Am Vorabend der Eröffnung des Congresses

Textdaten
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Titel: Am Vorabend der Eröffnung des Congresses
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 549–551
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Am Vorabend der Eröffnung des Congresses.

Die Amerikaner im Kapitol.

In den letzten Tagen des Jahres tritt jedes Mal der Congreß der Vereinigen Staaten zu seiner ordentlichen Sitzung als höchste gesetzgebende Behörde des Landes zusammen, vor welcher die ersten Beamten hinwiederum Rechenschaft ablegend erscheinen. Der Präsident der Union thut dies in einer an den Congreß gerichteten „Botschaft“, in der er sich über alle inneren und auswärtigen Angelegenheiten ausführlich ergeht. Die Eröffnung der diesjährigen Sitzungsperiode des Congresses steht eben jetzt bevor, und bereits sieht Alles voller Spannung der Botschaft entgegen, mit welcher Präsident Pierce vor die Erwählten des Volks treten wird. Man kennt die Interventionslust der gegenwärtig in Amerika am Staatsruder befindlichen Partei, und dieser Lust zu fröhnen ist zur Zeit die Weltlage wie dazu gemacht. Wie verlautet, wird der Präsident zunächst die Aufnahme der im stillen Oceane auf dem Wege nach China liegenden Sandwichinseln in die Union beantragen, und diese von den Inseln selbst gewünschte Aufnahme wird jedenfalls auch erfolgen trotz englischer und französischer Proteste. Was die Präsidentenbotschaft uns weiter bringen wird, müssen wir abwarten.

Das Kapitol in Washington.

Sobald der Congreß in Washington zusammentritt, beginnen die schönern Tage der Unionshauptstadt, die außerdem ein einförmiges Leben führt. Fast in allen Ländern drängen sich da, wo der Sitz der Regierung ist, die im Volke vorhandenen Hauptkräfte, [550] das Mark des Landes, zusammen, und die Hauptstadt eines Staates kann in den meisten Fällen auch als das Herz desselben gelten. Wer die größern Residenzstädte Europa’s besuchte, wird dies gefunden und kennen gelernt haben. Kommt er dann aber später nach Washington, er würde, dem Aeußern des Ortes nach, nicht die Hauptstadt eines großen Reiches, die Bundesstadt der gewaltigen Freistaaten von Nordamerika, den Sitz der Unionsregierung, vermuthen. Man sieht dort keine glänzenden Carrossen und Livreen, keine betreßten Lakaien und Läufer, keine schimmernden Uniformen, Garden, Wachen und Ehrenposten, keine besternten Fracks, nichts von all’ dergleichen, wie man es in europäischen Residenzen sieht. Der Anblick der sehr weitläufig angelegten Stadt[1], die bei ihrer großen Ausdehnung nur ca. 40,000 Einwohner zählt, ist sogar öde und traurig, zumal wenn man vielleicht von Neuyork einen Abstecher hierher machte und dort kurz zuvor noch in unermeßlichem Gewühle alle Welttheile ihre Schätze austauschen sah.

Der Indianerhäuptling bei seiner Ankunft in Washington.

Der Indianerhäuptling bei seinem Weggange von Washington.

Washington zeichnet sich indeß durch die Eleganz der öffentlichen und Privatgebäude aus, und wenn Du nun, die Stadt durchwandernd, in den westlichern Theil derselben kommst, tritt Dir auf einem Hügel ein kolossales Gebäude entgegen, welches durch sein Aeußeres wie durch seine Größe vielleicht zunächst daran erinnert, daß man sich in einer Stadt von politischer Bedeutung befindet. Jenes ganz Washington beherrschende Gebäude ist das Kapitol!

Das Kapitol, so wie es jetzt dasteht, ist nach dem Kriege von 1814, wo es nebst einem Theile der Stadt durch die Engländer verbrannt wurde, mit einem Kostenaufwand von 1.800.000 Dollars erbaut worden. Dem Hauptgebäude entlang, an das sich zwei Flügel lehnen, läuft ein Portikus von korinthischen Säulen, von welchem aus es in die mit Reliefs und Gemälden aus dem nordamerikanischen Freiheitskriege geschmückte Rotunde führt. Das ganze Gebäude ist 350 Fuß lang, 121 Fuß tief und mit der Kuppel 120 Fuß hoch. Außer den vom Congreß in Anspruch genommenen Räumlichkeiten befindet sich auch der oberste Gerichtshof der Union in dem Kapitol. Dasselbe umschließt mithin die jedem freien Volke heiligsten Gewalten.

Das Kapitol ist die Residenz des aus dem Senate und dem Hause der Repräsentanten bestehenden Congresses, in welchem sich die Nationalsouveränetät des amerikanischen Volkes verkörpert, dieses Volkes, das sein Blut noch unausgesetzt mit dem Blute fast aller Völker des Erdballs kreuzt.

Zur Zeit der Congreßsitzung, wo von den Küsten des mexikanischen Meerbusens bis hoch hinan zu den großen Seen, und von den Ufern des stillen Meeres bis zu denen des atlantischen, die Erwählten der Nation nach Washington kommen, nimmt die Stadt eine lebhaftere Physiognomie an, und man gewahrt dann, daß hier die politischen Fäden des ungeheuern Staatenbundes zusammenlaufen; die Wände des Kapitols hallen von gewichtigen Worten wieder, und wenn zwischen [551] ihnen zur Stunde auch nur die Geschicke eines mächtigen Reiches entschieden werden, so dämmert doch jetzt schon Etwas wie leises Ahnen auf, daß dort einst das Geschick unseres ganzen Erdballs entschieden werden dürfte. Schon lange fügt sich Stern zu Stern im Banner der Union und das Racengemisch auf ihrem Gebiete wird immer vielfältiger.

Nur die eingeborene Race des Landes, die rothhäutigen Indianer, gehen in diesem Völkergährungsprozeß, aus dem fortwährend frisches Leben zu Tage tritt, ihrem Untergange entgegen. Diese ehemals so stolzen, muthigen und großherzigen Völker welken unter den Segnungen wie unter den Lastern der Civilisation dahin. Bisweilen sieht man jetzt noch auf dem Kapitol in Washington Abgeordnete jener unglücklichen Stämme erscheinen, deren Väter vor Zeiten die Hügel bewohnten, auf denen sich jetzt das Kapitol erhebt, und die nun bis weit hinter den Mississippi zurückgedrängt sind. In der Tracht ihrer Wälder und Prairien kommen diese indianischen Abgesandten, um gewöhnlich die Gelder zu empfangen, welche die Unionsregierung den meisten Indianerstämmen als eine Art Pension für die Vertreibung von ihrem ursprünglichen Wohnsitzen zahlt. Bei solchem Verkehre mit den Weißen hat aber der Indianer die Schwäche, denselben meistens nachzuahmen, und so sieht man oft Diejenigen, welche noch in theilweiser indianischer Urkraft die Unionsstadt betraten, als häßliche Zerrbilder der Civilisation wieder aus ihr scheiden.

Um eine im Untergange begriffene Nation ist es immer etwas Wehmüthiges, und tröstend ist hier nur, daß auf dem Grabe jener die Wiege einer andern steht, die ein Herkules unter allen Völkern zu werden verspricht.




  1. Die Straßen sind 400 bis 460 Fuß breit.