheliche Leben zuweilen einige vollkommen glückliche Tage, die sich weder an die Befangenheit noch an die Zukunft knüpfen. Leider sind dies nur seltene, schnell verblühende Blumen! Ein solcher ward den beiden Gatten mit allen seinen Wonnen zu Theil, und sie schwelgten in dem Genusse derselben, als ob sie geahnt hätten, daß es der letzte ihrer Liebe sei.
Julius setzte seine Besuche fort, aber er wählte Anfangs absichtlich die Zeit, von der er wußte, daß sie Louise bei ihrem Gatten verbrachte. Sie war heiter und stets dieselbe gegen den Freund ihres Gatten wie früher, aber um so gefährlicher für ihn, da sie nach der Krankheit schöner und verführerischer geworden zu sein schien. Joseph theilte die Ansicht des Arztes, daß die Kranke in wilden Fieberphantasien von Dingen geredet habe, die sie mit Furcht und Schrecken erfüllten. Die Wirklichkeit lieferte auch nicht den kleinsten Beweis von einer Schwäche oder sträflichen Verirrung. Und somit war das alte glückliche Verhältniß zwischen den beiden Gatten nicht nur wiederhergestellt, es schien selbst, als ob nach diesem Sturme ihre Liebe noch größer geworden sei.
Eines Abends befand sich Louise mit ihrer Kammerfrau allein in dem Schlafzimmer. „Meta“, sagte die junge Frau in sichtlicher Verlegenheit, „ich habe lange schon nach einem kleinen Pakete mit Briefen gesucht – es liegt mir viel daran, ich kann es nirgends finden.“
„Sprechen Sie von einem Pakete, das Briefe zu enthalten schien und mit einem hellblauen Seidenbande umschlungen war?“
„Ganz recht“, rief Louise eifrig. „Wo haben Sie es gesehen?“
„Als Sie krank waren, Madame, riefen Sie mich mitten in der Nacht an Ihr Bett; Sie zogen dieses Paket unter dem Kopfkissen hervor, und befahlen mir, es zu verbrennen. Ich führte den Befehl aus, und warf das Papier in den Ofen.“
„Dessen erinnern Sie sich genau?“
„O gewiß, Madame!“ betheuerte die alte Frau, indem sie Louise mit treuherzigen Blicken ansah. „Sie waren in jener Nacht recht krank – die Papiere haben doch wohl keinen Werth –?“
„Nein, nein! Es genügt mir, wenn ich weiß, wohin sie gekommen sind.“
„Verlassen Sie sich darauf, Madame, sie sind für immer verschwunden.“
Diese Versicherung beruhigte Louise; sie ließ sich entkleiden, und ging heiter zu Bett. Meta sah, wie sie die Hände faltete und ein Gebet flüsterte.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die Kammerfrau heimlich Anweisung erhalten hatte, wie sie sich gegen ihre Herrin benehmen sollte. Diese Aussage in Betreff der Papiere war eine Erfindung des Doctor Friedland, der dadurch eine Verletzung des Zartgefühls Louise’s vermeiden wollte. Mit der Genesung sollte ein neues Leben beginnen und die Vergangenheit völlig vergessen sein. Die Angriffe des Advokaten glaubte er verhindern zu können, und zu diesem Zwecke hatte er sich der Kammerfrau versichert, von der er wußte, daß sie die Ueberbringerin der verhängnißvollen Briefe gewesen war.
[322] Nach einem Monate trat Meta zu ihm in das Zimmer.
„Herr Doctor, hier ist ein Brief, den mir Herr Morel diesen Mittag, als er unser Haus verließ, für Madame Raimund eingehändigt hat. Sie haben mir aufgetragen, daß ich alle Briefe, die von ihm kommen, Ihnen übergeben soll.“
Der Arzt nahm den Brief, und gab der Kammerfrau dafür einen Dukaten.
„Sie erfüllen eine heilige Pflicht gegen Ihre Herrin“, fügte er hinzu, „und ich hoffe, Sie werden mit mir dahin wirken, daß der Friede in Herrn Raimund’s Hause durch den Leichtsinn eines verblendeten jungen Menschen nicht gestört werde. Zu seiner Zeit werde ich Madame Raimund sagen, welche wichtigen Dienste Sie ihr geleistet haben.“
„Zählen Sie auf mich, Herr Doctor, denn ich liebe die junge Frau, als ob sie meine Tochter wäre. Ach, hätten Sie doch früher um den verderblichen Handel gewußt, es wäre vielleicht Manches anders.“
„Noch ist nichts verloren, liebe Frau, wenn Sie mir redlich beistehen.“
Meta erzählte nun ihre Unterredung in Betreff der Briefe mit Louise, dann entfernte sie sich.
„Also hat er es dennoch gewagt, die verbrecherische Hand wieder auszustrecken!“ flüsterte der Arzt vor sich hin, indem er in seinem Zimmer auf- und abging. „Er sieht das wiedergekehrte Glück seines Freundes, aber es ist ihm nicht heilig. Nachdem er den armen Raimund wieder in den Schlummer der Sorglosigkeit eingewiegt, beginnt er von Neuem seine Netze auszuspannen. Wahrlich, das ist kein Leichtsinn mehr, das ist die Taktik der Bosheit und des verworfensten Cynismus. Und dieser Mann, der Ehre, Glück und Ruhe seiner Nebenmenschen mit Füßen tritt, der sich kein Gewissen daraus macht, den Jugendfreund zu vernichten – dieser Mann ist ein Rechtsanwalt! Was haben die Bedrängten, die sich ihm blindlings anvertrauen, von ihm zu erwarten?“
In einer zornigen Aufwallung zerriß er das Siegel und öffnete den Brief.
„Louise“, schrieb Julius, „die Freundschaft zu Joseph erfordert Opfer, die ich nicht länger zu bringen vermag. Was ist Freundschaft, wenn die allgewaltige Liebe das Herz bewegt? Sie verschwindet wie ein kleiner Stern vor der hehren Sonne. Die Zeit Ihrer Krankheit habe ich in einer fürchterlichen Gemüthsstimmung verlebt, und jetzt, da Sie genesen sind, erfreuen Sie mich durch keinen freundlichen Blick, durch kein Zeichen Ihrer Gunst. Ich weiß, daß Joseph, der trockene Geschäftsmann, Ihr feuriges Herz nicht auszufüllen vermag – Sie begehen eine Ungerechtigkeit gegen Ihr junges Leben, wenn Sie unter der Tyrannei einer Spekulationsheirath noch länger leiden, und Sie leiden, ich weiß es. Mehr kann ich dem Papiere nicht anvertrauen, obgleich mich ein unbeschreibliches Gefühl dazu drängt – ich muß Sie sprechen, wenn ich meinen Verstand nicht verlieren soll. Machen Sie morgen Mittag ein Uhr einen Spaziergang nach Ihrem Landhause; Joseph ist dann auf der Börse, und daß er sicher und länger als gewöhnlich dort aufgehalten werde, habe ich bereits heute die Einleitungen getroffen. Ich habe Ihnen höchst wichtige Mittheilungen zu machen, darum kommen Sie. Schließlich noch die Versicherung, daß es von unserm gemeinschaftlichen Verhalten abhängen wird, ob die nächste Zukunft schon unser Geheimniß enthüllt oder nicht. J.“
Der Arzt verschloß den Brief.
„Wie raffinirt!“ rief er aus. „Juristische Spitzfindigkeiten, Bitten und versteckte Drohungen. Mein Herr Advokat, Sie haben mich zu einem Prozesse herausgefordert, und ich werde ihn fortführen. Wir wollen sehen, ob ihn der Arzt oder Jurist gewinnt.
Der Doctor Friedland hatte noch keinen festen Entschluß darüber gefaßt, wie er seinen Gegner angreifen wollte. Um ihm aber jede Gelegenheit abzuschneiden, sich Louisen heimlich zu nähern, verbot er der jungen Frau, aus Gesundheitsrücksichten, das Haus bei dem unbeständigen Aprilwetter zu verlassen. Louise fügte sich, wie zu erwarten stand, mit großer Bereitwilligkeit. Joseph’s Vertrauen zu seiner Gattin war völlig zurückgekehrt, und oft machte er sich im Stillen Vorwürfe, daß er auch nur einen Augenblick an ihrer Treue hatte zweifeln können. Er bemühte sich, doppelt zärtlich und sorglich zu sein, um das an ihr begangene Unrecht wieder auszugleichen. Um ihr auch nicht die leiseste Kränkung zu bereiten, verschwieg er ihr sorgfältig die Begebenheiten jener unglückseligen Nacht und seinen in derselben angeregten Verdacht. In Julius Benehmen war keine Veränderung vorgegangen, und so oft er erschien, empfing ihn Joseph mit derselben Herzlichkeit, die er früher gegen ihn beobachtet hatte. Selbst an dem Tage, der der verfehlten Unterredung folgte, war er derselbe, und als Louise in das Zimmer trat, verrieth auch nicht die geringste Veränderung in seinem Tone, daß irgend etwas vorgefallen sei.
