Textdaten
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Autor: Gerhard Walter i.e. Paul Gerhard Heims
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Titel: Am Leuchtthurm
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–30, S. 462–466, 477–480, 495–499, 508–514
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Am Leuchtthurm.
Novelle von Gerhard Walter.

Also das war dein erster Gruß nach vielen, vielen Jahren, mein lieber alter Hausbursch! Wenn du wüßtest, wie er mich gefreut hat! Aber du weißt es ja, du Treuer! Und wenn du gleich das Weltmeer und den Aequator zwischen uns gelegt hast, und wenn wir uns auch scheinbar seitdem in Freud’ und Leid des Lebens aus den Augen verloren: oft habe ich doch dein gedacht in deinem Wandel unter Palmen und auch du hast deine Gedanken über den Ocean fliegen lassen, bis sie die sicht- und greifbare Gestalt eines Briefes annahmen, der mir erzählte, daß dir Glück und Liebe drüben hold gewesen, daß du deiner dunkeläugigen und schwarzlockigen Donna Juanita Teresa de Oliveira auch von mir berichtet, und daß sie, die Edle, dich getrieben, das erste Exemplar deiner Verlobungsanzeige an mich zu schicken. Das wirft ein wahrhaft elektrisches Licht auf euch beide. – Zum Lohn will ich dir nun auch einen langen, langen Brief schreiben, nachdem ich deiner Braut die Hand geküßt und sie dir so gedrückt und geschüttelt habe wie an jenem Abend beim „Siebenkäs“, als wir aus Maßkrügen Schmollis tranken in seliger Fuchsenzeit.

Mir ist so riesig wohl zu Muth heut Abend. Was für Bilder hat dein Brief vor meiner Seele erstehen lassen! Komm, setz’ dich zu mir, wie einst auf dem steinharten Kattunsofa der Madame Ruck – mein jetziges ist etwas weicher und mit olivenfarbenem „Granit“ überzogen – nimm dir wieder die lange Couleurpfeife vom Nagel und laß uns wieder jung werden!

Wenn sich zwei nach langen Jahren treffen, dann fliegt es herüber und hinüber, das köstliche: „weißt du noch?“ – Und zu dem kleinen Roman meines Lebens, den ich dir jetzt als Antwort auf den deinen erzählen will, muß ich auch den Anfang machen mit „weißt du noch?“ Nur vorher zu deiner allgemeinen Orientirung bemerkend, daß ich Landrichter in diesem reizenden Bergstädtchen und –. „Doch ich will nicht vorgreifen,“ wie jene sagte.

Ja, Fritz, weißt du noch, wie wir an einem wunderschönen Apriltage uns zum ersten Mal als Hospitanten in der Germanenkneipe trafen und da gleich entdeckten, daß wir in demselben Hause wohnten? Weißt du noch, daß wir am nächsten Morgen zusammen zum Frühschoppen bei dem oben erwähnten Manne mit dem melodischen Namen zogen und daß der Frühschoppen bis zur Dunkelheit und noch etwas länger dauerte? Weißt du noch, daß wir dann im gleichen Schritt und Tritt wieder auf die Germanenkneipe zogen und uns gleich zusammen zum Einspringen meldeten?

Und was dann kam – so das wissen wir beide nicht mehr! (Prost, ich komme dir ’nen Halben, Confuchs; habe mein Seidel neben mir stehen; das Glas ging längst in Trümmer, aber den Deckel habe ich noch, und unter all den vielen eingeritzten Namen – habe neben manchen schon ein Kreuz ins Zinn graben müssen – steht auch deiner!)

Aber ich führe dich wieder in meine Bude. Da seh’ ich vor uns meinen runden Zehnmännertisch mit der weißgrünen Wachstuchdecke und auf ihm eine kleine Spiritusmaschine, und sehe in dem kleinen Blechtopf unsere gewohnheitsmäßigen vier Abendeier sieden. Zuweilen nahmen wir auch die kleine Pfanne in Gebrauch und machten uns Spiegeleier, manchmal auch, besonders zu Anfang des Monats, Rührei; und die Welt war eine Einrichtung, an der wir nichts, gar nichts auszusetzen hatten, wenn wir nach vollbrachtem Mahl mit der meterlangen Pfeife zum Fenster hinausschauten, in Geduld die Stunde abwartend, bis wir auf die Kneipe stiegen.

Aber entsinnst du dich auch wohl noch, daß auf der andern Seite der Straße ein Garten lag, ziemlich verwildert, so etwas eichendorffisch romantisch, mit Gebüsch, das niemals Schere und Messer gesehen, und mit Wegen, die anderswo als Grasplätze gegolten hätten? Und daß aus dem dichten Grün zuweilen silberhelles Lachen klang, und daß über die Steige zuweilen zwei allerliebste Mädchengestalten huschten, die eine davon mit dunkelbraunem, die andere mit blondem Haar? Dann weißt du auch noch, daß ich in die Braune bald aufs heftigste verliebt war, und weißt, wie wir in den Garten hinunterspähten, wo sie manchmal bei dem verwilderten Rosenbeet sich zu schaffen machten und wir sie so recht ohne Deckung bewundern konnten.

Du weißt aber noch mehr! Auch daß wir eines Sonntagnachmittags vergnügt und guter Dinge, aber ehrbar und sittsam hinausgingen nach dem „Weißen Schwan“ – und daß ich erschrak und roth wurde wie ein Pensionsmädel, das ein Lieutenant zum Lancier auffordert, als ich dort unterm Fenster im grünen Kleide meine holde Nachbarin vom Garten sitzen sah zwischen ihrer Schwester und einer alten Tante, welche den beiden Mädels, die sonst wohl nicht viel herauskamen, auch einmal ein Vergnügen hatte machen wollen. Und wie ich da noch im seligen Schreck in der Thür stand, da hob sie die großen, blauen Augen – das war eben ihre Hauptschönheit, die braunen Haare und die blauen Augen und sah mich – und – es zieht mir noch warm durchs Herz vor Freude! – und wurde dunkelroth. Ja, wenn Schiller nur das Eine gedichtet hätte: „Das Auge sieht den Himmel offen“, dann wäre er doch mein Liebling und ich hätte mir seine gesammelten Werke gekauft.

Altes, gutes Tantchen, hättest du geahnt, wie allmählich hinter deinem schmalen Rücken ein Kreuzfeuer eröffnet ward, erst nur scheu und schüchtern, nach und nach immer stärker, und wie dabei zwei junge, frische, unverdorbene Herzen, das eines Juristen im ersten Semester und das eines jungen Sanitätsrathstöchterleins, in lichter Gluth auflohten – ach, da wärst mit deiner Häkelarbeit zu Hause geblieben, über die du so wundervoll kurzsichtig gebeugt hinter deinem Steinkrügel saßest! Und du hättest kaum so harmlos dem Studenten gedankt, der dich und deine lieblichen Schützlinge in den Tannen von Stieglitzhof einholte, um sich gemessen zu erkundigen, ob eine der Damen vielleicht das eben auf dem Wege gefundene duftige Taschentuch verloren habe; und hättest nicht so gutmüthig und redselig dich für verpflichtet gehalten, ein Gespräch anzuknüpfen über den wundervollen Nachmittag, ein Gespräch, das du, Fritz, so verständnißinnig aufzunehmen und fortzusetzen verstandest, neben der guten Dame und dem klugen Aennchen gehend, während der andere Germane freudetrunken hinter euch herwandelte an der Seite Hildegards, die vor Freude über das wiedergefundene Tüchlein wie eine Rose glühte. Die beiden sprachen eigentlich nicht viel zusammen und äußerlich war’s eine etwas verlegene Partie. Aber am Wege, da, wo er umbog, stand ein prachtvoller rother Fliegenpilz unter einer grünen Tanne; den zeigte er ihr, und sie standen davor still und besahen ihn sehr ernsthaft; ihre Hände streiften sich, zwei warme Hände – und plötzlich schlang er den Arm um das reizende Kind, neigte sich zu ihr, küßte sie auf die weichen, süßen rothen, warmen Lippen und seine Augen blickten tief in die blauen sonnigen Augen, die im [463] holdesten Liebesschein zu ihm aufsahen. Fritz, Mensch – das war der schönste Moment meines Lebens! Nein, einer war noch schöner.

„Hildegard!“ schallte die Stimme der Tante jenseit der Biegung, und Hildegard wand sich los, hochathmend, glühend, und hielt die Händchen vors Gesicht. „Die Tante merkt’s!“ flüsterte sie – und wir gingen schnell hinterher. Die Tante merkte nichts; aber Aennchen machte lächelnd eine allerliebste Grimasse.

Und eine selige Zeit fing an. Erinnere dich der Mittagsstraßenbummel, wie’s da in der Hauptstraße von Studenten aller Farben schwärmte. Siehst du sie nicht noch oben im Fenster am Eckhaus zum Markt, die beiden reizenden Mädchenköpfe; und schaust du das Schwesterpaar nicht, wie es daherwandelte im Schloßgarten in der Abendkühle? Da stand, ganz verborgen, eine Bank unter und zwischen süß duftendem Jasmingesträuch; da hielt ich wohl an manchem Abend eine kurze prächtige Viertelstunde lang zwei kleine, weiche Händchen und sah, oft stumm vor Glück, in ein liebliches Blumengesicht. Das Glück ruhte dann aus bei uns auf seiner rastlosen Fahrt durch die Welt. „Und Du kannst noch zehn Jahre warten – zehn Jahre sind bald herum!“ sang sie leise vor meinem Ohr. Ja, was waren uns zehn Jahre? Wozu eigentlich überhaupt heirathen? Waren wir nicht selig genug? – Ja, dann konnten wir freilich immer beisammen sein und brauchten nicht auf den Schlag der Thurmuhr ängstlich zu horchen. „O wenn Papa das wüßte!“ hauchte sie wohl – „er ist auf die Studenten gar nicht gut zu sprechen! Sei nur recht fleißig, daß wir uns bald verloben können!“ – Wir waren beide reinen Herzens und darum waren wir auch so selig. – Eine Mama war nicht mehr im Hause; Hildegard ging selbst in reizender Wichtigkeit mit dem klirrenden Schlüsselbund am Schürzenband über den Flur, wenn ich bei dem alten Herrn Kirchenrath, der über ihnen wohnte, meine Korrekturbogen ablieferte. Nöthig hatte ich es im Grunde nicht, Korrekturen zu lesen; weshalb that ich es wohl? Um einen lächelnden Gruß, einen feurigen Blick, einen schnellen, verstohlenen Kuß zu erhaschen! – Aber Liebe und Korrektur und Kneipe, sie hielten mich nicht vom Arbeiten ab. Im Gegentheil, die süße, stille, verschwiegene Leidenschaft für Hildegard war mir wie ein Leitstern durch alle Fährlichkeiten und Verlockungen des Lebens. „Du bist für ihr Leben mit verantwortlich!“ das stand überall geschrieben, wohin mein Blick geleitet wurde. „Mein eigen soll sie sein – keines andern mehr als meins – und so leben wir in Freud und Leid, bis uns Gott der Herr auseinander scheid’t!“ sang ich still in mich hinein über dem Corpus juris. – Es sollte bald genug zum Scheiden gehen!

Du erinnerst dich des großen Kellerfestes am Schluß des Sommersemesters und des Auszugs dorthin nach dem Festmahl im „Goldenen Löwen“, weißt noch, wie stolz wir drei Renommirfüchse, der Senden, du und ich, zu Pferd stiegen, als der Zug sich ordnete und wir in großem Wichs, den Schläger in der Faust, hinter der Musik dreinritten an der Spitze all der braven ritterlichen Gesellen; hinter uns die Fahne und die Chargirten? Wie ließ ich meinen Schimmel steigen, und wie fühlt’ ich mich frei und groß, nach dem alten Liede: „In seinem Arm wohnt Riesenkraft – und Freiheit ist sein Los!“ Aber ein anderes Lied sollte es mir anthun! Auf den Bürgersteigen stand wohlgefällig lächelnd der Philister Schar; aus den Fenstern schaute es Kopf an Kopf – war manch lieb Gesicht darunter! – aber das liebste auf Erden neigte sich dort in dem hohen Eckhaus heraus, lächelnd, bethörend. Warum mußte die Musik auch gerade, als wir dicht daran waren, anstimmen:

„Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus – ade!
Feinsliebchen die schaute zum Fenster hinaus – ade!“

Und droben, da winkte sie, von der ich glückseliger Bursch kein Auge verwandte, mit dem Tüchlein – und wie ich unten so vorbeiritt, entfiel es ihrer Hand und flatterte herab. Da gab ich dem Schimmel die Sporen, daß er steil aufbäumte, und riß ihn an der Kandare herum, daß er mit mächtigem Satz zu Seite und fast in die gaffende, aufkreischende Menge hineinsprang; und ehe noch das Tuch zur Erde kam, hatte ich es aufgefangen mit der Spitze des Speers und barg es, die Zügel lassend, an meiner Brust, den Schläger senkend zum Gruß vor der lieblichen Mädchenblüthe – und dann euch nach, wie das Wetter! Es war ein gutes Reiterstückchen, geübt im Rausch der Jugend und der ersten Liebe – aber es sollte mir und ihr verderblich werden.

Als die Gäste angefahren kamen und ich an ihrem Wagen stand, in dem sie mit Aennchen und ihrem Vater saß, da blickte sie mich traurig an, und ich meinte, die sonst so klaren Augen schauten trübe und verweint. Kalt und vornehm grüßte mich der Vater und hob selbst sein Töchterlein hinaus. Wohl durfte er es mir nicht wehren, daß ich nach altem Festbrauch und Burschenrecht ihr den Arm bot; aber sie ging still, den Blick gesenkt, neben mir her. Auf Schritt und Tritt folgte uns der alte Herr, und als ich sie zu ihrem Sitz geführt hatte, von wo sie dem Festspiel zuschauen sollten, da sagte er laut, daß ich’s hören mußte. „Also, Hildegard, denk’ daran, daß Du unter keinen Umständen tanzen darfst. Ich hab’ es Dir als Arzt verboten!“ Ein kurzer, stummer Blick traf mich, der mir sagte: „Warum hast Du das gethan! Nun ist unser Geheimniß verrathen und alles vorbei!“

Und auch für mich war alle Festfreude dahin. Wie die Brüder auch ihr Bestes thaten und zündender Witz raketengleich von der luftigen Bühne sprühte und wie sie da unten lachten und jubelten – ich sah nur sie, und sie lachte nicht! Wie war da für mich der frohe Tag so sonnenleer geworden! Und erst als die Paare zum Tanz sich reihten und der Sanitätsrath würdevoll seinen Wagen bestellte, da bäumte mein Herz sich auf in grimmigem Leid. Kein Wort hatte ich mit ihr reden können, und ich hatte soviel, soviel im Sinn gehabt! Sie dankte leise und befangen aus dem Wagen, und es zuckte um die rothen Lippen in verhaltenem Weinen. Dann fuhren sie ab. Aennchen, auf dem Rücksitz, sah auch nicht heiter aus. Sie schüttelte kaum bemerkbar den Kopf nach mir hin, als wollte sie sagen „Vorbei!“

Und es war vorbei. Ein einziges Mal noch sah ich sie, auf dem Flur, als ich zu meinem Kirchenrath stieg. Da huschte sie aus der Küche und warf sich stürmisch, eilig, wortlos in meine Arme; heiß brannte ihr Kuß auf meinen Lippen, und verschwunden war sie wieder. Ich stieg wie ein Trunkener die Treppe hinauf und mag tolles Zeug genug da oben im Studirzimmer des alten, trefflichen Herrn geredet haben; denn er blickte mir kopfschüttelnd zuletzt ins Gesicht und sagte milde: „Ein anderes Mal, mein Lieber! Sie sind heute zu aufgeregt!“

Ich mußte auf Ferien gehen, ohne sie wieder gesehen zu haben. Mir war gräulich zu Muth. Da drängte sich auf dem Bahnhof, gerade wie ich in den Wagen steigen wollte, ein zerlumptes Büblein an mich heran, schob mir etwas in die Hand und verschwand in der Menge. Es war ein kleiner, duftiger Briefumschlag, den ich hielt, und drin lag ihr Bild. Hildegards Gesicht schaute mich daraus an! Auf der Rückseite stand geschrieben: „Lebewohl und behalte mich lieb!“ – So reiste ich ab, freudevoll und leidvoll. Mein Herz und mein Denken ließ ich da zurück.