Die ersten Tage des Mai waren noch sehr kühl, und Louise, obgleich sie vollkommen genesen war, verließ noch immer ihre Wohnung nicht. Schlug Joseph einen Spaziergang vor, so lehnte sie ihn mit der Entschuldigung ab, daß der Doctor ihr das Ausgehen noch nicht gestattet habe.
„Du bist eine gewissenhafte Patientin“, sagte Raimund lächelnd.
„Aus Rücksicht für Dich!“ antwortete sie, indem sie ihm zärtlich den blühenden Mund zum Kusse bot. „Und was fehlt mir in unserm großen, geräumigen Hause?“
„Die frische Luft, mein Kind!“
„Frage den Arzt, Joseph; sobald er befiehlt, gehorche ich.“
Joseph fragte schriftlich bei dem Doctor an. „Ich werde schon ordiniren!“ war die lakonische Antwort. „Später eine Badereise, und Alles ist in Ordnung.“
Der Kaufmann machte allein seine Spaziergänge. An einem der ersten warmen Maitage verließ er früher als gewöhnlich die Börse, um die Gartenarbeiten bei seinem Landhause, das eine Viertelstunde vor der Stadt lag, in Augenschein zu nehmen. Glücklich und heiter schritt er auf dem Seitenpfade dahin, der neben der belebten Chaussee sich fortwand. Er hatte Louisen den Besuch des Landhauses verschwiegen, weil er ihr durch die Anlegung eines Springbrunnens vor der Laube, ihrem Lieblingsplätzchen, eine Ueberraschung bereiten wollte. Heute wollte der Baumeister sein Werk prüfen, und der Wasserstrahl sollte sich zum ersten Male erheben, Joseph beschleunigte seine Schritte, um gegen vier Uhr, zur Zeit des Mittagsessens, wo er gewöhnlich von der Börse zurückzukehren pflegte, in seiner Wohnung wieder einzutreffen. Bald schlug er den Seitenpfad ein, der durch lebendige Hecken nach der Villa führte. Da sah er eine Droschke vor einer der Gartenthüren halten. Vielleicht zwanzig Schritte noch mochte er davon entfernt sein, als eine verschleierte Dame aus der Thür trat, dem Kutscher eilig einige Worte zurief, und eben so eilig einstieg.
Bestürzt blieb Joseph stehen. Die Thür führte zu dem Garten von Julius Morel’s Landhause, und in der Dame glaubte er seine Louise zu erkennen. Da rasselte der halb offene Wagen an ihm vorüber. Joseph’s starre Blicke richteten sich auf die Dame – das war ihr brauner Sammethut mit den weißen Federn – das war ihr dunkelblauer großer Shawl, den er selbst vor einem Jahre von Wien mitgebracht hatte – das war endlich ihre ganze Gestalt und Haltung. Indem der Wagen an ihm vorüberfuhr, bog sich die Dame wie bestürzt in die Ecke zurück. Hätte er noch Zweifel an der Identität ihrer Person gehegt, dieser letzte Umstand mußte sie beseitigen.
Die Eifersucht mit allen ihren Schrecken erwachte in dem armen Manne. Aber bald gesellte sich noch ein fürchterlicheres Gefühl hinzu, das der gekränkten Ehre, des schmählich gemißbrauchten Vertrauens. Wie eine Bildsäule stand der arme Joseph da, und starrte dem Wagen nach, der längst entschwunden war. Der Boden wankte unter seinen Füßen, und alle Gegenstände erschienen seinen Blicken wie von einem grauen Schleier bedeckt. Der feste Wille Raimund’s besiegte bald die erste Aufregung, so gewaltig sie auch war.
„Solllest du dich dennoch getäuscht haben?“ fragte er sich. „Kann nicht eine andere Frau, die zufällig mit Louise Aehnlichkeit hat und dieselben Kleider trägt, in dem Landhause einen Besuch abgestattet haben? Du hast ihr Gesicht nicht gesehen, du urtheilst nur nach den äußern Formen. Aber jene Nacht der Krankheit – ihr hartnäckiges Weigern, das Haus zu verlassen – diese Zeit, wo sie mich auf der Börse wähnt – die Eile und Schüchternheit, mit der sie aus der Hinterthür des Gartens trat, und der Schrecken endlich, der sich ihrer bei meinem Anblicke bemächtigte – ich muß klar sehen, und sollte es mein Leben kosten!“
Joseph eilte der Thür des Gartens zu. In einen Abgrund bitterer Gedanken versenkt, blieb er stehen, und betrachtete mechanisch den reizenden Garten, auf dessen Beeten ein Flor von Tulpen [323] und Aurikeln strahlte. Bald wollte er, den Einflüsterungen seines Schmerzes sich überlassend, heimlich entfliehen, um wenigstens noch alle Zweifel seiner Liebe mit sich nehmen zu können; bald wollte er Rache üben an dem Zerstörer seines Glückes, denn die Eifersucht sagte ihm, daß er betrogen sei. Das Mißtrauen blieb zuletzt das vorherrschende Gefühl, und er stürmte durch das ungeheure Feld, durch das uferlose Meer der Vermuthungen, ohne irgend einen Anhaltepunkt zu finden. Da sah er Julius, die Hände auf den Rücken gelegt, langsam zwischen Blumenbeeten hingehend. Das Erblicken des Jugendfreundes rüttelte ihn zur Wirklichkeit empor. Er konnte es nicht glauben, daß Julius, und noch weniger Louise, die Mutter seines einzigen Kindes, eines so schweren Verbrechens fähig sei. Die Geradheit und Biederkeit seines Charakters forderte ihn auf, gründlich aber vorsichtig zu sondiren, ehe er ernste Schritte in der Sache that. Mit gewaltsamer Fassung betrat er den Garten. Ehe er Julius erreichte, war sein Gesicht ruhig geworden, obgleich in seiner Brust ein unbeschreibliches Gefühl tobte. Mit dem Entschlusse, Niemandem Unrecht zu thun, aber auch selbst kein Unrecht zu erleiden, näherte er sich dem Advokaten. In einer Biegung des Weges trat er ihm entgegen. Julius fuhr wie aus tiefem Nachsinnen empor.
„Joseph!“ rief er, und es war ersichtlich, daß er seine Überraschung über die um diese Zeit seltene Ankunft des Freundes kaum zu verbergen suchte.
„Ich bin es!“ antwortete Joseph, dessen Stimme leise erbebte, obgleich er sich Mühe gab, gefaßt und ruhig zu erscheinen.
„Hast Du es über Dich gewinnen können, der Börse zeitiger als sonst den Rücken zuzuwenden?“ fragte der Advokat, indem er dem Freunde nach alter Gewohnheit die Hand reichte.
Der Kaufmann sah dem Advokaten scharf in das Gesicht.
„Glaubst Du,“ fragte er, „daß die Börse allein mein Glück in sich schließt?“
Julius lächelte mitleidig, indem er sagte: „Ich kenne Deinen Geschäftseifer, Joseph. Wenn ich in diesem Augenblicke daran dachte, wo die Kaufmannswelt Hamburgs dem Merkur opfert, so wollte ich keinen Vorwurf aussprechen, obgleich ich als Freund nur wünschen kann, daß Du denen, die Dich lieben und verehren, einige Theile Deiner Zeit mehr widmest.“
Bei diesen Worten ergriff Julius den Arm Joseph’s, und zog ihn mit sich fort.
„Mein Besuch wird nur ein kurzer sein,“ sagte Raimund, indem er den Salon des anmuthigen Landhauses betrat. „Die Börsenzeit,“ fügte er mit Beziehung hinzu, „ist bald vorüber, und meine Frau liebt es, wenn ich mich pünktlich zum Mittagsessen einstelle. Du weißt, ich bin ein guter, folgsamer Ehemann – –“
„Den Deine Louise zu schätzen weiß!“
Joseph unterdrückte eine bittere Antwort, die ihm auf den Lippen schwebte. Der Stolz untersagte ihm, auch nur einen Anflug von Eifersucht zu zeigen, obgleich ihn die wie es schien ohne Absicht hingeworfenen Worte des Advokaten verletzten.
Julius ließ Madeira kommen. Joseph trank, um heiter zu werden.
„Du hattest Damenbesuch,“ sagte er lächelnd, als er das Glas zurücksetzte.
Dem aufmerksamen Raimund konnte es nicht entgehen, daß sein Freund ein wenig verlegen ward.
„Ganz recht!“ rief der Advokat. „Eine Clientin erholte sich bei mir Raths. Die Sache war dringend, und deshalb suchte sie mich in meinem Landhause auf. Ist sie Dir begegnet?“
„In einer Verfassung, die mich ahnen läßt, daß sie mit wenig Hoffnung von Dir geschieden ist. Sie eilte an mir vorüber wie ein Kaufmann, der fürchtet die Börse zu versäumen.“
Julius leerte sein Glas mit einem Zuge.
„Wahrhaftig,“ rief er dann, „die Dame befindet sich in einem kritischen Falle. Es that mir um so mehr leid, ihr nach meinem Gutachten alle Hoffnung abzuschneiden, da mir ihre Person ein großes Interesse abgewonnen hat.“
„So ist sie schön?“
„Schön und jung, und dabei unglücklich.“
„Vortrefflich! Eine unglückliche Schöne hat viel für sich.“
„Wir Advokaten sind oft schlimm daran,“ sagte Julius, der seine völlige Unbefangenheit wieder erlangt hatte. „Das starre Recht zwingt uns zu verurtheilen, wo das Herz gern freisprechen und helfen möchte. So erging mir es in vorliegendem Falle.“
„Wahrhaftig?“
„Kein Gerichtshof der Welt wird ihr das Recht zuerkennen, nach dem sie strebt.“
„Das ist sonderbar!“
„Gewiß.“
„Recht bleibt Recht, auch unter den sonderbarsten Formen, und ich sollte glauben, daß die Gerichtshöfe es erkennen müßten.“
„Die Gerichtshöfe!“ rief Julius. „Man ruft sie oft in Sachen zu Schiedsrichtern an, die durchaus nicht vor ihr Forum gehören. Denke Dir, jene Dame ist verheirathet –“
„Verheirathet?“
„Mit einem Manne, der sie zu lieben und in ihrem Besitze glücklich zu leben glaubte. In dieser falschen Voraussetzung trat er mit ihr zum Altare. Der vertraute Umgang in der Ehe belehrte ihn, daß er sich arg getäuscht hatte. Was er für Liebe gehalten, war nur ein tiefes, inniges Mitleid gewesen, denn in jener Zeit, als er sie kennen lernte, lebte sie in einer drückenden Lage, die sie nicht verschuldet hatte. Ehe ein Vierteljahr verflossen, erkannte der Mann, wie wenig die Frau für ihn passe, und trotz seiner Anstrengungen, sich in sein selbstgeschaffenes Loos zu fügen, wollte es ihm nicht gelingen, ein erträgliches Verhältniß herbeizuführen. Der Zufall vollendete seine Pein. Der arme Mann lernte nämlich ein Mädchen kennen, das die Natur mit allen Eigenschaften beschenkt, die sein völliges Glück ausmachten. Es herrschte eine Uebereinstimmung in den Gesinnungen und Gefühlen, die, wenn sie in seiner Ehe stattgefunden, ihn zum glücklichsten Menschen gemacht haben würde. Jetzt erst lernte er die wahre Liebe kennen, sie bemächtigte sich seines Herzens, obgleich er mit einem wahren Heldenmuthe dagegen kämpfte. Seine Frau war gut und schön, sie erfüllte ihre Pflichten mit großer Hingebung, aber sie vermochte sein Herz nicht auszufüllen, das für sie nur Mitleid empfand. Er kam selbst zu der Erkenntniß, daß seine Frau nur mit Dankbarkeit, und nicht mit wahrer Liebe an ihm hing. Was sollte er nun beginnen? Der Fall war kritisch. Hier fesselte ihn die Ehe, und dorthin zog ihn die Liebe mit magischer Gewalt. Die Gattin wollte er nicht kränken, und die Geliebte konnte er nicht lassen. Da erfährt endlich die Frau die Verirrung ihres Mannes, wie sie seine Neigung nannte. Eine Zeit lang verschweigt sie ihm diese Entdeckung, und sucht ihn durch mancherlei Mittel zu fesseln; später spielt sie die Gekränkte und Großmüthige, und endlich giebt sie ihren Verdruß offen zu erkennen. Der Mann ist nachsichtig, er schildert ihr seinen Zustand, bittet sie, sich selbst zu prüfen, und schlägt vor, die für beide Theile unglückliche Ehe friedlich zu lösen. Dieser Vorschlag erweckt in der Frau ein falsches Ehrgefühl, sie glaubt sich in ihrem Rechte, wenn sie die Scheidung verweigert, und ist fest entschlossen, dem Manne die Fesseln der Ehe nicht abzunehmen. Jetzt fordert der Mann eine Entscheidung des bürgerlichen Gerichts, und die Trennung von einer Frau, mit der er nie glücklich sein könne, da sich ihre Herzen nie verstanden haben.“
„Wird das Gericht diesen Scheidungsgrund gelten lassen?“ fragte Joseph.
„Nein; aber dessen ungeachtet habe ich der Frau von längerem Widerstande abgerathen. Was hat sie gewonnen, wenn der Mann gezwungen ist, ferner mit ihr zu leben? Hier muß die Ehre, und nicht das Gericht entscheiden!“ sagte Julius, indem er ein Glas verschlang.
„Das galt mir!“ dachte Joseph mit einem unbeschreiblichen Gefühle. „Er schildert das Verhältniß eines Mannes, während er das meiner Frau meint. Ich bin der, den sie aus Mitleid geheirathet hat, und aus Dankbarkeit soll ich mich nun freiwillig von ihr trennen, damit ich ihrem Glücke nicht hinderlich bin. Der Fingerzeig ist deutlich genug, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Clientin meine Frau gewesen ist.“
[333] Der arme Joseph saß wie betäubt auf seinem Platze. Alles, was sich diesen Morgen ereignet, erschien ihm wie ein Traum; er hatte eine zu gute Meinung von der Welt, als daß er solche Dinge sofort für Wirklichkeit halten konnte. Der Advokat hatte an die Instanz seiner Ehre appellirt, und Joseph war ein Mann, dem die Ehre über Alles ging. Hier entfaltete sich sein Charakter, denn schon nach einer Minute war er nicht mehr niedergeschlagen, sondern er kämpfte nur noch mit der Ueberraschung, die ihm der schlaue Advokat absichtlich bereitet. Er sollte über seine Gattin, über seine angebetete Louise richten, und er fand in seiner Seele nicht nur die Unparteilichkeit, sondern auch die Unbeugsamkeit eines Richters.
„Was hältst Du von dem Handel?“ fragte Julius, den der Wein ein wenig erhitzt hatte.
„Ich bin ganz Deiner Ansicht“, antwortete er mit einer gräßlichen Kälte. „Hier hat nicht das Gericht, sondern die Ehre zu entscheiden.“
Er ergriff seinen Hut, grüßte und ging nach der Stadt zurück.
Das Verhältniß zwischen den beiden Freunden war zerrissen. Der Kaufmann zweifelte nicht mehr an dem, was er bisher gescheut zu glauben, und der Advokat war froh, auf so geschickte Weise den Frieden gebrochen und dem Feinde die erste Wunde beigebracht zu haben.
„Louise liebt mich“, dachte Julius, indem er seinen Garten durchstreifte; „aber sie wird durch den Doctor abgehalten, diese Neigung zu nähren. Jetzt kennt Joseph den Zustand ihres Herzens, er wird, so wie ich ihn kenne, auf Erklärung dringen, und Louise, die schwach genug war, sich der Tyrannei ihrer moralischen Pedanten zu fügen, wird gezwungen sein, ihr peinliches Schweigen zu brechen. Das war ein vortrefflicher Coup, eines scharfsinnigen Juristen würdig. Herr Doctor Friedland, ich gewinne meinen Prozeß, und der Kaufmann Raimund wird als letzte Instanz das Urtheil unterzeichnen.“
Julius aß in seinem Landhause vergnügt zu Mittag, und fuhr dann in einem eleganten Wagen zur Stadt, um in seinem Bureau ein Stündchen zu arbeiten.
Joseph Raimund kam zu Hause an. Wie immer, wenn er von der Börse zurückkehrte, betrat er auch heute das Zimmer seiner Gattin. Nichts verrieth, daß sie einen Ausgang gemacht hatte. Ihre Toilette war dieselbe, die sie zu machen pflegte, wenn sie zu Hause blieb.