So weit weißt du alles. Was nun kommt, das weißt du nicht. Du kamst nicht zurück im Wintersemester. Deines Vaters Tod hatte alles für dich geändert, und das war mir schon Leides genug. Wir beide haben uns seitdem von Angesicht nicht wieder gesehen! Und als ich in einer dunklen, regnerischen Oktobernacht zum ersten Mal wieder vom Bahnhof durch die stillen Straßen meiner Bude zuwanderte, da fror’s mich bis ins Herz hinein. Und was ich dann erfuhr, zerstörte meinen wonnigen Jugendtraum bis auf den Grund. Hildegard war fortgeschickt mit ihrer Schwester! Endlich, nach langem Forschen brachte ich heraus, daß sie in oder bei Leipzig sich aufhalten sollte. Ich wagte es, einen Brief auf gut Glück an sie abzuschicken. Es dauerte nicht lange, da brachte der Laufjunge des Sanitätsraths ihn mir unter Umschlag auf die Bude.

„Meine Tochter bittet dringend, sie nicht zu belästigen!“ stand auf einem dabei liegenden Zettel.

Nun gab’s zwei Wege für mich: entweder konnte ich nun verlumpen oder ich konnte, statt im tollen Leben, meinen Kummer – und er saß tief! – durch Arbeit betäuben. Ich fiel zunächst auf den ersten Weg. Ich wurde ein wilder Geselle, ein Kneipgenie und ein böser Raufbold. Wenn die Klingen gebunden waren und wenn tosender Gesang und tobende Lust die Kneipe durchbrauste, dann wurde es mir erst wohl. Da rettete mich ein gutes Wort, das ich irgendwo in einer wüsten Stunde las: „Wer ein Lump wird, weil er ein Mädchen nicht bekommen hat, der wäre es höchst wahrscheinlich auch geworden wenn er sie bekommen hätte!“

Das schlug durch! Hildegard einen Lumpen zum Mann? Nein! Und von Stund an kehrte ich um. Ich konnte es noch. [464] Im Grunde war ’s doch wieder nur die Liebe zu Hildegard, die mich aus dem Sumpf zog. Allmählich wurde ich ruhiger, wie der Segen der Arbeit an mir kräftig wurde. Ich ging nach Leipzig. Unwiderstehlich zog es mich dahin. In den nicht häufigen Freistunden, die ich mir gönnte, wanderte ich durch die Straßen, jedes Mädchengesicht musternd, das mir in den Weg kam. Vielleicht, vielleicht begegnete sie mir einmal! Der Zettel des Vaters konnte ja nicht ihr Werk sein! Die Leute, bei denen sie wohnte, mußten meinen Brief aufgefangen haben! Daran klammerte ich mich.

So saß ich eines Abends im Zwielicht in einer Konditorei hinter meiner Zeitung. Ich legte sie nieder – da hörte ich mir gegenüber einen leichten Schrei – ich blickte auf: Hildegard stand bleich und lieblich über das Marmortischchen dort gebeugt und blickte mich an! Ich sprang auf, alles um mich her vergessend. "Fräulein Starke, es ist Zeit, daß wir gehen!“ tönte da kurz und herbe die Stimme einer dürren Dame, die neben ihr saß, in dieses Wiedersehen hinein, und ein Blick traf mich, in dem Abscheu und Schrecken sich spiegelte. Da zog sie mit Hildegard ab in eiliger Flucht! Noch ein tieftrauriger Blick aus den großen, blauen Augen, ein kaum merkbares Beugen des Hauptes – und sie war in Nacht und Nebel verschwunden!

Jetzt suchte ich rastlos vom Morgen bis zum Abend – ich wußte es, sie war und blieb mein. Da fand ich eines Tages, als ich müde nach Hause kam, einen Brief auf meinem Tisch. Ihre Hand, ihre Hand! Ein Lesezeichen fiel heraus, ein kleines rothes Seidenband und ein kleiner, flüchtig geschriebener Zettel:

„In der Nacht gearbeitet! Dir zum Andenken! Werde morgen wieder fortgeschickt und weiß nicht wohin! Vergiß mich nicht! Hildegard.“

Und dann sah ich sie nicht wieder und fand keine Spur von ihr, und kein Zeichen des Lebens oder der Liebe kam je wieder an mich.

Was soll ich dir ein Langes und Breites von mir selbst und mir allein erzählen! Ich machte gute, sehr gute Examina, arbeitete bald hier, bald dort und fand überall offene Thüren; aber in mir regte sich stets die Sehnsucht nach meinem verlorenen Lebensglück. Es machte mir alles keine rechte Freude mehr. Manche liebe Blume blühte an meinem Wege, aber ich mochte mich nicht bücken, sie an meine Brust zu stecken. Ich wurde ein einsamer Mensch. Meine Nachforschungen hatte ich zuletzt aufgegeben. Hildegard war wie vom Erdboden verschwunden. Ihr väterliches Heimwesen war aufgelöst worden, nachdem der Vater gestorben, wie es schien unter eigenthümlichen Umständen, über die ich nirgend rechtes Licht erhalten konnte, und die Töchter waren in die Welt hinausgegangen. Wohin? Das brachte ich nicht heraus! So viel wurde mir allmählich klar: Hildegard wollte sich nicht finden lassen. Weshalb nicht? Ja, wenn ich das gewußt hätte!

Die Gesellschaft und die Geselligkeit unserer Kreise ließ mich kalt, wie gesagt, und ich kam nach und nach so etwas in den Ruf eines Sonderlings und Einsamkeitshubers. Oben im dritten Stock eines Hauses der Vorstadt mit herrlicher Aussicht hatte ich mich einquartiert bei einer jungen Witwe, die mit einem reizenden Büblein da still und ehrbar hauste, und um derentwillen ich manche Anspielung und manchen nicht immer zarten Scherz anhören mußte, bis endlich ein an sich ganz harmloser Anlaß denn doch dem Faß den Boden ausstieß. Ich kam eines Tages von einem langen Spaziergang zurück, auf dem mich der Regen überrascht hatte. Und wie ich so zwischen den Weinbergen eilig meiner Behausung zustrebte, sah ich vor mir auf dem einsamen Wege eine Frau in Trauer, ein schreiendes Knäblein auf dem Arme, und im Näherkommen entdeckte ich meine arme junge Sekretärswitwe, wie sie, triefend vom Regen und glühend von der Aufregung und Angst, eilig dahinschritt. Ich habe immer ein Herz gehabt für duldende Menschen. Schnell war ich an ihrer Seite:

„Erlauben Sie, Frau Wald; die Last darf ich Ihnen wenigstens abnehmen!“

„Nein,“ sagte die stattliche, hübsche junge Frau – "Herr Assessor – das geht nicht!“

Aber ihr Athem ging keuchend. Statt aller Antwort nahm ich ihr das Kind aus dem Arme. „So, nun kommen Sie!“

Und so zogen wir selbander unsere Straße, und oben vor unserer gemeinsamen Etagenthür gab ich ihr das Bengelchen zurück. Aus dankbaren Augen sah sie mich an und ging. Und ich freute mich des kleinen guten Werks.

Unangenehm aber empfand ich das Lachen einiger bekannter Herren am Abend, als ich im Schützenhaus mein Bier trank. Die Redensarten wurden allmählich anzüglicher und deutlicher und die vermeintlichen Scherze nahmen schließlich eine Gestalt an, die ich mir nicht gefallen lassen wollte. Ich nahm meinen Hut und wollte gehen. Da hörte ich halblaut ein Wort fallen von einem Gruß, den ich bestellen sollte, so daß ich mich kurz umkehrte und, während das Blut mir stürmend in die Stirn stieg, mit scharfem Schlag die Infamie rächte. Die Folge war ungeheures Aufsehen, ein Duell auf Pistolen, bei dem ich meinen Gegner lahm schoß und selbst verwundet wurde, daß ich sieben Wochen im Lazareth lag; zwei Monat Festung, meine Versetzung nach einem entfernten Gericht und Bekanntwerden meines Namens bis in das kleinste Käseblatt in allen Provinzen. Am Schluß der erbaulichen Artikel hieß es gewöhnlich: "Wie wir erfahren haben, soll ein Liebeshandel die Veranlassung zu der blutigen Affaire gewesen sein.“ Da hauste ich nun nahe der Grenze unter einem rohen Geschlecht – und wurde allmählich müde. Es ist ein böses Ding für einen jungen Mann, wenn er von Erinnerungen leben soll. Und das that ich. Ich hatte für nichts und für niemand zu sorgen, ritt meilenweit ins flache, öde Land hinein und saß abends still zu Haus hinter meinem Theekessel, rauchte meine lange Couleurpfeife und las. Wenn ’s Zehn schlug, klappte ich mein Buch zu und legte das rothe, flüchtig bestickte Seidenband aus Leipzig hinein. – Wäre Feuer bei mir ausgebrochen, hätte ich jedenfalls zuerst nach diesem Bande gegriffen und nach dem schweren, tiefen Goldrahmen über meinem Schreibtisch, der ihr Bild einschloß, auf das ich morgens den ersten und abends den letzten Blick warf. Es war mir schon zur Gewohnheit geworden, und oftmals dachte ich kaum etwas Besonderes dabei; manchmal aber kam auch das alte Weh der stillen holdseligen Studentenlieb’ über mich, daß ich mich aufs Pferd warf und im wilden Jagen in triefendem Regen und stöberndem Schnee durchs Land ritt; aber das Glück, das verlorene, immer wieder lockende, erjagte ich auf keinem Wege. „Und du kannst noch zehn Jahre warten – zehn Jahre sind bald herum!“ hörte ich ihr, Hildegards, leises Singen auf der Bank im Mondschein. – Ja, sie waren jetzt bald herum; aber was wir uns von ihnen versprochen hatten, war nicht in Erfüllung gegangen und ging nicht in Erfüllung. Immer noch zehn Jahre mehr – jetzt mußte Hildegard sechsundzwanzig Jahre alt sein – immer noch zehn Jahre mehr, bis wir beide alt und grau und stumpf geworden? Ja, lebte sie sie denn überhaupt noch? War der süße, blühende Leib nicht gar schon im Grabe vermodert, die Hand, die am meinen Nacken gelegen, verwelkt? Wußte ich es?

Verstimmt wandte ich dann das Pferd und trabte heimwärts. Mir graute manchmal ordentlich vor dem grauen Städtchen, das da im grellen Abendlicht aus der weiten Schneelandschaft vor mir auftauchte, mit seinem Thurm und seinen verfallenen Wällen dunkel und in scharfen Linien sich abhebend von dem goldigen Horizont.

„Hören Sie ’mal, das geht so nicht mit Ihnen!“ redete mich eines Tags der Präsident auf einer Inspizierungsreise an; „wie kann ein junger, frischer Mann sich so einspinnen! Ich will Ihnen etwas sagen: Sie reichen ein Urlaubsgesuch auf sechs Wochen ein; ich schicke Ihnen einen Referendar als Stellvertreter, und Sie fliegen aus – in die Welt, ‚auf die Dörfer,‘ wie man so sagt. Nur keine Redensarten! Ich liebe die alten jungen Herren nicht; wär’ schade um Sie! Also ich erwarte bestimmt Ihr Gesuch, und dann kommen Sie mit einer jungen Frau zurück. Ist nichts mit den Junggesellen. Nur die berühmte junge Witwe nicht! Hoffentlich tragen Sie um die keinen Gram? Na, na, nur nicht so böse aussehen – meine es gut mit Ihnen!“ Damit schüttelte er mir die Hand und ging.

Also ich sollte auf Urlaub! Nun kam die wichtige und schwere Frage: „Wohin?“ Jedenfalls an die See, am den Staub dieser Pußta hier um mich herum, oder richtiger dieser Lehm-Sahara, ’mal gründlich abzuspülen. Aber es mußte ein einsames Seebad sein; wenig Menschen, keine Kurhotels, keine Kellner. Wo gab es das? Ich studirte Specialkarten. Hier war dies nicht, dort jenes nicht, wie es sein sollte; plötzlich haftete mein Auge auf einem Punkte nicht an, sondern vor der Küste. Da war, eine Seemeile vom Strande auf einer einzelnen Klippe, die zu [466] einer ganzen Reihe ihresgleichen gehörte, welche man durch kleine Kreuze angedeutet hatte – da war auf dieser Klippe ein Leuchtthurm angezeichnet, dessen Licht man auf zwölf Seemeilen weit übers Wasser hin sehen solle. Das war mir nun im Grunde gleichgültig; hauptsächlich kam’s mir nur darauf an, möglichst viel von dem Salzwasser und möglichst wenig von dem Lande der brotessenden Menschen vor mir zu sehen. Am Strande lag ein kleines Fischerdorf, von dem ich nie gehört – da konnte die Menge der Badegäste unmöglich eine besonders große sein. „Wie wär’s,“ sagte ich mir, „wenn du an den Leuchtthurmwärter unmittelbar schriebest und ihm ein anständiges Stück Geld für ein Zimmerchen oben bei der Laterne bötest? Die Leute können auch zuweilen Geld gebrauchen, und dir und ihm wäre vielleicht zugleich geholfen!“

[477] Acht Tage nach Absendung meiner Anfrage hielt ich einen etwas unbehilflich geschriebenen Brief in Händen, laut dessen ich für die Dauer von vier Wochen im Juli und der ersten Augustwoche unbeschränkter Herr eines Zimmers war, wie ich mir’s gewünscht. Und nun packte mich plötzlich eine wahre Ungeduld. Ich konnte den Zeitpunkt des beginnenden Urlaubes kaum abwarten. Endlich war der Tag gekommen; und vierundzwanzig Stunden später saß ich vor dem schmalen Fensterchen meiner Thurm- und Burgkammer, hundert und einige Stufen über dem Spiegel des Meeres, das sich prächtig blaufunkelnd im Sonnenlicht vor mir dehnte, grünlich und weiß am Fuße des Felsens in ewiger Brandung schäumte, die murmelnd oder brausend zu mir in meiner luftigen Höhe hinauftönte. Ich streckte die Arme vor Behagen: hier war’s gut sein! Nach dem Herings- und Flunderdorf dort an der Landseite in den Dünen warf ich keinen Blick. Wohl aber mußte ich ihn unwillkürlich auf dem bildhübschen Mädchen ruhen lassen in seiner kleidsamen Volkstracht – mit den Kettlein und silbernen Spangen und Rosetten, das jetzt gerade eintrat und mir den ersten Kaffee meines hiesigen Aufenthaltes brachte. Blond, schlank, voll, von zarten Farben und mit einem reizend schelmischen Licht in den Augen stand sie vor mir und hielt mir das Kaffeebrett dar.

„Sind Sie die Tochter vom Hause, oder vielmehr vom Thurm?“ fragte ich sie, während ich mir den Rahm zugoß.

Sie bejahte mit einer Stimme, deren weicher Wohllaut angenehm berührte.

„Ist es denn nicht sehr einsam hier für ein so junges“ – fast hätte ich gesagt „und so hübsches – Mädchen?“

Im Winter wäre es arg gewesen, meinte sie; im Sommer käme doch ab und zu mal ein Mensch in Sicht; aber daß sie einen Logiergast gehabt hätten, das wäre ihnen noch gar nicht vorgekommen, und sie hätten sich auch nicht wenig gefreut, setzte sie hinzu. Und dabei spielten die etwas arbeitsharten, aber zierlich kleinen Hände mit dem Schürzenband, und nur ein halber Blick unter den langen Wimpern stieg bis zu meinem Gesicht.

„Sind denn da drüben im Fischerdorf gar keine Badegäste?“ fragte ich weiter.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sah an mir vorbei durch das Fenster.

„Eine einzige Familie wohnte diesen Sommer bis jetzt da; Leute, die kein Geld haben. Sehen Sie – da das Haus mit dem rothen Dach, halb hinter der Düne!“

Ich mußte dicht neben sie treten, um aus Höflichkeit der Richtung ihres Fingers mit dem Blick zu folgen. Im Grunde war mir’s einerlei. Aber sie war gar zu niedlich.

„Ja, wie kommt denn das?“ fragte ich, eigentlich nur, um sie noch ein bißchen zurückzuhalten; „Stagersand, das große Modebad, ist doch nur reichlich eine Meile entfernt.“

„Das ist’s ja eben!“ lachte sie, daß man ihre tadellosen Zähne bewundern mußte, „das drüben ist kein Modebad! Der Strand ist gerade so gut und das Wasser genau so frisch und salzig und der Wellenschlag noch etwas stärker, und die Luft bekommt einem hier auch nicht schlechter“ – ich mußte unwillkürlich auf ihre blühenden Wangen blicken – „Sie meinen, ich sähe auch nicht krank aus? Warten Sie nur, wie Sie nach fünf Wochen roth und braun sein werden! Können Sie segeln?“

Ich sagte ihr, ich sei von Geburt eigentlich an der Wasserkante zu Hause und von klein auf gewohnt, mit Hals und Schoten umzugehen.

„Unser Boot da unten können Sie immer benutzen,“ plauderte sie weiter; „für uns ist das etwas Altes, aber Ihnen wird’s Freude machen und Ihnen wohlthun.“

„Sagen Sie –“ ich wußte nicht recht, wie ich sie anreden sollte – „Fräulein“ wollte mir nicht heraus, das klang mir zu kellnerinnenmäßig –

„Ich heiße Wiebke!“ sagte sie und lachte leise auf, „haben Sie den Namen schon früher gehört?“

Ich mußte es verneinen. „Sagen Sie, Wiebke, Sie sind nicht immer hier im Thurme gewesen?“

Ein schneller Augenblitz traf mich wieder von der Seite.

„Ich bin drüben zwei Jahre auf dem Festlande als junges Mädchen bei einem Arzt im Hause gewesen, und bei meiner Großmutter in der Stadt bin ich zur Schule gegangen; nun muß ich Haus halten für den Vater und den Knecht – aber ich verplaudere mich hier; seien Sie nicht böse, daß ich Sie aufgehalten habe!“ Und hinaus war sie.

„Wann soll ich Ihnen das Abendessen bringen?“ fragte sie, noch einmal den hübschen Kopf durch die viertelgeöffnete Thür steckend; „um sieben? Schön!“

„Eine bedenkliche Leuchtthurmwirthin!“ mußte ich halblaut hinter ihr hersagen. „Wer hier nicht sattelfest ist, verliebt sich in dieser Einsamkeit sicher in sie. Und das wäre doch ein gefährlich dummer Streich. Ihr selbst wäre es scheinbar nicht ganz unangenehm.“

Da unten, fern, ging die Sonne unter. Rothes, glühendes Gewölk im Westen. Weinfarben, jetzt ganz still, leise gegen die Klippen rauschend lag die See da. Immer dunkler wurde das Feuer, das dort am Horizont seinen blutigen Schein in die Wolken warf – dunkler die See, nur hier und da glänzte ein weißes Segel auf dem Wasser. Unten, am Rand der Klippe stand Wiebke, auch ihre Gestalt lichtumflossen. Die Dünen drüben am Land hatten Glanz über ihren weißlichen Sand gedeckt, und wie mochten die Laternengläser des Leuchtthurms in diesem Augenblick im rothen Feuer über die See hinausgleißen! – Aber es ist alles falscher Glanz – bald kommt die Nacht! – Nun, laß sie kommen! Da ist sie schon. Die Wolken erblassen – über der See liegt noch blinkende Spiegelung; aber die Dünen und das Mädchen stehen nicht mehr da, vom Märchenglanz übergossen. Ueber mir leuchtet jetzt klar und ruhig das gelbe Licht des Thurmes hinaus über die schlummernde See; dort unten seh’ ich [478] allmählich, wie’s dunkler wird, den klaren Wiederschein im Wasser – und über mir taucht nach und nach ungezählter Sterne Flimmern aus der dunkelblauen Himmelstiefe auf; und auch die Sterne werfen zitternde Spiegelbilder in die kaum gewellte Fluth. Die Brandung spült mit lockendem Murmeln zwischen den Klippen. Nur von drüben her schallt ununterbrochen dumpfes Rauschen herüber: die Dünung, die auf den Strand läuft, und die nie, nie stille sein kann. Da klopft es bei mir an, ich fahre herum; Wiebke steht in der Thür und hält hoch in der Rechten die Lampe, daß der Schein voll auf ihr lächelndes Gesicht und auf ihre Schultern fällt, ein Bild zum malen. „Wünschen Sie Licht? Dann müssen Sie aber die Läden vorm Fenster schließen, daß kein zweites Licht neben oder unter dem Reflektor sichtbar ist! Oder möchten Sie zu uns auf ein Stündchen herunterkommen?“

„Nein, Wiebke, nehmen Sie Ihre Lampe nur wieder mit; die prächtige Nachtluft will ich nicht ausschließen, ich komme gleich hinunter. Hier, nehmen Sie meinen Schoppen auch mit; ich trinke nur aus ihm, und er darf keinem andern vorgesetzt werden.“

Wiebke faßt ihn mit der andern Hand und geht; ich trete noch einmal ans Fenster und lehne weit hinaus. Im Westen glüht noch ein schmaler, gelber Streif, tief unten über dem Meer; der hält sich lange. – Glänzt nicht so durch jedes Menschenleben noch eine Hoffnung, ob auch mit schwachem Schein, im Dunkel des einsamen Herzens? Die Hoffnung auf ein Glück, das einst hell über unserem Leben gestrahlt, und das unterging – aber um wieder aufzugehen in neuem, blendendem Glanz? Ob ich dich doch noch einmal treffe, finde, halte, du Glück? Ob mir deiner Augen Schein doch noch einmal leuchtet – Hildegard?

Ich hob das Haupt: „Es soll und muß jetzt anders werden. Kommt das Glück, dann das Herz auf mit all seinen Fenstern und Thüren; aber dies Hängen am Alten, das macht alt. Nordseeluft stärkt – nun laß Dir auch die Seele stärken!“ –

So ging ich tastend die schmale, dunkle, gewundene Treppe hinab. Auf den einen Absatz unter mir schien helles Licht durch eine Thürspalte – die Thür that sich auf, ich sah in Wiebkes Zimmer. Nett und mit einer gewissen Zierlichkeit war’s ausgestattet. „Wir sind Nachbarn,“ sagte sie; „ich bekam eben ordentlich einen Schreck, als ich Ihren tastenden Schritt hörte und dachte nicht an Sie. Unsere Leute gehen mit schweren und sicheren Füßen. Es ist ihnen gewohnter Weg in der Nacht. Gehen Sie voran, ich leuchte Ihnen!“

Sie steckte eine lange, gelöste Flechte auf und schloß den letzten Haken ihres enganliegenden Mieders oben an dem weißen Halse; – der Silberschmuck lag in einem offenen Kästchen aus geschnitztem Sandelholz unter dem Spiegel.

„Wenn Sie meinen Vater aus seiner Ruhe aufrütteln können, dann kann er Ihnen viel Wunderbares und Interessantes aus der Zeit seiner Seefahrten erzählen, das er zu Wasser und zu Land erlebt hat. Sonst ist’s recht still bei uns unten.“

Der Alte, ein biederer, schwerer Obersteuermann, reichte mir mit kurzem, wie ein Knurren klingendem Gruß die ungeheure Flosse. Wie kam sein Töchterlein doch zu so kleinen Händen?

Er ließ sich dann, aus der kurzen Shagpfeife rauchend, in seinem großen Lederlehnstuhl nieder. Die Fenster standen offen, und frische Seeluft strich durch den behaglichen Raum.

Auf einem Regal an der einen Wand stand eine Reihe buntbeklebter Flaschen.

„Wir haben das Recht, an Fremde und Badegäste, wenn sie herüberkommen, auszuschenken,“ erklärte Wiebke. Sie blickte fragend auf den Vater. Er nickte. Sie nahm eine der Portweinflaschen und zwei Gläser und schenkte den bernsteingelben Trank ein. Dann bot sie mir mit freundlichem Blick und Lächeln das eine, das andere dem Vater: „Zum Willkommen!“ sagte sie.

Der Alte hob sein Glas und hielt es ans Licht. „Prost!“ rief er mit tiefer Stimme.

Hell klangen die Gläser zusammen.

Das war lange Zeit das einzige Wort, das Brar Volkers sprach. Nachdenklich und behaglich rauchte er weiter. Wiebke trug mir einen Stuhl herbei, weit genug entfernt von dem Sitz ihres Vaters, daß mir die scharfduftenden Wolken seines Tabaks nicht unmittelbar ins Gesicht wehten, und dann stellte sie meinen Schoppen voll schäumenden Bieres vor mich auf den Tisch. Alles stand ihr so nett an; jede Bewegung war so flink und anmuthig, daß ich ihr mit wahrem Vergnügen folgte. „Nun, und Sie?“ fragte ich, als sie mir sogar eine brennende Kohle auf die Pfeife gelegt hatte.

„Ich spinne!“ sagte sie.

Und sie holte ihr Rad und setzte sich mir gegenüber inmitten des Zimmers. Ich schaute auf den zierlichen Fuß, wie er unter dem kurzen Ruck rastlos das Brettchen trat. Ab und zu hob sie die Augen und sah mit schnellem Blick zu mir hinüber, und derselbe Blick streifte den Vater. Was waren das für lebhafte, klare, feuchte Augensterne! Ein flüchtiges Lächeln spielte dann und wann um den weichen Mund.

Keines von uns sagte etwas. Nur das Rad schnurrte, und der Alte blies von Zeit zu Zeit hörbar Dampf ab. Ich hatte kein Bedürfniß, die schöne, behagliche Stille zu unterbrechen. Jetzt fing Wiebke an, ganz leise vor sich herzusummen, eine einfache Melodie ohne Worte.

„Wie heißt der Text?“ fragte ich.

„Et wassen twee Königskinner
De hadden eenanner so leef!
Se kunnen tosåmen nich kåmen,
Dat Water weer veel to deep!“

sang sie mit klarer Stimme. – Nun war das Eis gebrochen.

„Ja, Wiebke kann schön singen!“ dröhnte der Baß des Alten nach dem ersten Verse dazwischen. „Sing’ weiter!“ Und sie sang bis zum Schluß:

„Se nehm em in ehre Arme,
Dat Hart ded ehr so weh;
Un länger kunn se nich lewen,
Se sprung mit em in de See.“

„Huh, nein!“ rief sie, indem sie lachend aufsprang, „das Lied endet so traurig. Geben Sie mir Ihren Schoppen, er ist leer!“

„Trinken Sie ihn an, Wiebke!“ bat ich, als sie ihn wieder gefüllt hatte. Sie hob ihn und netzte die Lippen, über den Rand hin mich mit den muthwillig schillernden Augen anblickend. Wie stand ihr alles gut! Aber war sie ein Kind, das unbewußt alle Anmuth des blühenden Mädchens entfaltete in unwillkürlichem Thun – oder wußte sie, daß sie schön war, und wollte sie ihre Augen werben lassen und wollte sie gefallen? – In solchen Gedanken sah ich sie wieder an, ohne es zu beabsichtigen, meinen Blick tief in ihren tauchend; da überflog dunkle Gluth plötzlich das frische Gesicht, und sie setzte sich schnell an das Rad, den Krug vor mich niederstellend. Hatte ich ihr weh gethan mit dem Anstarren?

„Wie oft ist Verkehr mit dem Lande?“ wandte ich mich schnell an Brar Volkers.

„So oft Sie wollen, Sie können jeder Zeit das kleine Boot bekommen,“ lautete die Antwort. „Wiebke kann Sie immer hinüberpullen; können auch segeln, wenn Sie Lust haben. Auf die können Sie sich verlassen.“

Wiebke nickte munter.

„Ist drüben im Dorf etwas zu bekommen?“ fragte ich. „Ich muß noch allerlei haben!“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts was Sie gebrauchen können. Aber wenn Sie morgen mit Wiebke nach Stagersand segeln wollen, da giebt’s alles!“

„Segeln Sie denn morgen hin?“ fragte ich erfreut.

„Muß einkaufen für unsern Haushalt!“ sagte sie wichtig.

„Schön,“ rief ich, „wann geht’s los?“

„Um acht Uhr; wollen Sie wirklich mit? Das ist herrlich; da will ich gleich sehen, wie Sie mit einem Segelboot umzugehen wissen!“

Draußen war das Brausen lauter und tiefer geworden, als wenn größere Wassermassen sich gegen das Gestein und den Fuß des Thurmes drängten.

„Die Fluth kommt!“ sagte Wiebke. „Die kennen Sie nicht aus Ihrer Heimath. Wenn sie mit Nord-West einsetzt, müssen wir oft die eisernen Laden schließen; sonst schlägt die See uns die Fenster ein!“

Ich stand auf. „Also auf morgen!“

Wiebke stellte ihr Spinnrad in den Winkel. „Ich leuchte Ihnen hinauf und gehe auch zu Bett! Gute Nacht, Vater!“

„Gute Nacht!“ sagte er bedächtig und klopfte das Pfeifchen an der Tischkante aus.