„Was fehlt Dir?“ fragte sie in zärtlicher Besorgniß. „Du siehst sehr bleich aus, lieber Joseph, und Deine Augen sind trübe.“
Zugleich schlang sie ihren schönen Arm um seinen Hals und küßte seine bleiche Wange.
Joseph erbebte unter diesen Zärtlichkeiten, denn sie erschienen ihm so wahr und so innig, daß Louise eine Meisterin in der Verstellungskunst sein mußte, wenn sie erkünstelt waren, und er hielt sie in diesem Augenblicke für erkünstelt. Mit einem durchbohrenden Blicke sah er auf das reizende Weib nieder. Wie betroffen ließ Louise den Arm sinken.
„Mein Gott, was hast Du?“ flüsterte sie bestürzt.
Er schützte heftigen Kopfschmerz vor, und ging langsamen Schrittes in dem Zimmer auf und ab, wo Alles Glück und Liebe athmete, in jenem so ruhigen Zimmer, wo sich jetzt ein zerstörender Sturm vorbereitete.
Louise blieb regungslos an ihrem Platze stehen, sie hatte die kleinen zarten Hände gefaltet, und sah ihrem Gatten mit ängstlichen Blicken nach. So hatte sie ihn noch nie gesehen, es mußte also etwas Außerordentliches vorgefallen sein, und ihr Gewissen erinnerte sie an Julius.
„Das Wetter ist schön – bist Du heute noch nicht ausgewesen?“ fragte er scheinbar absichtslos, aber getrieben durch den letzten jener tausend Gedanken, die sich heimlich in die lichtere, obgleich von der Eifersucht heftig bewegte Ueberlegung eingeschlichen hatten.
„Nein!“ antwortete sie zögernd und zitternd.
Joseph hatte eine rasche, sichere Antwort erwartet, denn im Grunde seines Herzenn ließ sich immer noch eine Stimme hören, welche die so zärtlich geliebte Gattin für schuldlos erklärte. So konnte nur eine Sünderin antworten, die sich plötzlich auf der That ertappt sieht. Dieses „Nein“ durchschnitt ihm die Seele. Er blieb stehen, und starrte seine Gattin mit einem Blicke an, vor dem sie erbebte. Da stand sie wie eine schöne Marmorstatue; alles Blut war aus den Wangen gewichen, und das große Auge, das ihm sonst vertrauensvoll und liebend angeblickt, hatte sich zu Boden gesenkt.
„Louise!“ rief Joseph in einem herzzerreißenden Tone.
Da erinnerte er sich plötzlich der Worte des Advokaten, wonach sie ihn aus Mitleiden und aus Gehorsam gegen den Vater geheirathet hatte. Er gedachte seines Eintritts in das Haus des reichen Kaufherrn, und der Wohlthaten, die man ihm erzeigt hatte. Seine schmerzliche Entrüstung war gebannt, und der ihm angeborene Stolz regte sich mächtig in seiner Brust.
„Hast Du mir nichts zu sagen, Louise?“ fragte er ruhig, aber mit bebender Stimme. „Benütze meine augenblickliche Verfassung [334] denn ich bin im Stande, Alles, Alles zu hören! Louise, nicht um Dich zu rechtfertigen fordere ich, daß Du redest, denn ich habe kein Recht, Dir Vorwürfe zu machen; aber um meinen qualvollen Zustand des Zweifelns und Hoffens zu beenden, wirst Du reden. Ich bin eine Kreatur Deines großmüthigen Vaters, der mir die Tochter wie sein Vermögen anvertraute – ich habe seine Kapitale redlich verwaltet, und darüber werde ich ihm Rechenschaft ablegen; ob ich aber Deinem Herzen genügt, wirst Du entscheiden müssen, denn nur Du kennst es. Warum zitterst Du vor Joseph, der als Waisenknabe Dein väterliches Haus betrat? Fürchte nicht, daß ich meine Stellung verkenne, denn was der Dankbarkeit unmöglich sein sollte, wird mein Ehrgefühl vollbringen. Darum antworte mir offen: hast Du in meiner Abwesenheit das Haus verlassen ?“
„Ja, ich war ausgegangen, Joseph,“ antwortete sie mit unsicherer Stimme, obgleich ihr bleiches Gesicht ruhig blieb. „Wenn ich es im ersten Augenblicke leugnete, so geschah es aus Rücksicht für Deinen aufgeregten Zustand, den ich vorübergehen lassen wollte.“
Ein kalter Schauder durchbebte den armen Joseph.
„Der Advokat hat Recht!“ dachte er. „Nur aus Mitleid hat sie bisher geschwiegen, und nur aus Mitleid sprach sie jetzt diese Lüge aus. Louise,“ sagte er laut, „seit meiner Rückkehr von der letzten Reise hat sich der Argwohn meines Herzens bemächtigt, und ich gestehe offen, daß ich ihn mit aller Kraft, obgleich vergebens, bekämpft habe. Ende diesen Kampf, der mich aufreibt, gieb mir Gewißheit, und bekenne mir Alles, was in Deinem Herzen vorgeht.“
Die junge Frau sah auf, und eine leichte Röthe verbreitete sich über ihre Wangen.
„Joseph, so hast Du mich mit unwürdigem Verdachte verfolgt?“ fragte sie.
„Nein, dessen ist Gott mein Zeuge!“
„Was ist heute geschehen? Woher kommt Deine Aufregung?“
„Der Zufall führte mich Dir an einem Orte entgegen, wo ich Dich nicht vermuthete. Du hast mich gesehen –“
„Ich?“ rief sie aus. „Doch Du glaubst mir ja nicht mehr,“ sagte sie schmerzlich hinzu, „Du kannst mir vielleicht nicht mehr glauben, weil der Schein gegen mich ist. Ich habe diesen Morgen einen Gang zu unserm Arzte unternommen – er war nicht zu Hause, und so kehrte ich zurück.“
„Du warst nur bei dem Doctor?“
„Nur bei ihm. Aber frage mich nicht weiter – vertraue mir nur noch kurze Zeit, und Du wirst das kleine Geheimniß erfahren, das ich jetzt zu bewahren gezwungen bin. Joseph, das Vertrauen ist eine Tugend der Liebe – bewahre es mir, daß ich nicht an Deiner Liebe zweifeln muß, denn dieser Zweifel wäre mein Tod. In diesem Augenblicke bin ich so aufgeregt, daß ich mich nicht vertheidigen kann; aber ich bin kein arglistiges Weib, und daß ich Dich liebe mußt Du wissen, wenn Du die Vergangenheit bedenkst. Das ist mein Bekenntniß, mehr kann ich Dir nicht sagen.“
„Louise, was forderst Du?“ rief Joseph. „Umgeben von Zweifeln, die den Glauben des Mannes erschüttern und seine Eifersucht erregen müssen, soll ich Dir vertrauen? Louise, ich bin nicht mehr der Erste, nicht mehr der Einzige in Deinem Herzen.“
„Mein Gott, Du zweifelst an meiner Liebe?“ rief sie unter Thränen.
„Ich verberge Dir keinen meiner Gedanken, und Du –“
„Sprich nicht weiter, Joseph!“ rief sie hastig und in einer furchtbaren Angst. „Sage mir nur jetzt nichts – wir müssen Beide schweigen, wenn wir nicht muthwillig unser Glück zerstören wollen.“
Ein Diener trat ein und meldete, daß das Mittagsessen aufgetragen sei.
„Ich habe gegessen!“ sagte Joseph.
„Man warte nicht auf mich!“ fügte Louise hinzu.
Verwundert entfernte sich der Diener, indem er zugleich einen mitleidigen Blick auf seinen Herrn warf.
„Louise,“ wandte sich Joseph zu seiner Gattin, „Dir fehlt der Muth, mir mündlich eine Eröffnung zu machen von der Dein zukünftiges Glück und meine Ehre abhangen – ich erwarte einen Brief von Dir. Du wirst dem Papiere um so leichter Alles anvertrauen können, wenn der Anblick meiner Person Dein Mitleid nicht mehr rege macht.“
Nach diesen Worten ging er in sein Arbeitszimmer.
„Was ist das? Was ist das?“ flüsterte Louise. „Diese ängstlichen Zweifel dürfen nicht länger mein Herz zerfleischen, und noch heute soll der Doctor Alles erfahren, damit er dem traurigen Zustande ein Ende mache. Ich will Nichts, Nichts verhehlen; ehe ich länger ein solches Leben fortführe, will ich lieber der traurigsten Gewißheit zum Opfer fallen.“
Die junge Frau setzte sich an ihren Schreibtisch, ergriff die Feder, und begann zu schreiben. Nach einer Stunde rief sie ihre Kammerfrau.