„Erschrecken Sie nur nicht, wenn’s über Ihnen ’mal laut wird; es geht nicht immer leise zu bei den Lichtern und wenn die Wache wechselt.“

[479] Wir gingen hinauf, Wiebke vor mir her. Hier, in dem engen Treppengang hörte man das Rauschen und Rollen der steigenden See noch viel deutlicher, dumpfer, klatschender. Und dazu das über die gerundeten Wände fahrende Licht, vor und hinter uns alles im tiefsten Dunkel. „Hören Sie,“ sagte Wiebke, sich zu mir wendend, daß ihr halbes Gesicht vom Lichtschein übergossen war und die andere Hälfte vom Schatten bedeckt: „Hören Sie das Brausen! Sie werden gut dabei schlafen! Es ist wie Gesang!“

Ich war allein hier; fern von allem und allen Bekannten mitten im Nordmeer, allein mit dem verführerischen Kinde in dunkler schweigender, einsamer Nacht; über uns das strahlende, warnende Licht, das seinen Glanz hinauswarf in die weite Finsterniß; unter uns jener Gesang der Nacht und der Fluthen – es lag ein Hauch wahrhaft lockender Poesie über dieser Stunde.

Wir standen vor ihrer Kammer. „Gute Nacht, Wiebke.“ Ich reichte ihr die Hand. „Gute Nacht!“ – „Gute Nacht!“

Ihr Auge sprach mit. Ich trat in mein Zimmer und lehnte hinaus.

„Ja, Luftveränderung!“ sagte ich zu mir. „es ist merkwürdig, was die thut; ich kenne mich selbst nicht mehr; ich bin heute schon ein ganz anderer Mensch!“

Ich schlief köstlichen, traumlosen Schlaf. Eine frische Stimme weckte mich, die mich durchs Schlüsselloch mit munterem Klang anrief: „Herr Amtsrichter, es ist Zeit!“

Was für ein Morgen lächelte über der See! Prächtige Luft umwehte uns; der Duft des Salzwassers fächelte belebend um meine Stirn und ich sog ihn ein wie ein Genesender. Wir saßen dicht an einander hinten im Boot, das vor frischer Brise mit halbem Wind, wie man so sagt pfeilschnell, durch die grünliche, schillernde Fluth schoß. Wiebke steuerte; ich hielt die Schot. „Immer klar zum Loswerfen!“ mahnte Wiebke, die in all ihrem Silberschmuck glänzte. Ich ließ eines der silbernen Kettchen durch die Finger laufen.

„Schöne, feine Arbeit – und Sie tragen gern Schmuck?“

„Furchtbar gern! Wenn ich mich ’mal verlobe, dann muß mein Bräutigam mir viel, viel schenken! Ich bin gar nicht so sehr für schöne Kleider; man kann in einfachem Zeug, wenn’s nur gut sitzt, ebenso nett aussehen; aber alles, was Geschmeide heißt, das lockt mich, ich hab’s von klein auf so gern gehabt. Geben Sie Acht, wir drehen etwas in den Wind, sonst laufen wir auf den Stein da auf!“

Ein einsamer großer Felsblock ragte um einige Fuß aus dem Wasser, und silberne Tropfen spritzten um ihn. „Bei Ebbe liegt er trocken; gerade soweit geht das Wasser zurück,“ erklärte Wiebke. „Ist einmal ein Kind hier ertrunken, das vom Hochwasser überrascht wurde und zu spät ein Herz faßte zurückzugehen, wie’s Wasser schon tief war. Keiner hatte es bemerkt. Die Dünen liegen zwischen dem Dorf und dem Stein. Es soll noch da spuken und die Schiffer warnen bei schlechtem Wetter.“

Heute morgen saßen weiße Möven auf ihm und flogen, wie das Boot eilig vorüberschoß, schreiend in die Höhe. Das Boot stampfte leicht vor dem Seegang; im Sonnenlicht glitzernde Spritzer übersprühten den eintauchenden Bug mit Perlenschaum; langgestreckt, langsam anwachsend, rauschten die niedrigen Seen quer gegen uns an, selten nur einen kleinen klatschenden Guß über den Dollbord werfend, wenn die Brise nachließ und das Boot sich nach luvart ausrichtete.

„Fürchten Sie sich?“ fragte Wiebke. Sie saß mit der Ruhe alter Gewöhnung und regierte die Ruderpinne mit sicherer Hand. Ich fürchtete mich nicht. Sie nickte mir vergnügt zu und zeigte voraus. „Da sehen Sie schon den langen Steg, den sie ins Wasser hinausgebaut haben; da legen wir an und machen das Boot fest. Dann weise ich Sie erst zurecht und mache meine Einkäufe. Ich esse bei meiner Tante –“

Ein lustiger Gedanke durchfuhr mich.

„Nein, Wiebke, möchten Sie nicht ’mal an der großen Gasttafel mitessen? Ich lade Sie ein; bitte, kommen Sie mit!“

Freudig leuchtete es in ihrem Auge auf.

„Ist das Ihr Ernst, Herr Amtsrichter? Ja, das möchte ich schrecklich gern einmal; o, das ist reizend von Ihnen!“ rief sie dankbaren Tons.

„Abgemacht!“ Und ich freute mich darauf, mit dem schönen Friesenkinde zusammen hier, ein Fremder, den keiner kannte, zu Tisch zu sitzen und ihr einen Gefallen damit zu thun. Ich war ja sicher, daß sie mir keine Verlegenheiten bereitete. Sicher aber auch war ich manchen Neiders. Sie mußte auffallen, und das war mir gerade recht in der fast übermüthigen Stimmung, in die ich seit gestern gerathen war. Und heute im frischen Morgenwind schwoll mir das Herz ordentlich in neuer Lebenslust. Als ich auf der Brücke ihr die Hand reichte, um ihr aus dem Boot zu helfen, da war mir der Gedanke, wieder unter so vielen Menschen zu sein, gar nicht mehr unbehaglich; ich fühlte mit einem Male, wie jung ich noch war.

So gingen wir Seite an Seite über den Steg, und ich hatte meine Freude daran, wie sicher und zierlich ihre Füße in den kurzen Schuhen und weißen Zwickelstrümpfen auf den hallenden Planken auftraten.

Ich ging mit ihr in allerlei Läden umher, und es machte mir Vergnügen, zu sehen, wie das reizende junge Ding mit frischer Thatkraft ihres Amtes waltete als Führerin und Anwalt in all den Sachen, von denen ich nichts verstand, und ebenso ihre eigenen Angelegenheiten bestimmt und umsichtig ordnete.

„So, nun möchte ich nur noch in den Handschuhladen da drüben, und dann gehen wir zum Essen! Sind Sie nicht auch hungrig, Wiebke?“

„Nein, ich freue mich viel zu sehr!“ sagte sie kindlich. Und das glühende Roth der Ueberraschung und des Glücks, das ihre Wangen färbte, als ich ihr sagte: „Jetzt suchen Sie sich ein Paar helle Handschuhe aus zu unserem Diner!“ war allerliebst.

So traten wir ein in den großen Saal mit seinen langen, üppig gedeckten Tafeln. „O wie wunderschön!“ flüsterte sie befangen und schmiegte sich ist unwillkürlicher Scheu an mich, den einzig bekannten Menschen unter den vielen, die theils schon längs der Tische saßen, theils noch fluthartig durch alle Thüren geputzt herein strömten.

„Kommen Sie, Wiebke, legen Sie Ihren Arm in den meinigen! So – nur die Finger!“

Die Hand, die leicht in ihrem hellgrauen Handschuh auf meinem Arm lag, sah jetzt sehr zierlich aus. Wir gingen die lange Reihe entlang. Wie sie nun festen Halt an mir hatte, da richtete sie ihre schlanke Gestalt auf, und den Kopf ein wenig zurück und zur Seite gelegt, ließ sie die Blicke schnell musternd über die Leute hinwandern, ohne Verlegenheit, mit einem wirklich allerliebsten Ausdruck von kindlichem Stolz. Manches Auge folgte uns.

„Sehen Sie nur,“ flüsterte sie zu mir aufschauend, „wie die Leute uns nachsehen; das thut gewiß meine Kleidung! Ist Ihnen das nicht unangenehm?“

Ich wollte widersprechen, doch ich besann mich noch zu rechter Zeit. Wozu das Mädchen eitel machen!

Ziemlich weit unten an der Tafel fanden wir Platz. Ich ließ einen Stuhl frei zwischen der zunächst sitzenden, die Speisekarte musternden Dame und mir, den bald darauf ein Herr mit blondem Vollbart einnahm, welcher sich ihr sehr eifrig zu widmen schien.

Sie antwortete ihm mit einer Stimme, deren Klang mir bekannt vorkam; aber als ich selbst von der Speisekarte aufblickte nach ihr hin, konnte ich nur ihren Nacken sehen. Sie sprach eifrig mit einem älteren Herrn an ihrer rechten Seite; ich wandte mich Wiebke zu, die strahlenden Blickes die Reihen hinauf und hinunter sah.

„Soll ich die Handschuhe ausziehen?“ fragte sie leise, sich dicht zu mir beugend und mir mit einem wirklich süßen Blick ins Gesicht sehend.

„Nein!“ erwiderte ich ebenso leise; „sehen Sie, viele Damen behalten sie an!“ Sie nickte. – Und nun kam die Zahl der Gerichte.

„Das kenne ich ja kaum!“ bewunderte sie eins ums andere; aber sie saß trotzdem mit einem Anstand zu Tisch, der meine letzte Besorgniß um das Wagestück unterdrückte. Mir selbst that die gesellige Luft hier jetzt wohl und ich wurde heiterer und heiterer. Sie plauderte so frisch und natürlich und so vertrauend, als wäre ich ein alter guter Bekannter; jetzt schwirrte über die ganze Tafel das Gespräch, und noch dazu spielte nicht fern von uns rauschende Tafelmusik; da that kein Flüstern mehr noth und war auch nicht mehr möglich, wenn man sich verständlich machen wollte. Auch Wiebke sprach jetzt laut und lachte wohl einmal silberhell dazwischen ein wenig auf. Die Musik spielte eben die Ouvertüre zu einer [480] bekannten kleinen Oper: es war ein Potpourri von Studentenliedern, und ich sang innerlich die bekannten flotten Melodien mit.

„Vivant omnes virgines
Faciles, formosae!“

klang es gerade jetzt zu den Flöten und Fagotts in meinen zum Leben erwachenden Herzen nach. Jetzt fingen hier und da die Schaumweinpfropfen an zu knallen. Ich winkte dem Kellner – er stellte eine halbe Flasche kühlen Sekt vor mich hin und zwei Gläser. Wiebke schrie beinahe leise auf vor Freude:

„Champagner?“ sagte sie und legte die Hand auf meinen Arm – „nein, wie soll ich Ihnen so viel Freundlichkeit danken? Den habe ich noch nie getrunken!“

Der Trank brauste auf in den Kelchen. „Nun schnell, Wiebke, eh der Geist noch verduftet!“ Klingend neigten sie sich gegen einander; sie sah mir tief in die Augen; dann den blonden Kopf in den Nacken beugend, schlürfte sie auf einen Zug den schäumenden Wein, und, ein wenig seitlich im Stuhl gelehnt, das glückliche Gesicht mir voll zugekehrt, hielt sie mit berückendem Lächeln das leere Glas gegen mich hin, ein wahres Bild von Jugendlust. – Mein Herz schwoll, wie ich meinen Blick tief in ihren senkte – (Du siehst, Fritz, ich bin ehrlich!) „Noch fünf Wochen mit dem reizenden, gefährlichen Geschöpf zusammen“ zog es mir durch den Sinn mit bethörendem Klang –

„Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, ade –
Feinsliebchen, die schaute zum Fenster hinaus – ade!“

schallte es da von oben plötzlich, kräftig, im alten, herrlichen, unvergessenen Ton in meinen Traum hinein mit Zinken und Trompeten. – Ich senkte den Kopf und stützte ihn in die Hand – welche Fluth von Erinnerungen strömte bei der Weise mit einem Male auf mich ein!

„Was ist Ihnen?“ hörte ich Wiebke fragen, und wieder fühlte ich ihre Hand auf meinem Arm. Das Haus an der Marktecke – das flatternde Tuch – etwas wie brennendes Heimweh glomm in meinem Herzen auf – seufzend hob ich das Gesicht; neben mir hatte mein blondbärtiger Nachbar sein Glas umgestoßen; ich blickte zur Seite und – sah in Hildegards Gesicht! – Ich sah und sah und sah – das war sie! Und sie sah mich an, blaß, ernst, aus großen blauen Augen – kannte sie auch mich? kannte sie mich nicht? Kein Lächeln auf ihren Lippen, kein Gruß in ihrem Blick – jetzt schaute sie fremd und kalt weg und sagte ein Wort zu ihrem Nachbar; er stand auf, bot ihr den Arm, und sie gingen; der alte Herr und eine weißhaarige Frau folgten ihnen und ich starrte ihnen nach.

„Aber, Herr Amtsrichter!“ sprach Wiebkes weiche Stimme, bittend, ängstlich, bestürzt, und ihre Fingerspitzen berührten meine Hand – ich fuhr herum. „Was ist Ihnen? Um Himmelswillen, Sie sind ja weiß wie die Wand!“

Ich griff willenlos nach der Flasche; was spielten sie jetzt da oben? War das nicht „Es steht ein Baum im Odenwald? Jawohl:

„Und als ich wied’rum kam zu ihr,
Verdorret war der Baum;
Ein and’rer Liebster saß bei ihr –
Jawohl, es war ein Traum!“

Ich goß uns ein und stieß mit ihr an und sah sie an, ohne zu trinken; wunderbar, hatte ich die so hübsch gefunden? Nimm das bißchen Jugend aus ihrem Gesicht fort, und was bleibt ihr? Sie setzte das Glas nieder: „Sie denken schlecht von mir!“ sagte sie leise.

Mir that das Herz weh.

„Wiebke – wie kommen Sie auf solchen Gedanken? Ich habe Sie sehr lieb!“

Vor fünf Minuten hätte uns das Wort zusammengeführt. Jetzt stand sie auf und sagte mit zuckenden Lippen:

„Herr Amtsrichter, wollen wir gehen? Ich glaube, die Leute sehen uns an!“

Ich hatte nicht den Muth, ihr den Arm zu reichen. Stumm ging sie neben mir her.

„Wann müssen wir fort?“ fragte ich.

„In einer guten Stunde. Bitte, erwarten Sie mich dort in der Glasveranda; ich muß noch zu meiner Tante!“ Ich reichte ihr die Hand. Sie legte die ihre hinein, aber ohne Druck, und es glomm etwas auf in ihrem Auge, wofür ich keinen Namen fand – und doch war kein Leben in diesem Blick, wie’s sonst daraus gelacht hatte. „Ich danke Ihnen!“ sagte sie und gab sich Mühe zu lächeln. – Sie that die Lippen von einander, als wolle sie etwas hinzufügen – aber sie sagte nichts und wandte sich zum Gehen.

[495] Ich saß in der Veranda. Alles, alles, was ich vergessen glaubte, lebte in mir auf. Die alten Tage zogen einer nach dem andern an mir vorbei; aber glanzlos, wie in Nebel gehüllt. Sie war es gewesen – ich hatte mich nicht geirrt; aber sie war für mich verloren. Und nicht nur, daß ein anderer sie erworben: wir waren innerlich getrennt, ganz getrennt. Ich barg das Gesicht in den Händen. Nun war alles vorbei! – Und in meinem Herzen war die alte Liebe mit ungestümer Gewalt wach geworden! Was für ein Leben lag vor mir! So saß ich noch, als Wiebke neben mich trat.

Sie sah gehalten und ernst auf mich. „Wollen wir segeln? Der Wind kann umschlagen!“

Ich stand auf und ging neben ihr her. Wir stiegen ins Boot; sie setzte sich ans Steuer und ich machte das Segel los. Auf dem Stege standen Badegäste, die uns nachsahen.

„Ei, da möcht’ ich auch mitfahren!“ näselte ein junger Herr in Perlgrau und das Monocle ins Auge geklemmt. Eine rothe Rose flog herab, traf Wiebke vor die Brust und fiel in ihren Schoß. Sie nahm sie und warf sie ins Wasser.

„Abgeblitzt!“ rief eine andere Stimme. Jetzt bekam das Boot Fahrt, das Segel stand voll, wir entfernten uns vom Steg. Aus Versehen rührte mein Fuß an ihren; hastig zog sie ihn zurück. So saßen wir schweigend bei einander.

„Wiebke!“ sagte ich endlich – was hatte das arme Kind mir denn gethan? – und legte meine Hand auf die ihre. Sie ließ es geschehen, aber sah mich nicht an. „Ich habe Ihnen weh gethan –“

„Holen Sie die Schot besser an und belegen Sie dieselbe!“ sagte sie mit kühlem Ton; „wir liegen Kurs an, und der Wind ist hier beständig.“

„Wollen wir nicht wieder gute Kameraden sein?“ Ich hatte jetzt beide Hände frei und faßte die ihre so. Sie versuchte sie loszumachen und sah von mir weg auf die See. „Nein, Wiebke, lassen Sie uns in Frieden scheiden, Sie können nicht wissen, was mich wegtreibt von hier und was heute in meinen Weg gefallen ist –“

Da fuhr sie herum. Dunkle Gluth lag auf ihrem Gesicht. „Ja, ich weiß es! Sie meinen, Sie haben den Spaß mit dem Mädel doch zu weit getrieben in lustigem Weinrausch, und sie ist zu leicht darauf eingegangen“ – sie hielt ein und verschluckte mühsam die Thränen – „und nun wollen Sie fort – damit –“

Sie brach in lautes Weinen aus. Ich saß rathlos. Was halfen hier Versicherungen? Sie trocknete ihre Thränen. So saß sie wieder eine Weile still. Endlich sah sie mich an.

„Ist es wahr, daß Sie nicht meinetwegen fort wollen?“

„Das weiß Gott, Wiebke!“

„Wollen Sie mir einen Beweis dafür geben?“

„Kann ich das?“

„Ja; bleiben Sie bei uns!“

„Warum wollen Sie das?“

„Weil ich nie wieder zur Ruhe kommen könnte, wenn Sie meinetwegen gingen, weil Sie mich schrecklich unglücklich zurücklassen würden; weil ich mir vor mir selbst zeitlebens entehrt vorkommen würde –“ Jetzt war wieder Leben in ihrem Auge.

„Gut, Wiebke, ich bleibe!“

Da zog das erste Lächeln wieder über ihr sonst so sonniges Gesicht. „Tausend Dank!“

Es klang fröhlich. Und ich, ich konnte es thun! Mir war sie nicht mehr gefährlich. Noch in dem Augenblick, in dem ich sie auf immer verlor, war Hildegard als mein guter Engel zum zweiten Male über meinen Weg gegangen.

Jetzt kam das Fischerdorf hinter den Dünen in Sicht und das Haus mit dem rothen Ziegeldach. Sie zeigte darauf hin.

„Den Leuten da habe ich vielleicht heute gute Miether verschafft,“ sagte sie mit einem Ton des alten harmlosen Wesens.

„Wieso?“

„Als ich aus der Hausthür der Tante trat, kam mir ein Herr entgegen – ich hab’ ihn auch bei Tisch gesehen, flüchtig – es ging alles im wechselnd bunten Strom an mir vorüber; ich glaube, er saß in unserer Nähe, ziemlich dick, mit flacher Nase – und fragte mich sehr höflich, ob ich hier nicht ortsangehörig sei und ihm ein Quartier für Vier nachweisen könne, das nicht so unerschwinglich theuer wäre, irgendwo in der Nähe; es sei alles überfüllt in Stagersand. Da sagte ich ihm, an unser Gespräch von gestern denkend, er solle nur ’mal nach Fischbeck fahren, da gäbe es Quartier genug. Er fragte noch, ob ich dort aus der Gegend wäre, und ich sagte ihm, vom Leuchtthurm. Da meinte er, dann hoffe er mich wieder zu sehen, zeichnete den Namen in sein Taschenbuch und ging ebenso höflich, wie er gekommen.“

Ich hörte mit halbem Ohr zu. Es war mir im Grunde sehr gleichgültig.

Als wir nach schneller Fahrt unten am Fuße des Leuchtthurms anlegten, wurden gerade die Lichter angesteckt. Die Ebbe hatte schon angefangen zu laufen. Die eisernen Stufen, die in die Untermauerung eingelassen waren, lagen zum Theil trocken. An beiden Seiten hingen Ketten als eine Art beweglichen Geländers herab zur Hilfe beim Aussteigen aus dem Boot.

Wir holten das Segel ein und beschlugen es.

„Sind Sie mir ganz gewiß nicht mehr böse?“ fragte Wiebke leise.

„Nein, ich bin es nie gewesen!“

„Sagen Sie mir dann einmal, was Sie heute so anders werden ließ? Bitte, später – nicht jetzt – nicht heute.“

„Ich will sehen, ob ich’s kann, Wiebke; es ist eine traurige Geschichte –“ Ich kletterte hinauf; sie folgte. Oben stand Vater Volkers und rauchte. Er nickte schweigend.

Am Abend trank ich wohl wieder unten mein Bier und horchte auf das Sausen des Windes und das Klatschen der Seen und Wiebke sang ein Lied – aber mein Herz war weit, weit davon fern. – Ob an der polnischen Grenze oder am Meer – es ist alles eins: die Sorge reist mit dem Menschen, und das Leid fliegt ihn doch wieder an. Ich hätte auch zu Hause bleiben können. – Ich konnte auch hier bleiben!

Ich fischte und segelte und badete vom Boot aus im regelmäßigsten Leben, das sich denken läßt, und diese stille Regelmäßigkeit that mir wohl. Wenn ich draußen meine Angel auswarf und die großartige Einsamkeit des Meeres mich rings umgab, der sandige Strand einem Wolkenstreifen gleich am Horizont lag und nur der Leuchtthurm schlank aus der See aufragte, wenn die kleinen Wellen im leichten Seegang mein Boot wiegten und gegen seine Planken plätscherten, dann ward’s mir leichter, freier ums Herz. Ich war vielleicht auf dem Weg der Heilung.

Es war drei Tage nach der Fahrt mit Wiebke. Wir waren gute Freunde; aber unser Verkehr war harmloser, ungefährlicher geworden, als am Anfang.

Ich war vom Fischen zurückgekommen, hatte oben auf meiner Stube mir von Wiebke decken und auftragen lassen – alles zierlich und gut und freundlich – und unter dem Auflegen von Messer und Gabel erzählte sie mir, die vier Herrschaften von Stagersand seien richtig beim Krüger in Fischbeck eingezogen.

„Ach so, Ihr Verehrer!“ sagte ich, „der mit der platten Nase, nicht wahr?“

Sie lachte: „Ja; ich mag ihn nicht leiden; gestern begegnete er mir drüben am Strand und war wieder sehr freundlich und sagte, er würde mich nächstens besuchen; ich hab’ ihm gar nicht darauf geantwortet. Er wirft einem immer so wunderliche Augen zu und redet so komisches Zeug; das schickt sich doch nicht für einen verlobten Mann. Die junge Dame soll ja seine Braut sein.“ Damit ging sie.

Ich hatte meinen Mittagsschlummer gehalten und lehnte aus meinem Fensterlein. Die See lag regungslos wie ein großer Schild aus blankem Stahl vor mir. Kein Lufthauch rührte sich. „Heute sitzt es sich gut oben auf der Galerie, im Schatten der Laterne,“ sagte ich mir, nahm ein Buch und stieg, meinen Klappstuhl unter dem Arm, die paar Stufen hinauf bis an den Gang mit dem eisernen Gitter, der um die Laterne lief. Hier oben saß es sich wonnig. Ich schlug auf, da wo das rothe Seidenband lag – ich brauchte ja nie ein anderes Lesezeichen – und las und blickte hin über die See und las weiter, ganz in den Genuß der köstlichen Stunde vertieft. Da hörte ich unten am Fuß des Thurmes Stimmen und Ruderschlag.

[496] „Ach so – Wiebkes Besuch!“ dachte ich und las weiter. Nach einer Weile drang der Ton von Schritten, die auf der Wendeltreppe im Aufsteigen widerhallten, durch die große Stille an mein Ohr. Nun kommen sie nach oben. „Müssen einem die auch noch die schöne Stille des Nachmittags stören! Ich mag jetzt keine alltägliche Unterhaltung machen!“ sagte ich mir. Schnell legte ich mein Buch auf den Stuhl und schlüpfte in meine Kammer.

Kaum war ich eingetreten, da kamen die Schritte an meiner Thür vorbei. Ich hörte Wiebkes Stimme. „Hier wohnt jetzt ein Sommergast, ein Herr aus dem Binnenlande –“ da traten sie schon auf die Plattform hinaus. Verdrießlich lehnte ich am Fenster. Da rief Wiebke mit einem Male laut und eifrig. „Herr Amtsrichter, kommen Sie schnell; hier unterm Thurm spielt ein ganzer Schwarm von Tümmlern!“

„So, da haben wir’s!“ dachte ich – „nun muß es doch sein! Nun bin ich verrathen!“

Langsam öffnete ich die Thür und ging hinauf. Aber fast wäre ich wieder hinuntergetaumelt: vor mir, keinen Fuß von mir entfernt, stand – Hildegard am eisernen Geländer.

„Fräulein Starke!“ stammelte ich.

Sie war blutroth geworden.

„Sehen wir uns hier wieder?“ sagte sie. Ja, das war ihre Stimme.

Da wandte sie sich an den Herrn, der erstaunt auf uns schaute. „Ein alter Bekannter aus jungen Tagen,“ erklärte sie mit schwachem Lächeln „Herr Rüdiger, Jurist –“

„Mein Name ist Baumann!“ stellte man Nachbar von Stagersand sich vor; „ich glaube, ich habe schon das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen in Begleitung unserer liebenswürdigen Führerin hier.“

Ich verbeugte mich, ohne etwas erwidern zu können.

„Sehen Sie dort, Herr Baumann!“ rief Wiebke und zeigte hinab– „nein, da schwimmen immer mehr! So viele sieht man hier selten!“

Schnell wandte er sich und trat zu ihr. Hildegard und ich standen allein und sahen einander stumm in die Augen. Ihr Athem ging schnell. Mich faßte etwas wie Schwindel. Ich ergriff die eiserne Stange des Geländers.

„Hildegard!“ flüsterte ich.

Sie schüttelte leicht das Haupt. Die beiden andern standen jenseit der Laterne. Ich that besinnungslos einen Schritt vor – sie zurück. Da stieß sie an den Feldstuhl, er fiel um und das Buch auf den Boden. Das kleine rothe Lesezeichen lag auf dem dunklen Asphalt. Sie erblickte es und zuckte zusammen. Ich nahm es auf.

„Kennst Du das, und weißt Du, was Du mir dazu schriebst?“ raunte ich.

Sie sagte nichts, aber farblose Blässe lag auf ihrem Gesicht. Da trat Baumann hinter der Laterne hervor. „Hildegard, was fehlt Dir?“ rief er; „Kind, bist Du krank?“

Ich riß den Stuhl auf und sie sank kraftlos darauf nieder. Mir fuhr ein Stich durchs Herz. „Hildegard“ und „Du!“ hatte der fremde Mann gesagt!

„Mir ist unwohl geworden vom Treppensteigen!“ sagte sie mit matter Stimme.

„Ich hole Dir ein Glas von dem guten Portwein unten!“ rief er eilig. „Nein, nein, Fräulein, lassen Sie mich!“ hielt er Wiebke am Arme zurück, „bleiben Sie hier!“ Und hinab polterte er mit schweren Stiefeln.

Ich warf Wiebke einen Blick zu: „Bringen Sie dem Fräulein schnell zuerst ein Glas Wasser aus Ihrer Stube!“

Sie verstand mich und ging.

Ich knieete vor Hildegard und faßte ihre Hände und sah zu ihr auf. Sie lächelte schmerzlich auf mich nieder. „Laß mich los!“ bat sie leise – „zu spät! Er ist mein Verlobter!“

„Und wenn er’s ist – das gilt nicht! Du bist mein gewesen und bleibst mein, und ob ich um Dich kämpfen sollte bis aufs Blut – Hildegard, ich kann Dich nicht wieder lassen!“

Sie machte schnell ihre Hände los und stand auf.

„Nein, ich bin sein!“ sagte sie mit tiefer Stimme.

„Hildegard, nimm das Wort zurück!“ rief ich und griff wieder nach ihren Händen.

Sie entzog sie mir. Wieder lag der kalte, todte Blick auf mir, der mich an der Tafel getroffen hatte, unerbittlich, streng.

„Du sollst, Du mußt mich hören um unserer süßen, selige, nie vergessenen Liebe willen! – Denke daran, daß ich Deine Lippen geküßt habe! Sag’ mir, wo und wann ich zu Dir kommen darf!“ flehte ich.

„Nirgends und nie!“ antwortete sie fest. „ich bin nicht mehr Herrin über meinen Willen.“

Ich sah sie starr an.

„Ist das Dein letztes Wort, Hildegard?“

„Mein letztes Wort!“ sagte sie fest.

„Nun, dann fahre hin!“ rief ich außer mir, „und los und ledig will ich sein, und wie Du mich vergessen, so will ich Dich vergessen, und kein Erinnern an Dich soll in mir aufwachen – auch dies hier soll im Wind verwehen und in den Wellen untergehen! Wenn Du mir’s wiederbringst, dann will ich Dich wieder in mein Herz fassen!“ Und ich knitterte das rothe Seidenband in der Hand zusammen und warf es hinaus über das Geländer, daß es in der stillen Luft langsam zum Wasser niederflatterte. Sie sah ihm nach, von mir abgewandt.

„Leb’ wohl!“ sagte sie leise und reichte mir die Hand.

Ich gab ihr die Hand nicht. Und ihr Gesicht konnte ich auch nicht sehen. Da nahten die Schritte von unten und laute Stimmen – Herr Baumann kam mit Wiebke langsam die Stiegen herauf. Ich hörte Wiebke lachen.

„Ach, Du siehst ja wieder ganz roth und wohl aus!“ rief er laut, als sie sich zu ihm wandte. „Da hätte ich mir ja die Chimborassoreise sparen können; willst Du trinken?“ Sie netzte die Lippen und gab ihm das Glas zurück.

„Nun, dann auf Ihre Gesundheit, Sie Nixe der See!“ sagte er und warf Wiebke einen langen Blick zu. Sie wandte sich erröthend ab. Hildegards Blick lag auf ihr.