„Diesen Brief besorgen Sie selbst sogleich zum Doctor Friedland. Tragen Sie Sorge, daß hier im Hause Niemand erfährt, wohin Sie gehen. Sie werden so rasch als möglich zurückkehren.“
Denselben Abend noch erschien der Doctor in dem Hause des Kaufmanns. Er fragte nach Madame Raimund, und man führte ihn in ihr Zimmer. Bei seinem Eintritte erhob sich die junge Frau von dem Sopha, sie trocknete rasch ihre Thränen, und streckte dem Arzte die Hand entgegen.
„Ich komme selbst, um Ihnen die Antwort auf Ihren Brief zu bringen,“ sagte er in einem freundlichen Ernste. „Unsere Angelegenheit ist so wichtig und erfordert eine so zarte Behandlung, daß ich das Schreiben so oft vermeide, als nur möglich.“
Der Arzt führte Madame Raimund zu dem Sopha zurück und ließ sich neben ihr nieder. Dann ergriff er traulich ihre Hand und sagte: „Sie haben mich aufgefordert, der Arzt Ihrer Ehre zu sein – Louise Cordes hat Ansprüche auf meine väterliche Liebe, und ich stehe nicht einen Augenblick an, Ihrem Wunsche zu willfahren.“
Louise erröthete und begann zu weinen.
„Doctor,“ stammelte sie, verwirrt vor Beschämung, „ich, muß Ihnen mein Herz ausschütten! Ich bin keine Sünderin, die durch eine reuige Beichte ihre Schuld sühnen will – ich habe Nichts verbrochen, meine Seele ist rein, und mein Gewissen klagt mich nicht an; aber ich bedarf eines rathenden Freundes, der kräftigen Hand eines aufrichtigen Beschützers.“
„Ich verspreche, Ihnen Beides zu sein.“
„Mein Brief enthielt einige schwache Andeutungen von dem, was Sie wissen müssen, Doctor. Ach, fürchten Sie nicht, der Mitwisser eines gefährlichen Geheimnisses zu werden!“ rief sie leise aus, und indem sie ihr Gesicht mit dem weißen Batisttuche bedeckte, um die aufsteigende Röthe der Schaam und Verlegenheit zu verhüllen.
„Nein, das fürchte ich nicht, meine arme Louise, denn ich müßte Sie nicht kennen, um so etwas vorauszusetzen. Man hat es gewagt, Ihr Glück, Ihre Ehre anzutasten – –“
„Wie, Sie wissen? “ fuhr Louise überrascht auf.
„Ich weiß bereits Alles,“ sagte lächelnd der Arzt, „und ich freue mich, Ihnen die Erzählung Ihrer Leiden ersparen zu können.“
Plötzlich erbleichte die junge Frau.
„Wer hat es Ihnen gesagt?“ flüsterte sie mit tonloser Stimme. „Vielleicht mein Mann?“
„Nein, nein: Joseph kennt vielleicht nicht einmal die Gefahr, die sein häusliches Glück bedroht, und wir werden sie abgewendet haben, ehe er sie ahnt.“
„Doctor, er kennt sie bereits!“ rief Louise.
„Wie?“ fragte der Greis erschreckt. „Sollten Sie eine Unvorsichtigkeit begangen haben?“
Louise erzählte Joseph’s Rückkehr und ihre Unterredung mit ihm.
„Mein würdiger Freund,“ schloß sie mit bewegter Stimme, „der Gedanke, Julius Morel angehört und seine Briefe nicht ungelesen zurückgesendet zu haben, lastet wie ein furchtbares Verbrechen auf meiner Seele. Von einer mir unerklärlichen Angst gefoltert, leugnete ich, daß ich ohne Wissen meines Mannes in Ihrem Hause gewesen bin, denn mir ist, als ob der leiseste Argwohn von seiner Seite mein ganzes Lebensglück zertrümmern müßte. Ich bin unschuldig, Doctor, und dennoch kann ich nicht ganz offen gegen ihn sein. Daß er nie die Verirrung seines Jugendfreundes erfahren sollte, war mein eifrigstes Bemühen, es widerstrebte meinem [335] Gefühle, als die Anklägerin des jungen Mannes aufzutreten, dessen Vater Joseph als den Gründer seines Glücks betrachtet. Julius ist ein falscher Freund, aber mein Mann wird so lange nicht daran glauben, und er wird mir vielmehr einen großen Theil der Schuld beimessen, bis ich die schlagendsten Beweise vorlege, daß ich selbst eine durch Raffinerien umstrickte Thörin bin. Doctor, Ihnen bekenne ich, daß meine Eitelkeit sich in den Huldigungen gefiel, die mir Julius brachte; aber leider merkte ich zu spät, daß ich dem Freunde meines Mannes zu viel gestattet hatte. Was ich für unschuldige, selbst alberne Scherze gehalten, nahm er als Dinge von Bedeutung, und der Advokat folgerte hieraus Rechte für sich, die mich erzittern machten. Er schrieb mir Briefe, die, wenn sie ein mit den Verhältnissen unbekannter Mensch gelesen, mich offenbar eines Ehebruchs zeihen müßten; und dennoch habe ich mich gegen Julius so benommen, daß es höchstens deshalb zu verdammen ist, weil es in der Abwesenheit meines Joseph geschehen. Eine schwere Krankheit war die Folge meines Seelenkampfes, ich habe meine Unvorsichtigkeit schwer gebüßt, und wie es scheint, werden sich noch schrecklichere Folgen derselben einstellen. Helfen Sie, retten Sie, Doctor, und überzeugen Sie meinen Mann, daß ich nie aufgehört habe, ihm treu zu sein, daß ich nicht einmal weiß, woher die Fäden der Bosheit so plötzlich gekommen sind, die mich umschlungen halten.“
Die junge Frau trocknete ihre Thränen, die jetzt häufiger aus den schönen Augen hervorquollen.
„Mein armes Kind,“ sagte theilnehmend der Arzt, „ich kenne Ihre Gefahr, und habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß der Advokat sich Rechte anmaßt, wozu kaum ein Scheingrund vorliegt. Sie haben ihn angelächelt – und er spricht von Zärtlichkeiten; Sie haben Joseph einen eifrigen Kaufmann genannt – und er spricht von einem trocknen Geschäftsmanne, der Ihr Herz nicht auszufüllen vermag – kurz, er will Sie schuldbewußt machen, damit Sie, aus Furcht vor der öffentlichen Meinung, sich ihm ganz überlassen müssen. Herr Julius Morel bewährt sich hier als ein schlauer Advokat, wie im gemeinen Geschäftsleben; ist kein Grund zu Prozessen vorhanden, so zieht man ihn mit Haaren herbei. Also Joseph äußerte diesen Mittag den ersten Argwohn?“
„Ja.“
„Und Sie sind sich seit Ihrer Krankheit keines Schritts bewußt, der Anlaß dazu gegeben haben könnte?“
„Das schwöre ich bei dem allmächtigen Gotte!“
„Dann hat der Advokat es versucht, den Saamen des Argwohns in das Herz Joseph’s zu streuen. Jetzt gilt es, ihm zu beweisen, wer Herr Julius Morel ist. Kennt er die Gesinnungen des Advokaten, so kann er seine Gattin um so leichter und sicherer beurtheilen. Aber Sie müssen mir helfen, Madame.“
„Wie kann ich?“
„Fragen Sie nicht, Sie sind die Kranke, ich bin der Arzt. Setzen Sie sich, und schreiben Sie, was ich Ihnen dictire. Wir haben ein starkes Uebel zu heben, folglich müssen wir starke Mittel anwenden.“
Louise saß am Schreibtische, und der Doctor dictirte, indem er sich über ihren Stuhl hinabneigte: „Mein Herr! Die Antwort auf Ihren letzten Brief muß ich Ihnen mündlich mittheilen. Sie werden mich diesen Abend neun Uhr in meinem Landhause antreffen.“
Louise sah bestürzt empor.
„Schreiben Sie,“ sagte der Doctor lächelnd. „Ich bedarf nur dieses Briefes, für eine Stellvertreterin bei dem Rendezvous werde ich Sorge tragen. Also: antreffen. Mein Mann ist von dem Doctor Friedland zum Abendessen eingeladen, und wird spät nach Hause kommen. Louise. Jetzt siegeln und adressiren Sie das Billet.“
„Hier, Doctor, ich lege meine Ehre in Ihre Hand!“ sagte Louise, indem sie zitternd das Briefchen überreichte.