„Nun wollen wir aber hinuntergehen!“ mahnte er; „dies Panorama mit Salzwasser auf allen Seiten ist auf die Dauer langweilig. Ich begreife nicht, verehrter Herr, wie Sie sich hier in dieser Wüste allein haben ansiedeln können. Indessen auch die Sahara hat Oasen, wie ich sehe!“ setzte er leise hinzu. „Nicht wahr?“ Er blinzelte mir zu. Ich muß ihn sehr zornig angesehen haben, denn schnell fuhr er in verbindlichem Tone fort. „Ich hoffe, daß wir gute Nachbarschaft halten werden; man ist hier so sehr auf einander angewiesen. Nicht wahr, Hildegard?“

„Gewiß!“ gab sie zurück; „meine Schwiegereltern werden sich freuen, Sie kennen zu lernen! Adieu!“

Sie wollte gehen – plötzlich reichte sie mir die Hand. Ich mußte ihr jetzt die meine wohl geben – da fühlte ich einen kräftigen Druck der kleinen Finger, daß es mich wie mit elektrischem Schlag durchzuckte – und dann war sie verschwunden. Ich ging wie ein Träumender in mein Zimmer und warf mich mit dem Gesicht aufs Bett. So lag ich im Kampf und Krampf meiner Seele, bis die Sterne am Himmel standen. War’s nun endlich vorbei? „Ja!“ sagte ich laut; „nein!“ rief die Stimme meines Herzens, „nie!“




Du fragst mich, warum ich jetzt nicht mein Bündel schnürte und auf und davon ging, und meinst, nun wär’s Zeit gewesen? Ja, ich dachte auch daran und das Versprechen, das ich Wiebke im Boot gegeben, hätte mich nicht am Reisen gehindert; aber etwas anderes that es: mein Stolz! Ich wollte nicht als Ausreißer in Hildegards Augen dastehen. War doch, trotz aller „Neins“, die ich dem Ja entgegensetzte, in meinem Herzen noch ein tief verborgen Kämmerlein, in dem ein Funken von Hoffnung glühte? War’s vielleicht jener Händedruck, der mich zurückhielt? Ich weiß es selbst nicht. Aber ich blieb und fuhr mit Wiebke zum Fischen weit hinaus in See – aber nie dem Lande zu.

Ich sagte, ich fuhr mit Wiebke. Sie trat zu mir, als ich am nächsten Nachmittag das Boot klar machte, und fragte mit ihrem lieblichsten Lächeln: „Darf ich mit Ihnen fahren? Es ist so schrecklich langweilig und einsam hier!“

Da stand sie auf dem Felsen über mir, und wie ich hinaufsah, mußte ich mir wieder eingestehen. „reizend!“ Aber auch: „nimm sie ruhig mit! Es ist kein Wagniß mehr; auch jetzt nicht, und jetzt gerade nicht! Wo Dir das in unnahbare Ferne gerückt ist, wonach Du sehnend die Arme ausstreckst, da hat das, was Du mit der Hand erreichen kannst, keinen Werth – gar keinen!“ Und Rücksichten zu nehmen hatte ich ja auch auf [498] niemand. So fuhren wir zu zweit hinaus. Es waren wunderliche Stunden, wie wir draußen den Bootsanker fallen ließen und die Buttangel auswarfen: ringsum die heilige Stille der See, über uns Sonnengold und Himmelsblau, unter uns das Glitzern und Funkeln und Rauschen im Wasser – da schien mir das ganze Leben mit all seinem Leid und all seinem Glück, mit all seiner Versuchung und seiner Ehre wie an großer, bunter Traum. Ich lag hinten im Boot; auf der ersten Ducht saß Wiebke und sah auf mich nieder. „Wiebke, bitte, singen Sie!“ Ich schloß die Augen und sie erhob die Stimme. Friesenlieder in Moll sang sie über mir; wie der Gesang der Meerfrauen klang es über dem Wasser – grenzenlose Wehmuth packte mich und meine Seele ging auf die Wanderschaft. Ich vergaß Angel und Meer und Mädchen, bis dieser Seelenschlaf und Traum in leiblichen Schlummer überging. Da fuhr ich auf: über mich gebeugt saß Wiebke und ihr Athem fuhr über mein Gesicht. Ich richtete mich auf; sie setzte sich ohne Verwirrung auf ihren Platz und fühlte nach der Angelschnur. „Wiebke, warum weckten Sie mich?“

„Sie wachten von selbst auf!“

„Wiebke, sag’ die Wahrheit!“

„Die wissen Sie!“ sagte sie ruhig und sah mich an.

„Und was sollte wohl daraus werden, Wiebke?“

„Gar nichts! Denken Sie, daß ich nicht weiß, wie’s in Ihnen aussieht? Soll ich’s Ihnen sagen?“ Sie beugte sich wieder gegen mich. „Sie lieben die Dame von drüben und Ihr ganzes Herz gehört ihr; aber sie kann Ihnen nicht gehören. Und Sie sind zu ehrlich, um mit einem Mädchen, wie ich bin, zu spielen – und deswegen, weil ich mich bei Ihnen so sicher weiß wie in meines Vaters Schoß, darum habe ich Sie so lieb, darum sage ich es Ihnen auch – und heucheln kann ich nicht! Werden Sie nun noch abends zu uns kommen und mich wieder ins Boot nehmen?“ bat sie weich.

„Abends komme ich zu Euch – aber ins Boot, Wiebke – Wiebke – nein!“ rief ich plötzlich. „Geben Sie mir die Hand, wir wollen die sechste Bitte nicht vergessen!“ Es kam wie eine liebe, unvergeßliche Stimme übers Meer von den Dünen her geflogen, die dort fern auftauchten: "Führe uns nicht in Versuchung!“

Sie reichte mir mit abgewandtem Gesicht die Hand.

Am nächsten Tage fuhr ich allein. Ich hatte keine Freude am Fischen. Sollte ich umkehren? – Ich blieb draußen. Aber ich sah wenig nach der Angel; ich schaute mit meinem Kieker hinüber nach dem Land, da wo zwischen den gelben Sandhügeln ein rother Punkt erschien: das Ziegeldach ihres Hauses. Und ich sah, wie ein Boot vom Strande absetzte und auf den Leuchtthurm zusteuerte. Bis mir die Augen weh thaten, folgte ich ihm unablässig: wer saß darin? Es war keine Dame dabei; und das wäre ja auch unmöglich gewesen! Und doch seufzte ich auf, wie über eine versinkende Hoffnung. Aber den gelben Strohhut da, den kannte ich, der gehörte ihrem Verlobten. Ich hißte das Segel und fuhr hinaus, bis ich kaum noch den Leuchtthurm gewahren konnte; dann kehrte ich um; jetzt mußte er fort sein.

Wiebke kam mir, eine Karte in der Hand, entgegen; „Arthur Baumann, königlicher Domänenpächter“, stand darauf.

„Der Herr ließ bitten, ob Sie morgen vormittag nicht zu Hause bleiben wollten; er sehne sich gar zu sehr nach Umgang! Er wollte mit mir anbinden und machte so verliebte Augen, aber ich mag ihn nicht! Ein verlobter Mann, pfui!“

Sie warf den Kopf in den Nacken und ging hinaus. Die Aufforderung abzulehnen, wäre ungezogen gewesen und ich blieb. Allerdings nicht sehr gern. Ich haßte den Burschen von ganzer Seele. Mehr aber noch als die Furcht, gegen die Sitte der Menschen zu verstoßen, trieb mich eine Art unwiderstehlicher Neugierde, ihn kennen zu lernen, der da im Ueberfluß leben sollte, wo ich, ein Bettler, blutarm und hoffnungslos am Wege stand.

Um zehn Uhr meldete mir Wiebke, der fremde Herr komme. Ich nickte ihr über der Arbeit zu, bei der ich saß.

„Soll ich ihm sagen, daß Sie kommen?“ fragte sie.

„Ja!“

Wiebke huschte hinaus. Ich machte mich fertig und folgte ihr zu Herrn Baumann, der sehr erfreut that.

Wiebke brachte eine Flasche von dem guten Portwein. Ich folgte Baumanns Blick, als sie den edlen Trank vor uns hinstellte. Unablässig lag sein Auge mit geradezu begehrlichem Ausdruck auf ihr. Sie hielt die langen Wimpern gesenkt. Dann ging sie hinaus.

„Donnerwetter, Herr Amtsrichter,“ sagte er und hob sein Glas gegen meines, „Sie haben sich hier aber vorzüglich einquartiert.“ Draußen erklang gerade Wiebkes Stimme, die in der Küche sang. „Alles , was dazu gehört,“ sagte er aufhorchend; „recht so, Sie sind Junggesell und können das Leben genießen! ,Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang – der bleibt an Narr sein Leben lang!‘ Prosit!“

Ich hatte Lust, ihm meinen Wein ins Gesicht zu gießen; aber ich mußte mich wohl bezwingen und stieß leicht mit ihm an. „Sie irren sich!“ sagte ich bestimmt. „Lassen wir dies Thema!“

„Ja wohl, Sie kleiner Schäker Sie!“ drohte er mit dem Finger; „na, nur keine Sorge, mache Ihnen keine Konkurrenz, bin Witwer und verlobter Mann! Auf das Wohl denn meiner reizenden Braut! – Sie kennen sie ja auch und sogar schon von früher her! Pröstchen, der Wein ist vorzüglich!“ Wieder stieß ich mit ihm an, aber diesmal war’s, als ob eine andere Hand die meine führte, so klirrte mein Glas gegen seines, daß dieses zersplitternd brach und der Wein über den Tisch floß.

„Sie meinen’s aber ehrlich!“ rief er aufspringend; „da hilft Ihnen nun nichts, da gilt die nächste Flasche als Strafe!“

Wiebke trat ein. „Ja, sehen Sie ’mal, was Ihr Herr Amtsrichter hier gemacht hat. Machen Sie’s nur ’mal wieder ein bißchen rein, Sie reizendes Kind –“

Wiebke wurde roth und sah mich an; dann wischte sie schnell, beständig unter dem Feuer seiner Blicke, den Tisch ab und ging.

Vertraulich klopfte er mir aufs Bein. „Nun leugnen sie noch!“ lachte er; „der Blick eben, den Sie kriegten! Das sind ja ein Paar ganz famose Augen, welche die im Kopf hat –“

„Wollen wir nicht von diesem Thema absehen?“ fragte ich sehr bestimmt.

„Na, nun thun Sie mir den einzigen Gefallen und werden Sie nicht ungemüthlich! Meinetwegen; aber ich habe nun einmal trotz meiner Kurzsichtigkeit für Frauenschönheit ein Auge; daß ich einen guten Geschmack habe, das hat Ihnen doch auch meine eigene Wahl bewiesen. Sie ist doch reizend, nicht wahr? Und so tüchtig! Ich sage Ihnen, meine vier Kinderchen bekommen eine exemplarische Stiefmutter. Na, Sie trinken ja aber gar nicht! Prost! Ein junger Mann wie Sie darf nicht so traurig aussehn; was haben Sie denn?“

Ja, mir ging Stich auf Stich durchs Herz! Aber ich war jetzt d’rin – ich mußte durch. Nun trank ich mit ihm, um seine Zunge zu lösen.

„Wenn’s nicht aufdringlich ist, Herr Baumann, dann möchte ich Sie bitten, mir zu erzählen, wie Sie das junge Mädchen kennen gelernt haben, für das ich mich selbstverständlich interessire, weil ich sie als Student gekannt und verehrt habe.“

„Das kann ich mir wohl denken! Nun – sie war viele Jahre Gesellschafterin meiner alten Mama, oder vielmehr, sie stand dem ganzen Hauswesen mit wirklich rührender Treue vor. Das gefiel mir; das war etwas für mich und meinen großen Hausstand. Und dazu die liebreizende Erscheinung, das echt Weibliche in ihrem ganzen Sichgeben, das goldene Gemüth und die kräftige Entschiedenheit ihres Charakters; das zog mich an. Und so habe ich mich mit ihr verlobt und bin ein sehr, sehr glücklicher Bräutigam, und ich kann Ihnen sagen, die Aussicht, in wenigen Monaten solch ein Weibchen heimzuführen, die ist höchst angenehm! Ich bin wieder ganz jung im Herzen geworden, seit sie mir das Jawort gab – auf einer Landpartie, im Walde war’s, unter einer grünen Tanne – Herr, was haben Sie denn, was finden Sie Lächerliches daran?“ unterbrach er sich plötzlich in einiger Entrüstung.

Ich dachte an einen anderen Wald und eine andere Tanne, unter der an rother Fliegenpilz gestanden hatte! Hatte sie auch daran gedacht? Und doch „Ja“ gesagt?

„Sie wissen das so famos lebendig zu schildern,“ antwortete ich ihm, „das führt uns ganz notwendig zu der zweiten Flasche, die ich zu leisten habe; trinken Sie aus!“

Es kam wieder einmal etwas von der tollen Stimmung über mich, die auf der Germanenkneipe nach jenem Tage der ersten Trennung in mir auflohte. Ich hob mein Glas gegen ihn „Prost, was kann das schlechte Leben helfen!“ und während ich trank, zog mir ein Verslein durch den Sinn, ein böses:

„Da flucht’ ich den Weibern und reichen Halunken
Und mischte mir Teufelskraut in den Wein –!“

[499] Ich glaube, ich wurde ihm etwas unheimlich, und es war ihm eine nicht unliebe Ablenkung, als Wiebke wieder erschien, um die zweite Flasche auf den Tisch zu stellen. Der starke Wein fing an, ihm zu Kopf zu steigen, und mit einem zudringlichen Blick schaute er sie an. Aber meine Gegenwart behinderte ihn offenbar. Das Mädchen ging schnell davon.

Ich war in einer gräßlichen Stimmung, die in einer Art wilder Lustigkeit losbrach. Aber dennoch war es mir, als ob durch all das Dunkel des Jammers jener Hoffnungsfunken tief unten im Herzen heller aufleuchtete.

„Giebt’s denn keine Möglichkeit, Hildegard aus den Händen dieses Gesellen zu retten? Sie kann ihn doch nicht lieben, und er liebt sie ja auch nicht!“ sagte ich mir, und dabei schlug ich ihm vertraulich auf die Schulter und sah ihm forschend, lauernd in das geröthete Gesicht: „Sie scheinen mir auch kein Kostverächter zu sein! Ei, ei, so ein bißchen Türke? Was? Hat ’s die Kleine hier Ihnen angethan?“

„Hören Sie ’mal, die kann ja einen verständigen Mann irre machen; fällt mir natürlich nicht ein, ihr den Hof zu machen! Aber Sie wissen ja auch als Jurist und Mann von Welt: so ein Küßchen in Ehren –“ raunte er halbtrunken –

„Soll niemand wehren!“ rief ich – und ich malte mir mit lebhaftem Behagen das Bild, wie dieser Herr Rittergutspächter von einem Haifisch unter Wasser gezogen wurde.

„Wollen wir nicht einen regelmäßigen Frühschoppen gründen hier in diesem vorzüglichen Lokal?“ schlug er weinselig vor, als er sich erhob, um in sein Boot zu gehen. „Sie gefallen mir! Wir müssen überhaupt zusammenhalten; was meinen Sie z. B. zu einer gemeinsamen Wasserpartie, einer Fahrt in See – in Ihrem großen Boot da? Und dann nehmen Sie diese allerliebste kleine Leuchtthurmkrabbe wieder als Steuermann mit, wie damals; sah famos aus, als Sie abfuhren; meine Braut und ich standen auch auf dem Damm; aber wurden doch ein paar schlechte Witze über Sie gemacht.“

Mich überlief es wieder kalt trotz der erhitzenden Gluth des Weines.

„Nun ja, wollen sehen, wollen sehen!“ rief ich ihm nach; „besuchen Sie mich nur recht häufig. Am Vormittag bin ich aber meistens draußen zum Baden; am Nachmittag –“

„Schön, schön, also vormittags baden Sie! Freut mich, lassen Sie sich ’s gut bekommen,“ rief er mit etwas unsicherer Stimme aus dem Boot; „Donnerwetter, Ihr Wein ist zu stark zum Frühschoppen! – Komme bald wieder; riesig gemüthlich bei Ihnen – grüßen Sie –“ mehr hörte ich nicht; denn das Boot flog vor der Brise dem Lande zu.


Tage waren vergangen. Theils mit, theils ohne mein Zuthun hatte er mich mehrmals verfehlt.

„Nehmen Sie sich in Acht,“ sagte Brar Volkers, als ich an einem der folgenden Nachmittage ins Boot ging; „wir bekommen heut noch über kurz oder lang schlecht Wetter aus Nordwest. Die Stille seit gestern und die schwere Dünung gefällt mir nicht, der Himmel noch weniger. Darauf gebe ich mehr als auf die Sturmwarnungen der Seewarte. Sehen Sie nach oben; da hängt der Warnungsball schon seit heute vormittag! – Und jetzt läuft die Fluth schon; kann gut werden; vorgestern war Vollmond!“

„Ich will auch nicht weit,“ entgegnete ich; „aber ich muß hinaus. Komme zur rechten Zeit wieder!“

„Wenn die Fischer, die auf die hohe See gefahren sind, nur auch rechtzeitig ankommen!“ brummte er bekümmert. „Kommen sonst schwer an Land und können an der Riesenbrandung kentern und vollschlagen. Die volle See steht mit Nordwest hier auf die Dünen; und wir haben nicht umsonst eine Rettungsbootstation drüben in Fischbeck.“

Er ging und ich setzte Segel. Aber kaum, daß die flaue Brise mich vorwärts brachte. Ich griff nach den Riemen und pullte kräftig mit. Allmählich kam etwas mehr Wind auf, und ich ließ mich treiben, die Arbeit einstellend. – Da saß ich nun wieder, in meine schweren Gedanken versunken. Sollte ich Hildegard warnen? Sie wurde verrathen von ihm; ich brauchte ja nur Wiebkes Zeugniß beizubringen. Aber nein, und abermals nein. Sie hätte mir und ihr nicht geglaubt! Und in welchem traurigen Licht hätte ich als Kläger gegen ihn dagestanden! Hätte es nicht wie ein jämmerliches Manöver der Eifersucht ausgesehen? Nein, es ging nicht! Sie mußte ihr Geschick erfüllen – und ich auch. – So hatte ich wohl eine Stunde gesegelt. Plötzlich wurde ich aus meinem trüben Sinnen geweckt. Ein Windstoß fauchte über die See her, das stille Wasser schaumig vor sich her aufregend und mir in die Segel fallend, daß ich schnell bei der Hand sein mußte, damit mein Boot sich nicht zum Kentern legte. Dann ward ’s wieder still. Aber vom Lande her grollte und rollte die zunehmende Brandung. „Es ist die steigende Fluth!“ sagte ich mir und steckte sicherheitshalber ein Reff ein. Die Brise wurde stetiger, stärker. Dann und wann fuhr wieder eine sausende Bö einher. Das Wasser sah grau und trübe aus; die See ging hohl, weiße Wellenköpfe kamen auf und verliefen sich, waschend und spülend. Am Himmel zogen eilige Wolken dahin, mehr und mehr sich verdichtend zu bleifarbiger Decke.

„Es giebt am Ende doch etwas!“ dachte ich; „aber vor Nacht kann ’s nicht schlimm werden.“

Ich kannte die Nordsee nicht! – Als die Böen allmählich stärker und häufiger einsetzten, und als der Wind plötzlich wirklich nach Nordwest umsprang, gleichzeitig an Kraft zunehmend, da wurde mir die Geschichte aber doch bedenklich, und ich machte Anstalten zum Umkehren. Jetzt standen die Segel voll, und mit eiliger Fahrt flog ich dahin. Ich war durch mein Manöver näher an Land gekommen, und lauter donnernd rannten die Fluth- und Sturmseen schnell fortschreitend auf den Strand, daß ich die weiß aufrauschende lange Zeile auch mit dem Auge deutlich erkennen konnte. Wenn die Fluth erst mit ganzer Kraft einsetzte – jetzt war sie noch an Anfang – dann konnte das Schauspiel recht großartig werden – wenn die wüthende See erst alle Kräfte aufbot, um die Dünen zu stürmen: Dort, gerad voraus, lag ragend der große dunkle Granitblock, der seltsame, einsame, wogenumspritzte Findling, vor dem mich Wiebke einst gewarnt hatte – wo das Kind ertrunken sein sollte; es sollte ja noch da spuken, hatte sie gesagt. Ich blickte hinüber – und es lief mir trotz jeglichen Mangels an Gespensterglauben doch plötzlich kalt über den Rücken: wahrhaftig, da stand es ja in seinem Trauerkleid und winkte warnend von der Höhe des Steins zu mir herüber! Ich starrte und starrte hin – da bekam ich eine See über und das Segel fing an zu schlagen, eine bessere Warnung jedenfalls für unaufmerksame Schiffer, auf ihr Fahrzeug zu achten und alle Kraft zusammenzunehmen, als die wesenlosen Zeichen eines Schemens. Ich faßte die Ruderpinne sicherer und hielt ab; aber ich mußte doch wieder hinschauen: da stand das Gespenst ja aber noch immer und winkte! Ich war dem Stein näher gekommen. Jetzt sah ich mehr, es war eine Gestalt von Fleisch und Blut, mit im Winde wehendem losen Haar – eine Frauengestalt in schwarzem Kleid, ein flatterndes weißes Tuch in der Hand; eine, die um Hilfe winkte, und welche die plötzlich mit dem Sturm einbrechende, schnell steigende Fluth vom Rückweg zum Lande abgeschnitten hatte.

Ich legte das Ruder und holte die Schoten; in schneller Fahrt schoß meine Jolle aus den Stein zu ins flache Wasser und in die erste Brandung hinein. Und wie ich noch näher und ganz nahe heran kam, da fing mein Herz an zu hämmern; was ich von Anfang geahnt hatte – jetzt war es Gewißheit: die Frau auf dem Stein war Hildegard!

[508] Wilde Freude faßte mich, als ich Hildegard mitten in der Brandung auf dem Stein erblickte. Also doch noch einmal mit ihr zusammen! Nun war ich dicht bei ihr. Ich riß das Segel herunter und drehte hinter dem Stein auf, im Schutz vor der See, die ihren Gischt schon hoch über ihn hinspritzte. Ich hatte noch Wasser genug unter dem Kiel. Aus dem tanzenden Boot reichte ich dem bleichen Mädchen die Hand, ein schneller, behender Sprung, und sie stand in der Jolle und fiel nieder auf die Ducht. Wir sagten kein Wort, das Segel vor, und hinaus flogen wir auf das tiefe Wasser.

Da war ich mit ihr allein!

Um uns rauschende, brausende, schäumende See. Und dann das Schreien der nach Land zu fliegenden Möven. Ueber uns der dumpf sausende, seine Flügel hebende Sturm und der dunkel sich verhüllende Himmel. Keine Farben ringsum, als die schwarzgrüne, weiß überschäumende See, und dort hinter uns die in mattem Gelb scheinenden Dünen.

Und wir beiden im arbeitenden Boot allein über der Tiefe. Schweigend fuhren wir in das Wetter hinein. Sie saß still am Mast, die Hände im Schoß, und schaute hinaus auf die immer ungestümer einherrollenden Wogen. Spritzer um Spritzer kam über. Ihr dunkles Haar flatterte im Wind. Wasserperlen glänzten darin und zerrannen. Jetzt traf ein zischender Guß sie ins Gesicht. Sie legte die feinen, weißen Finger über die Augen. Wie Thränen quoll und rann es darunter hervor.

Jetzt brach ich das Schweigen. „Setzen Sie sich auf den Boden des Boots!“ bat ich; „sonst kann Sie das Segel über Bord fegen.“

Sie ließ sich hinabgleiten und kauerte dort, ein geängstetes, zagendes, zartes Weib.

„Fürchten Sie sich, Hildegard?“

Sie ließ die Hände sinken und sah mich an. "Ja!“

Ich hätte beinah gesagt: „ich wollte, wir gingen zusammen unter!“ – Wir mußten noch weiter in See hinaussteuern, wenn ich nicht an den Klippen scheitern wollte, die vom Leuchtthurm aus längs des Strandes sich, jetzt unter Wasser, weithin erstreckten.

„Hildegard, wir sind zum letzten Mal beisammen, und nicht Sie und nicht ich haben diese Stunde bestimmt; es war Gottes Wille. Sobald ich Sie an Land gebracht habe, gehen unsere Wege ganz aus einander. Nutzen wir diese Minuten aus, um es zwischen uns klar zu machen.“

Sie nickte langsam.

„Also erst zu Ihnen. Sind Sie glücklich?“

Schnell hob sie das Gesicht.

„Glücklich?“ sagte sie mit schmerzlichem Lächeln. „Haben Sie schon einen glücklichen Menschen gesehen? Ich dachte vielleicht gerade darüber nach, als ich da auf dem Stein saß und über das heranbrausende Meer hinsah – ich weiß nicht, wie lange es gewesen ist! Ich konnte trockenen Fußes über den Schlick bis zu dem Stein hingehen, und ich freute mich tief versunken, wie die Wellen nach mir hinaufleckten, und wie sie weiß wie kochende Milch am Gestein herunterrannen; und über dem wilden Schauspiel und meinen Gedanken vergaß ich des Heimwegs, bis er mir abgeschnitten war und hinter wie vor mir die See kochte; und gerade wollt’ ich’s wagen und durch die Brandung an Land zu gehen versuchen – da sah ich ein Boot und winkte ihm. Daß Sie es waren, wußte ich nicht, sonst hätte ich es wohl nicht gethan; denn ich hätte vorher gewußt, daß Sie mir diese Frage vorlegen würden. – Sie sagen, eine Braut muß glücklich sein? Ja denn; ich – ich bin glücklich in dem Gedanken an den Wirkungskreis, der mir beschieden sein wird, an das Vertrauen, dem ich gerecht werden soll. Das ist viel! – Sei es denn gesagt: die Zeit dessen, was die Menschen Liebe nennen, die liegt hinter mir. Aber lassen wir das! Die Würfel sind gefallen!“

Sie sprach ruhig, ergeben.

„Hildegard – warum haben Sie den Mann genommen?“

„Ich sagte es Ihnen!“ antwortete sie sanft. „Ich bin seinem Hause zu unendlichem Dank für viel, viel Liebe und Güte verpflichtet; und ich –“ sie stockte – „und ich hatte nichts, was mich zurückhielt!“

Wieder kam eine See über und übersprühte uns beide. Stärker, heulender sang oben der Sturm aus.

„Also nichts!“ sagte ich, und mir war’s mit einem Mal, als sollte ich das Segel loswerfen und die Ruderpinne aus den Händen schleudern – „also nichts!“

Da legte sie die Hand auf meine. Voll tiefen Leides ruhten ihre Augen auf mir.

„Nichts, seitdem ich las von dem Duell, das Sie um jener Witwe willen ausgefochten da erst gab ich Sie auf!“

„Herr Gott!“ mehr konnte ich nicht sagen.

„Ich schrieb, ohne Namen zu nennen, dorthin; ich bekam zur Antwort, es sei alles wahr! Da wußte ich, daß Sie mich vergessen hätten!“

„So! Also das war der Grund! Nun erlauben Sie mir, Ihnen hier im Angesicht Gottes zu sagen, daß es nicht wahr war! Hören Sie?“

„Ich höre!“ sagte sie traurig. „Aber ich sah Sie auch mit dem Mädchen vom Leuchtthurm siegesfroh in den Saal treten und sah Sie tief versunken mit ihr reden und scherzen, und wie Sie kein Auge hatten und kein Ohr für etwas anderes, und ich hörte das Reden der Leute – und das that mir weh – obgleich ich verlobt war, und ich mußte mir viel Gewalt anthun!“

Ihre Lippen bebten. Jetzt standen wirkliche, klare Thränen in ihren Augen. Ich preßte die Zähne zusammen und sagte kein Wort, zu den Segeln aufschauend.

„War das auch nicht wahr?“ fragte sie mit erstickter Stimme.

Ich hatte die eine Hand frei und reichte sie ihr hin: „Legen Sie Ihre Hand hinein!“ Sie that es.

„Wenn ich jenes Mädchens Lippen je mit den meinen berührt und wenn ich je ein Wort von Liebe zu ihr gesprochen oder sie im Arm gehalten oder meine Gedanken um sie geworben haben, daß ich sie sündig für mich begehrt hätte zu Ernst oder frevlem Scherz, dann will ich scheiden von Ehre und Namen und Amt! Das ist bündig, nicht wahr?“

Sie nickte wieder, und dies Mal perlten die Thränen über ihr Gesicht, und sie hielt sie nicht zurück. „Also alles, alles Irrthum!“ flüsterte sie und rang die Hände im Schoß.

„Und nun richte ich an Sie noch eine Frage, Hildegard; die letzte: warum verbargen Sie sich vor mir, wenn Ihr Herz [509] noch mein gedacht; warum ließen Sie sich nicht finden so viele Jahre hindurch?“

Sie war blaß geworden „Weil ich nicht mehr die war, die Sie geliebt hatten; weil Unehre auf meinen Namen gekommen war; weil mein Vater“ – sie stockte – „weil er einen bösen Tod starb und keiner ihm zu Grabe folgte und weil sein Andenken nicht das eines Gerechten war, als wir arm und nur Erben seiner Unehre aus unserm Hause nach furchtbaren Tagen in die Welt zogen. Darum wollte ich mich nicht an Sie drängen; darum verbarg ich mich. Und als ich nach Jahren ruhiger und vernünftiger dachte, – was konnte ich denn dafür? – da kam jenes Andere – und ich legte der Stimme meines Herzens Schweigen auf! Nun wissen Sie alles! Theilen mit andern konnte ich nicht!“

Es war auch über mich eine Ruhe gekommen, die mir selbst unerklärlich war. War es die jetzt mächtig wachsende Gefahr von außen her, die alle meine Geistes- und Körperkräfte in Anspruch nahm, oder war es der klare Blick, den ich in unser beider Vergangenheit und Zukunft that, der mir die Kraft einer Art ruhiger Verzweiflung gab? Ich weiß es nicht.

„Gut; zu Ende, Hildegard! Nun gieb mir noch ein einziges Mal die Hand – so, Du einzig, unendlich und ewig Geliebte – nun zieh in Frieden! Aber jetzt gilt’s!“

Wir waren querab vom Leuchtthurm, um den ich herum mußte, um meinen Fahrgast an Land bringen zu können. Bis dahin hatte ich das Boot schräg gegen die heranrollende See gesteuert, und ob es auch wild genug stampfte, so hatte es doch immerhin noch gute Stütze am gerefften Segel. Es lag zu weit nach Lee über, als daß wir viel Wasser hätten überbekommen können, und wieder nicht weit genug, daß wir Wasser geschöpft hätten. Aber jetzt kam der Augenblick der Gefahr. Nun mußte ich Ruder geben und abdrehen, so daß das Boot, wenn auch nur eine kurze Zeit lang, quer gegen die hohe See zu liegen kam.