„Und der Doctor giebt Ihnen dafür den von Eifersucht und Argwohn geheilten Mann zurück. Bis sieben Uhr ist der Advokat in seinem Bureau – erlauben Sie mir, daß ich Ihre alte Meta dorthin absende. Und nun leben Sie wohl; die Folgen meiner Kur werden Sie vielleicht heute noch an Ihrem Manne spüren.“
„Gott gebe es!“
Auf der Hausflur fertigte der Arzt die Kammerfrau ab, dann trat er in das Comptoir, wo Joseph arbeitete. Der junge Kaufmann empfing den Greis mit einer schmerzlichen Freundlichkeit.
„Mein Freund,“ flüsterte er, „für diesen Abend gehören Sie mir an. Ihr Arzt befiehlt, daß Sie heute schließen, bei ihm speisen, und dann mit ihm einen Spaziergang unternehmen. Jetzt ist es halb sieben Uhr – ich habe noch einen Kranken zu besuchen – halb acht Uhr treffen Sie mich zu Hause.“
Joseph versuchte Einwendungen zu machen, und schützte den Posttag vor.
„Auch ich habe Ihnen Postberichte mitzutheilen, die wichtiger sind, als alle andern,“ flüsterte der Arzt. „Doch erschrecken Sie nicht, es sind keine Hiobsposten. Also?“
„Ich komme, Doctor!“ antwortete Joseph.
„Sie wissen, ich liebe Pünktlichkeit!“ rief der Arzt und entfernte sich.
Auf der Straße begegnete er Louise’s Kammerfrau, die von dem Advokaten zurückkehrte.
„Nun?“ fragte er.
„Ich traf ihn zu Hause. Er nahm das Billet, durchflog es, und gab mir einen Louisd’or für den Weg. Dann entließ er mich, ohne ein Wort hinzuzufügen.“
„Gut, liebe Frau, ich danke Ihnen,“ sagte der Arzt, indem er seinen Weg fortsetzte. „Die Antwort genügt, denn sie beweist, daß der schlaue Advokat in die Falle geht.“
Der Doctor betrat nun ein Gasthaus. Eine Stunde später empfing er Joseph in seinem Zimmer, wo das Abendessen vorbereitet war. Die beiden Männer aßen, wobei der Doctor zur Eile antrieb, dann traten Sie den Spaziergang zu dem Landhause an.
Die Dämmerung war längst angebrochen, als der Doctor seinen Freund durch die Seitenwege zwischen den Hecken zu dem ihm wohlbekannten Landhause führte. Der Gärtner, der in einem niedlichen Häuschen wohnte, öffnete das Gitter, und ließ die Männer in den Saal der kostbar eingerichteten Villa treten. Während Joseph sich damit beschäftigte, eine große Astrallampe anzuzünden, war der Doctor auf die Stufen der Treppe hinausgetreten, und sprach leise mit dem alten Gärtner.
„Wir erwarten noch Gäste,“ sagte er, „einen Herrn und eine Dame. Führt sie in den Saal, Alter, aber verschweigt ihnen, daß wir bereits angekommen sind. Wir beabsichtigen einen Scherz, wenn Ihr plaudert, ist er verdorben, und Herr Raimund könnte Euch leicht aus dem Dienste jagen. Auf Befragen könnt Ihr sagen, daß Ihr gegen Abend den Befehl erhalten hättet, um neun Uhr die Lampe in dem Salon anzuzünden, die, wie ich sehe, bereits brennt. Läuft Alles gut ab, so erhaltet Ihr von mir den Lohn.“
„Gut, Herr Doctor, werde Alles pünktlich besorgen!“
Der Gärtner zog seine Mütze, und entfernte sich. Der Arzt ging in den Saal zurück. In demselben Augenblicke schlug die Pendule auf dem Kamine neun Uhr.
„Mein Freund,“ sagte er zu Joseph, „jetzt nehmen Sie Ihren Hut und folgen Sie mir.“
„Wohin?“
„Hinter die Glasthüre dieses Kabinets mit den grünen Vorhängen.“
„Doctor, was haben Sie vor?“
„Sie sollen mit mir einen kranken Mann und eine leidende Frau beobachten – ich habe mir vorgenommen, Beide zu heilen. Ziehen Sie daraus Ihre Schlüsse, und wenden Sie sie bei vorkommenden Fällen an.“
„Um Gotteswillen, Doctor, wer sind diese Personen?“ rief Joseph in einer furchtbaren Aufregung.
[345] In diesem Augenblicke ließ sich die Glocke am Thore vernehmen. Anstatt zu antworten, ergriff der Doctor Joseph’s Hand, und zog ihn hastig in das Kabinet, dessen Thür er hinter sich verschloß. Die Männer nahmen so auf zwei Stühlen Platz, daß sie durch die Vorhänge den hellerleuchteten Saal übersehen konnten.
„Und nun denken Sie“, flüsterte der Doctor, „daß sie an dem Krankenbette Ihrer Louise sitzen. Vermeiden Sie jedes Geräusch, und fassen Sie sich in Geduld; daß diese Krisis heilbringend ist, verbürge ich mit meinem grauen Kopfe. Beobachten Sie genau, aber staunen Sie über nichts, was auch kommen möge. Fragen Sie mich nicht, denn ich werde nicht antworten.“
Die Pein des armen Joseph läßt sich nicht beschreiben, als er den Advokaten in den Saal treten sah. Er war der festen Meinung, daß er Zeuge von der Arglist seiner Frau sein sollte. Mit einem verzweifelten Muthe entschloß er sich, zu lauschen, und dann seine Einrichtungen darnach zu treffen.
Julius, höchst elegant gekleidet, ging lächelnd im Saale auf und ab. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, sah nach der Uhr und lauschte. Als sich kein Geräusch vernehmen ließ, trat er zu dem Tische, auf dem die Lampe brannte, zog ein Billet hervor und las.
„Er prüft noch einmal, ob es echt ist“, dachte lächelnd der Doctor. „Ah, mein Freund, wir machen die Handschriften nicht nach, so lange uns die Originale zu Gebote stehen.“
Fünf Minuten verflossen. Da erklang die Glocke am Thore wieder. Joseph sah, wie Julius stehen blieb, mit einem triumphirenden Lächeln nach der Thür blickte, und mit der Hand durch das krause Haar fuhr. Der Doctor ergriff die Hand des jungen Kaufmanns, als ob er ihm Muth einflößen wollte; bei dieser Gelegenheit fühlte er, wie sein Puls jagte, und die Hand brannte.
„Es ist nichts! Es ist nichts!“ flüsterte er an seinem Ohre.
Joseph lauschte in einer furchtbaren Spannung. Da ward zum zweiten Male die Thür geöffnet, und eine Dame trat ein. Sie trug einen kurzen seidenen Mantel und einen weißen Hut, dessen Schleier das Gesicht bedeckte. Nachdem sie vorsichtig die Thür verschlossen, trat sie tiefer in den Saal.
„Meine Frau!“ flüsterte der Kaufmann, dem das Blut in den Adern stockte. Und mit einem konvulsivischen Zittern ergriff er die Hand des Arztes, ohne die beiden Personen im Saale außer Acht zu lassen.
„Ruhig, ruhig!“ mahnte der Doctor.
Die Lauscher sahen nun, wie der Advokat der jungen Frau entgegentrat, ihre kleine mit weißen Handschuhen bekleidete Hand ergriff, und sie zärtlich küßte.
„Endlich?“ rief er aus. „Die Minuten sind mir zu Stunden geworden, und schon zweifelte ich, daß ich diesen Abend so glücklich sein würde, Ihnen die Gefühle meiner aufrichtigsten Verehrung ausdrücken zu können. Ach, Louise, Sie haben bisher grausam mit mir gespielt!“
Die Dame antwortete nicht, aber ihr ganzer Körper begann zu zittern, und ein leises Schluchzen ließ sich vernehmen.
„Sie weinen!“ rief Julius Morel mitleidig. „O, diese Thränen brennen wie Feuer auf meinem Herzen! Louise, brechen Sie diese lästigen Fesseln, vertrauen Sie mir, der sich auch ohne Ihren Willen mit Ihrem Glücke beschäftigt hat, vertrauen Sie dem guten Geiste der wahren Liebe, und die Zukunft wird eine heitere, eine lichtvolle sein. Sie haben mich bisher nicht verstanden, Sie haben wie eine fromme Dulderin gelitten, ohne die Quelle Ihres Leidens zu kennen. – Louise, heute werden Sie mir sagen, daß ich Recht gehabt habe! Wie Keiner in der Welt fühle ich mich berufen, Ihr Glück zu fördern, und bei Gott, ich werde es befördern! Immer noch Thränen als Antwort? Können Sie sich nicht entschließen, mir Ihr Herz auszuschütten? Louise, lassen Sie mich in Ihrem schönen Auge lesen, was Sie den Muth nicht haben mir zu sagen, und ich vollende das Werk Ihrer Befreiung, das ich bereits wider Ihren Willen begonnen habe!“
Julius warf den Schleier zurück. Doch kaum hatte er das Gesicht der Dame erblickt, als er bestürzt zurückwich, und einen lauten Schrei ausstieß. Joseph suchte seine Augenkraft zu verdoppeln, und er sah ein fremdes, aber sehr schönes Frauengesicht, das von Aufregung geröthet, und in Thränen gebadet war.
Das Wesen des Advokaten hatte sich plötzlich verändert. Bleich vor Zorn und zitternd am ganzen Körper trat er der jungen Frau wieder näher, und rief mit erstickter Stimme: „Du, Helene, Du? Wahrlich, Du spielst eine vortreffliche Rolle! Bekenne, Elende, wer hat Dich dazu gedungen? Wie kommst Du in dieses Landhaus?“
„Wer mich dazu gedungen?“ fragte eine zarte, bebende Stimme. „Niemand, Herr Advokat Morel! Ich glaube, ich habe ein Recht dazu, meinen Mann an das zu mahnen, was er mir vor dem Altare Gottes feierlich gelobt hat! Diesen Mittag boten Sie mir Geld, wollten mir meine Ansprüche an Sie abkaufen, und droheten selbst, mich durch Ihren Einfluß zu vernichten, wenn ich mich nicht gutwillig fügte.“
„Und es wird noch geschehen!“ sagte Julius, der seine Fassung wiedererlangt, in einer furchtbaren Ruhe und Kälte. „Madame, Sie kennen jetzt ein Geheimniß meines Herzens, das Ihnen darthun muß, wie wenig Sie von mir erwarten können. Ich wiederhole [346] jetzt noch einmal alle meine Anerbietungen, und fordere dagegen, daß Sie meine Heirath als eine unbesonnene Jugendthorheit betrachten und vergessen.“
„Julius, Julius!“ schluchzte die arme Frau, „Ihre Liebe zu mir nennen Sie eine Jugendthorheit?“
„Ich habe Sie aus Mitleiden zum Altare geführt.“
„Das ist gräßlich!“ stammelte Helene. Sie weinte einen Augenblick still vor sich hin, dann trocknete sie ihre Thränen und sagte in einer würdevollen Fassung: „Es ist wahr, Julius, ich war arm, als Sie mich in Wien kennen lernten, ich sorgte durch meiner Hände Arbeit für meine kranke Mutter, und hatte oft mit Noth und Entbehrung zu kämpfen; aber was schworen Sie mit einem furchtbaren Eide, als ich, das arme Mädchen, Ihren Liebesbetheuerungen nicht glauben wollte? Sie schworen, sich zu tödten, wenn Sie mich nicht als Gattin heimführen könnten. Damals sprachen Sie nicht von Mitleid, damals war ich nur das Ideal Ihrer Liebe, die Gattin, wie sie Ihre Phantasie sich gedacht hatte. Und mußte ich nicht an die Uneigennützigkeit Ihrer Liebe glauben, da ich Ihnen nichts als meine Ehre und meine innige Zuneigung bieten konnte? Um meine letzten Zweifel zu heben, ließen Sie sich mit mir trauen, ich war die Ihrige, und Sie versicherten mich, daß Sie völlig glücklich seien. Da reisten Sie ab, um meine Ankunft vorzubereiten und versprachen, mich in zwei Monaten Ihrer Familie zuzuführen. Ich erhielt von Zeit zu Zeit Briefe und auch an Mitteln zu meiner Existenz ließen Sie es nicht fehlen; aber Sie kamen nicht zurück und hielten mich zwei Jahre mit der Versicherung hin, daß Sie Ihren Vater nur vorsichtig auf unsere, ohne sein Wissen vollzogene Heirath vorbereiten müßten, da er ein anderes Heirathsproject entworfen habe, und der Verlust Ihres Vermögens auf dem Spiele stehe. Ich bin Ihre Gattin, Julius, und reiste nach Hamburg, um in ihrer Nähe zu leben. Sie haben mich hintergangen, Herr Morel; nicht Ihr Vater hindert Sie, mich anzuerkennen, sondern die Neigung zu einer andern, die Sie jetzt ebenfalls mit ihren Netzen zu umgarnen suchen, wie Sie mich umgarnt haben.“
„Ach, wie gut Sie unterrichtet sind!“ rief Julius höhnend.
„Es macht Ihrer Verschlagenheit alle Ehre, daß Sie sich so geschickt in den Besitz meiner Geheimnisse zu setzen wußten.“
„Das hat Gott gefügt, Herr Morel!“ rief Helene. „Ich bin zur rechten Zeit nach Hamburg gekommen, um Sie an Ihre Pflicht zu mahnen, um Ihre Ehre zu retten.“
„Meine Ehre? Wer hat sie angetastet?“
„Sie selbst!“
„Helene!“ rief drohend der Advokat.
„Sie schrecken mich nicht zurück, Julius, denn Ihre Ehre ist auch die meine, und wenn ich sie zu wahren suche, erfülle ich eine heilige Pflicht. Ich war zwei Jahre von Ihnen getrennt, und in dieser Zeit habe ich mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß ich von Ihrer Liebe mein Glück nicht erwarten darf – der heutige Tag hat es bestätigt. Sie können die arme, liebende Helene zurückstoßen, aber Ihre Gattin werden Sie vor der Welt anerkennen müssen.“
„Wer will mich dazu zwingen?“
„Ich, die arme Helene, die Sie diesen Mittag durch Ihre Domestiken auf die Straße werfen lassen wollten. Mein Herr, Sie haben Ihre Stellung mir gegenüber bezeichnet, ich werde Ihnen jetzt die meinige bezeichnen. Sie sprachen von der Ehe so geringschätzend, wie man von einem gewöhnlichen Handelscontrakte spricht: wohlan, ich verbanne die Liebe aus diesem Contracte, aber ich bestehe darauf, daß er gehalten wird. Mit meiner Bewilligung wird er nie gelöst werden, und Sie werden nun die Folgen Ihrer unbesonnenen Jugendthorheit, wie Sie unsere Heirath zu nennen beliebten, mit mir zugleich tragen. Sie werden morgen Madame Morel der Welt vorführen, und wenn Sie sich weigern – “
„Nun?“ fragte Julius höhnend. „Wenn ich mich weigere?“
„So gebe ich Sie der allgemeinen Lächerlichkeit preis. Man wird über Herrn Julius Morel, den man für den schlauesten Advokaten Hamburgs hält, herzlich lachen, und wo er sich zeigt, mit dem Hohne empfangen, den er verdient. Seht, wird man sagen, da ist der vorsichtige Jurist, der zuverlässige Mann, der die Gattin seines besten Freundes durch die raffinirtesten Floskeln zu verführen trachtete, der ihr die zärtlichsten, eindringlichsten Briefe schrieb, dem es endlich gelang, durch seinen Scharfsinn die arme Frau zu einer heimlichen Unterredung zu bewegen, und als er der Verführten den Schleier lüftete, seine eigene Gattin, die er schändlich im Stiche gelassen und hundert Meilen entfernt wähnt, vor sich sah, da ist der Mann, der sich für den Besieger einer tugendhaften Frau hält, der sich einbildet, daß er leidenschaftlich von Louise Raimund geliebt wird, und die gute Louise weiß kein Wörtchen davon, denn alle seine rührenden und scharfsinnigen Briefe sind nicht in ihre Hände gelangt.“
„Helene! Helene!“ rief Julius mit bebender Stimme.
„Ja, mein Herr, Sie wollten Ihren besten Freund betrügen, und nun sind Sie selbst der Betrogene. Nicht wahr, das ist eine lustige Geschichte? Was meinen Sie, wenn sie die Fama durch die Stadt trägt? Was meinen Sie, wenn man sich Ihre Briefe, ein Muster von Stylistik und Scharfsinn, in Abschriften in den Kaffeehäusern vorliest? Und das Alles hängt von mir ab, Herr Advokat – denn ich besitze die verhängnißvollen Briefe, von deren Existenz Madame Raimund keine Ahnung hat. Jetzt kennen Sie meine Waffen – es steht bei Ihnen, den Kampf einzustellen oder fortzusetzen.“
Julius stand wie versteinert in der Mitte des Saales. Wie aus einem tiefen Nachsinnen raffte er sich plötzlich empor und fragte: „Helene, wo sind die Briefe?“
„Hier!“ rief triumphirend die junge Frau, indem sie ihm ein kleines Paket zeigte.
„Und wer gab sie Dir?“
„Der Schutzengel Louise’s, der sie empfing und aufbewahrte.“
„Gestehe es nur, der Doctor Friedland!“ sagte der Advokat.
Joseph konnte sich nicht enthalten, die Hände des Doctors inbrünstig zu drücken.
„Sie gehören mir,“ fuhr Helene ausweichend fort, „und der freundliche Geber überläßt sie mir so lange, als es zu meiner Sicherstellung nöthig ist.“
Der Advokat betrachtete sinnend die wirklich reizende Helene, die mit hoch gerötheten Wangen und flammenden Augen vor ihm stand.
„Weib,“ rief er plötzlich aus, „welch ein Geist ist in Dich gefahren?“
Die junge Frau trat ihm näher, und ergriff seine Hand.
„Julius,“ sagte sie in einem weichen Tone, „mächtiger noch als die Liebe der Jungfrau, ist die Liebe einer Mutter. Für das Glück ihres Kindes kämpft sie mit dem Muthe eines Mannes; aber sie verzeiht auch eben so leicht, wenn sie auf friedlichem Wege ihr Ziel erreichen kann. Sorge für Dein Kind, schaffe ihm eine ehrenvolle, glückliche Zukunft und Du hast die erzürnte Mutter nicht mehr zu fürchten. Meine Liebe opfere ich – aber nicht mein Kind.“
„Jetzt ist es Zeit,“ sagte der Arzt, indem er aufstand, die Thür öffnete, und Joseph in den Saal zog.
Bei dem Erblicken der beiden Männer erbleichte der Advokat.
„Mein Herr,“ sagte der Arzt, „unser Prozeß ist zu Ende. Wir kommen nicht, um Ihnen Vorwürfe zu machen, sondern unser Erscheinen soll Ihnen nur andeuten, daß wir das Schicksal Ihrer armen Gattin kennen. Sie hat viel gelitten, und nur mit großem Widerstreben hat sie sich zu der Rolle verstanden, die ich ihr zugetheilt. Wären Sie weniger befangen gewesen, so hätten Sie die Pein Ihrer Frau erkennen müssen. Ich bestätige feierlich vor Gott, daß nur die Mutterliebe ihr die Kraft gab, sich meinem Rathe zu fügen. Aber auch Sie mögen meinen Rath hören: folgen Sie dem bessern Gefühle Ihres Herzens, und erfüllen Sie die eingegangenen Pflichten als ein braver Mann. Dann sind Ihre Verirrungen vergessen, und Sie können der Zukunft ruhig entgegensehen. Glauben Sie mir, die Zeit bleibt nicht aus, wo der Verstand zu ohnmächtig ist, um die Gewissensscrupel hinwegzuphilosophiren.“
„Julius,“ rief Joseph mit bewegter Stimme, „Du hast mir also nicht den Zustand Louise’s, sondern den Deiner eigenen Gattin geschildert, als ich diesen Mittag bei Dir war?“
Der Advokat reichte dem Kaufmann hastig die Hand.
„Lebe wohl, Joseph!“ rief er sichtlich bewegt. „Ist es mir vergönnt, so glücklich mit meiner Frau zu werden, als Du es mit Deiner Louise zu sein verdienst, so habe ich mich über die Kur unseres Arztes nicht zu beklagen. Lebe wohl, wir sehen uns nie wieder!“
Julius bot Helenen den Arm und verließ mit ihr das Landhaus. Joseph sank dem Arzte an die Brust.
[347] „Mein Retter, mein Wohlthäter!“ rief er aus „Jetzt begreife ich Alles!“
„Und auch das werden Sie begreifen, mein Freund, daß Sie Louise in einem ungerechten Verdacht gehalten haben. Sie kennt nicht einen einzigen der verhängnißvollen Briefe, denn sie gelangten alle in meine Hände.“
„Aber sie kennt das Unternehmen des Advokaten?“
„Ich hielt es für Pflicht, sie davon in Kenntniß zu setzen. Die Worte, die sie in ihren Fieberphatasien ausstieß, waren die Befürchtung der Möglichkeit eines solchen Falles. Und nun fort, nach Hause!“
Die beiden Männer bestiegen den Wagen den Doctors, der an dem Landhause hielt.
„Wie lernten Sie Helenen kennen?“ fragte der Kaufmann.
„Man rief mich in das Hotel zu dem kranken Kinde einer angekommenen Reisenden. Die junge Dame, die in der That von auffallender Schönheit war, nahm mein ganzes Interesse in Anspruch, und sie faßte ein so großes Vertrauen zu mir, daß sie mir sagte, wer sie war, und mich um Auskunft über die Familie Morel bat. Das Uebrige können Sie sich denken.“
Der Wagen hielt vor Raimund’s Hause. Der Arzt führte den Kaufmann in das Zimmer seiner Gattin. Louise stand vor Erwartung zitternd an dem Bette ihres Kindes, als die beiden Männer eintraten.
„Louise!“ rief Joseph außer sich – und schloß die reizende Frau in seine Arme.
„Kinder,“ sagte der alte Arzt, „wollt Ihr jetzt auf meinen väterlichen Rath hören?“
„Reden Sie, Doctor, reden Sie!“ riefen Beide.
„Stellt keine Erörterungen an, fragt nicht und antwortet nicht, sondern überlaßt Euch dem Glücke des Augenblicks, das neu erstrahlend wie die Sonne nach einem Gewitterregen durch die Wolken bricht. Sie, Freund Joseph, bedürfen einer weitern Aufklärung nicht mehr, und Madame Louise wird vor Eitelkeit bewahrt,“ fügte er lächelnd hinzu. „Die Frau darf nicht wissen daß sie außer ihrem Manne auch noch Andern gefallen. Jetzt bereiten Sie sich zu einer Badereise vor, in vierzehn Tagen müssen Sie in Pyrmont sein. Gute Nacht!“
Der Doctor war verschwunden. Joseph und Louise standen Arm in Arm an dem Bette ihres ruhig schlafenden Kindes, sie sprachen nicht, aber durch eine innige Umarmung feierten sie die Versöhnung nach dem ersten ehelichen Sturme. Beide befolgten um so lieber den Rath des Arztes, da sich jedes nicht ganz vorwurfsfrei wußte. Louise kannte die Briefe des Advokaten, und Joseph schämte sich seiner Eifersucht um so mehr, als er am folgenden Morgen einen Brief erhielt, worin Julius ihm ankündigte, daß er mit seiner Frau und seinem Kinde nach Wien gereis’t sei, und seine Praxis einem befreundeten Advokaten übertragen habe. „Verschweige Deiner Gattin meine Verirrung,“ schloß er, „denn außer in den Briefen, die man ihr glücklicherweise vorenthielt, existiren keine Beweise davon. Der würdige Friedland hat mich vor mir selbst gerettet.“
Vierzehn Tage später hatte das Landhaus Raimund’s ein festliches Ansehen, aus allen Fenstern desselben schimmerte Licht, und die vorübergehenden Spaziergänger blieben stehen, um den fröhlichen Weisen der Quadrillen zu lauschen, und die schön geschmückten Tänzerpaare vorüberschweben zu sehen. Eine glänzende Gesellschaft war in den sinnig verzierten Sälen versammelt, und Alles athmete Frohsinn und Lust.
Louise, einfach aber geschmackvoll gekleidet, saß wie eine Königin in der Mitte von Freunden und Bekannten, und empfing die Glückwünsche zu ihrer Genesung. Als der Doctor Friedland erschien, erhob sie sich, sank dem vor Freude strahlenden Greise an die Brust, und bedeckte ihn im Uebermaße ihrer Gefühle mit Küssen.
Außer Joseph kannte Niemand die doppelte Gefahr, aus welcher der Arzt die junge Frau gerettet, denn die Briefe des Advokaten blieben ein Geheimniß, und auch der Verfasser dieser Erzählung würde keine Kenntniß davon erhalten haben, wenn er nicht vor zwei Monaten unter den nachgelassenen Papieren des allgemein betrauerten Arztes Notizen darüber gefunden hätte.