Jetzt kam es dazu – wenn wir herumkommen konnten, ehe die nächste See heranbrauste! Tief lag das Boot auf der Seite; der Dollbord streifte im Wasser – ich hielt die Schot klar zum Loswerfen. Hildegard hatte die Hände um den Mast geschlungen und blickte aus großen entsetzten Augen auf die dunkeln weißschaumigen Seen.

„Sie kommt, sie kommt!“ schrie sie laut – und schloß die Augen, das Gesicht neigend.

Ja, sie kam, wir konnten nicht schnell genug drehen in dem hohen Seegang. Höher und höher schwoll sie an; deutlicher das Rauschen; – wie der Schaum perlend herniederläuft über den Kamm – hohles Brausen – ein Wirrsal von Gischt, ein durcheinander Fluthen und Gießen. Jetzt hat sie das Boot erreicht; sie verdeckt den Horizont als dunkle fluthende Mauer – nun kämmt sie über, nun überschüttet sie das Boot; siedend, sausend, zischend, dröhnend bricht sie über uns zusammen; krampfhaft halte ich das Steuer in der Rechten, mit der Linken decke ich meine Augen; das Boot senkt sich – nun müssen wir kentern! – ich sehe auf, fast liegt das Segel auf der fortstürmenden See; das Boot hebt sich – unter ihm her schießt milchweiß die Woge, die uns bedroht; den Brecher haben wir zwar bekommen und das Boot ist halb voll Wasser, Hildegard und ich triefen – aber es ist noch nicht vollgeschlagen und nicht gekentert! Nun fällt es ab – jetzt laufen wir mit den Seen, die an uns vorbei spülen, mit windverwehten Kämmen rauschend, weißstreifig, vom Sturm gehetzt; – aber jetzt schlingert der Kahn von Bord zu Bord und schöpft mit beiden Seiten; im Boote schwabbert das Salzwasser herüber und hinüber, und immer mehr kommt über. „Hildegard“ – rufe ich, – „schöpfen Sie, wir laufen voll.“ – Aber meine arme Blume lag da, halbtodt vor Angst in dem wilden Kampfe, zitternd, die Stirn an den Mast gedrückt. Ich bücke mich und öse mit einer Hand, so gut ich kann; aber was fruchtet das! Jetzt läuft uns eine See von achtern auf, ich höre sie, sehen kann ich sie nicht; nun braust es siedend hinter mir, nun läuft es mir über Kopf und Nacken, nun ergießt sie sich ins Boot – wir erreichen nimmer den Strand! – – Noch einmal solche See, und – da blicke ich auf: wir sind dicht am Leuchtthurm! Und da steht Brar Volkers und donnert mir mit dem Sprachrohr zu: „In Lee von dem Thurm – an die eisernen Stiegen! Hart das Ruder! Schot anholen!“

Wieder liegen wir quer vor der See; das Boot geht schwer; es muß ja sinken – nur noch eine kleine, kleine Weile hält’s über Wasser. Barmherziger Gott – nur nicht so nah der Rettung verderben! Nun in den Schwall hinein, der an dem Felsen vorbeifluthet, dann kommt das stillere Wasser! Ich bin halb geblendet vom Salzwasser – fahre ich richtig? – „Dicht heran, dicht heran!“ dröhnt die mächtige Stimme des Alten; undeutlich sehe ich Wiebkes Gestalt über mir – nun fluthet’s heran, donnernd, übermächtig: „ Greif’ die Fangleine! Das Boot hackt weg! Vier Mal um den Arm!“ höre ich’s noch schallen. Da fliegt die Leine auf mich zu; ich fasse Hildegard mit dem linken Arm um den Leib; eisern krampfen meine Finger um die Leine – plötzlich schnürt sie mir den rechten Arm fast ab in ihren Windungen, aber ich lasse nicht los; unter mir weicht es – ich tauche unter – was braust mir so donnernd vor den Ohren? Ich werde durchs Wasser gezogen, über mir bricht sich die Brandung; jetzt wache ich auf, dicht vor mir sind die eisernen Stufen; nur zwei davon kann ich noch sehen – ich lasse die Leine und klammere die Finger der Hand um die Geländerketten – die See treibt mich heran, meine Füße stehen – ich habe Grund auf einer der unteren überflutheten Stufen. Von oben strecken sich Arme mir entgegen. Halb reiche ich sie hinauf, die blasse, besinnungslose, halb ertrunkene Hildegard, halb ziehen sie [510] sie; matt hängt das liebliche Haupt, schlaff hängen die Arme, ich klimme nach. Wiebke und der Vater tragen sie schweigend hinein und legen sie auf den Tisch, an dem ich das Glas zerbrach, das ihr Verlobter ihr brachte. Ihre Brust hebt sich in langsamem Atmen, und ich stürze auf meine Kniee nieder am Tisch und lehne die Stirn an die Platte: „Gott sei Dank!“

Ich springe auf und sage zu Wiebke: „Nun wollen wir sie in Ihr Zimmer tragen und auf Ihr Bett legen!“ Wiebke sieht mich still und ernst an und sagt: „Ja, ich will für sie sorgen!“ So tragen wir sie die Stufen hinauf und legen sie nieder. „Nun entkleiden Sie sie, Wiebke; und wenn sie die Augen aufschlägt, dann lassen Sie’s mich wissen.“ – So wurde Hildegard gerettet! Es war Abends sieben Uhr. –

Halb todt sank ich selbst auf mein Bett nieder, nachdem ich mit zitternden Händen mich des triefenden Zeugs entledigt hatte. Da tappte es mit schweren Schritten nach oben; ohne anzuklopfen, trat Brar Volkers ein, ein breites Lachen auf dem verwitterten Gesicht, und hielt mir eine große Flasche entgegen. Er zog den Pfropfen ab und rieb quietschend damit an dem Glas entlang. „Bißchen was Gut’s!“ sagte er mit seinem tiefen Kehlton: „Alter Cognac! Seven Stars, sehen Sie ’mal; vor langen Jahren ’mal selbst aus Bordeaux mitgebracht. Riechen Sie erst! nicht wahr, die reine Eau-de-Cologne? Das hilft dem alten Adam wieder auf die Beine; habe der Kleinen auch einen Schluck voll heruntergegossen, sie schluckte nicht schlecht und kam wie neu zu sich! Nun nehmen Sie ordentlich einen!“ Er hielt mir die Flasche beinah an den Mund. Trotz des Ernstes der Lage konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren bei dem Gedanken, daß ich mit Hildegard aus einer Cognacflasche tränke! Wer mir das je prophezeit hätte! Wohlige Wärme durchströmte mich nach dem starken Trunke. – Brar Volkers sah vergnügt auf mich: „Ja, ja, sie sagte auch: ‚O, wie das brennt!‘ aber sie kriegte gleich ein bißchen rothe Backen wieder.“

Ich drückte dem braven Mann die Hand und er ging.

In der Thür blieb er noch einmal stehen: „Na, ich will die Buddel lieber hier lassen; aber das Boot ist weg,“ sagte er; „das müssen der Herr Amtsrichter schon bezahlen!“ Ich nickte ihm zu. Wie gern!

Nicht lange danach kam ein andrer, leichter Fuß vor meine Thür; halb im Schlafe hörte ich, wie’s anklopfte, und sah Wiebke behutsam eintreten, und mein Abendessen auf den Tisch stellen.

„Nun schläft sie,“ meldete sie fröhlichen Gesichts, als ich mich aufrichtete. „Erst war’s ihr sehr schlecht, als sie zur Besinnung kam; sie hatte schon eine ganze Menge Salzwasser geschluckt; oder nachher gab ich ihr heißen Thee mit Rum, und nun ist sie ganz warm und sieht nur noch ein bißchen blaß aus. Sonst fehlt ihr gar nichts. Jetzt gehe ich nach unten, um das Abendbrot zu machen für Vater; ihr kann nichts geschehen. Ich sehe auch mal wieder nach!“

Sie verschwand.

Ich lag in einem eigenthümlichen Zustande halber Betäubung. Draußen tobte jetzt der Sturm mit voller Wuth und schlug die starken Schwingen um den Thurm, als wollte er ihn niederwerfen in die rasende Fluth, die donnernd ihre Seen an ihm zerschellen und ihre Schaumkronen hoch an ihm emporklettern ließ, bis sie zerstiebend und tosend zusammenbrachen, sich überstürzend im vergeblichen Ansturm. Es war ein Wettern und Brüllen und ein Brausen und Branden und Sieden, als müßte die See das Land und die Klippen und das Menschenwerk, das stolz und sicher auf ihnen stand, verschlingen und in die Tiefe betten. Und dem Wüthen da unten hatte ich sie – Hildegard entrissen. Aber wozu? Für wen? Ein anderer wird sie in die Arme schließen und ihr Herz suchen – „aber es wird ihm nie gehören!“ sagte eine Stimme in mir. „Was hilft’s Dir,“ fragte eine andere, „daß sie unglücklich wird, wenn Du nicht glücklich wirst? Er wird sich trösten. Sie bleibt die Einsame.“ Ich drückte das Gesicht in die Kissen und stöhnte.

Es duldete mich nicht länger im Bett. Ich stand auf und zog mich an. Mir ward wohler, als ich am Fenster stand und hinaussah in die tobende See. So weit ich sehen konnte – ein Aufruhr! Vom Lande war nichts zu sehen. Der aufgepeitschte Wassernebel von den verwehenden Seen verhüllte es wie mit weißlichem Schleier. Es fing stark an zu dunkeln, es war also schon spät. Ich hatte länger gelegen, als ich dachte. Der fast noch volle Mond stand schon hoch am Himmel, jetzt von schweren, dahinjagenden Wolken verdeckt, nun wieder hellen, gespenstigen Schein über das wüthende Meer werfend.

Ich trat zurück und setzte mich an den Tisch. Mein Abendessen stand unberührt. Ich konnte keinen Bissen nehmen. Ich stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf den Streifen gelben Mondlichtes, der durch das schmale Fenster auf dem Tisch und dem Fußboden sich malte. Da kamen wieder die leichten, behenden Schritte die Treppe herauf und hielten vor meiner Thür an. Es klopfte mit leichtem Finger. Ich schaute nicht auf, als auf meinen Ruf Wiebke eintrat. Ich sah nur ihr Kleid.

„Nehmen Sie’s nur fort,“ sagte ich; „ich kann nichts essen!“

Sie kam näher. Eine Hand streckte sich vor und legte etwas vor mich hin, daß mein Auge darauf fallen mußte. Es war ein kleines, dunkelrothes, verwaschenes, zerknittertes, etwas besticktes Seidenband – mein Herzschlag stockte; war denn hier höllisches Blendwerk im Spiel? Mein Lesezeichen? Ich blickte auf – Wiebke? – Ja – und nein! ihre Gestalt – ihr Zeug – aber das Mondlicht fiel auf ein anderes, süßes, blasses Gesicht – das liebste mir auf Erden; dunkles, strähniges, feuchtes Haar fluthete um Stirn und Schultern – Hildegard? War sie todt? Nahm ihr Geist Abschied von mir? Ich starrte wortlos, regungslos die liebliche, stille Erscheinung an – da that sie die Lippen auf und sagte mit leiser Stimme:

„Du sagtest: ‚wenn Du mir das Band wieder bringst, will ich Dich wieder in mein Herz fassen!‘ Da liegt es, nimm mich an Dein Herz!“

Ich stand auf und trat zu ihr und that die Arme weit auf – sie warf sich hinein! Langsam beugte ich mich über sie, langsam senkte ich meinen Mund auf ihren; sie schlang den Arm um meinen Hals – kein Wort von ihr, von mir – draußen brüllte die See, heulte der Sturm – aber wir hörten’s nicht: unsere Seelen flogen auf, weit, weit über Wetter und Leid!

Sie lehnte schwerathmend in meinem Arm. Ich führte sie ans Fenster, in den vollen Mondenglanz und sah ihr ins Gesicht und sah, wie das blasse Licht in ihren Augen sich spiegelte.

„Hast Du je einen glücklichen Menschen gesehen?“ fragte ich leise mit ihren Worten. Sie lächelte wundersam zu mir auf. „Ich sehe zwei!“ antwortete sie ebenso.

Und die zwei saßen im Kämmerlein hoch oben unter der Laterne des Leuchtthurms, einsam, weltverloren, sturmumrast; über ihnen fiel lichter, goldener, friedlicher Schein in das tosende Wetter, über die stürmende See – und goldener Schein des Friedens war in ihre Herzen gefallen nach Qual und Sturm und Noth. Fritz! Die Stunden!

Der Mond zog oben seine Bahn, höher, immer höher; was waren uns Stunden? Sie saß neben mir an meine Schulter gelehnt.

„Immer, immer warst Du meines Lebens Glück und Leid!“ flüsterte sie; „immer rang mein Herz nach Dir, immer standen die Tage vor mir, in denen Du mich im Arme hieltest! – O was hab’ ich geduldet um Deinetwillen! Und nun kommt das Glück, das unfaßliche, und blendet meine Augen mit seinem Glanz: Dein sein, Dir gehören – und los von den gräßlichen Fesseln! Küsse mich!“ rief sie und schlang wieder die Arme um mich, „mach meine Lippen rein, die seinen Mund dulden mußten.“ Und ihre Lippen waren heiß. –

Der Mond stand über dem Thurm, es war nach Mitternacht; nur blasser Schimmer der Sommernacht fiel noch in meine Kammer. Immer noch saßen wir beisammen.

„Ich erwachte,“ so erzählte sie; „neben meinem Bett brannte Licht. In seinem Schein glänzte Wiebkes Silberschmuck in dem offenen Kästchen auf ihrer Kommode und zog meinen Blick an. Auf den silbernen Ketten und Spangen lag, halb in Seidenpapier verborgen, ein goldenes Schmuckstück – ein Armband. Mir war’s, als hätte ich es schon gesehen mit den blauen Vergißmeinnicht darauf. Gerade so eines hatte ich vor zwei Tagen auf seinem Tisch unter allerlei Papieren in einem zierlichen Kästchen liegen sehen; ich glaubte, es sei für mich zum Geburtstag bestimmt – Du weißt, übermorgen, und fast reute es mich, daß ich’s bemerkt. Neben dem Schmuckkästchen Wiebkes lag ein Haufen zerknitterten Papieres; ich erhob mich im Bett und griff danach – und erstarrte: darunter stand jene selbige Schachtel und nachlässig daneben geworfen lag an Blatt Papier, ein beschriebenes – von seiner Hand ohne Namen; er bat sie, morgen in [511] das Dünenthal zu kommen, zur Abendstunde; er müsse Wichtiges und Geheimes mit ihr reden; und recht süß und vorsichtig hatte er seine Worte gestellt. Wie ich es las, trat erst Ekel in meine Seele, und dann fing sie an, aufzujauchzen: ‚Du bist frei, Du bist frei!‘ – Auf der Rückseite stand mit Bleistift Wiebkes Antwort: ‚Das Armband schicke ich zurück. Ich mag kein gestohlenes Geschmeide, es gehört wohl Ihrer Braut. Ich komme nicht nach den Dünen, und Sie nicht wieder zum Thurm; ich mag Sie nicht, so wenig wie Ihr Gold!‘ So ungefähr. Ich drückte die Hände auf mein pochendes Herz: ‚Erlöst! Er und ich!‘ Ich meinte Dich.“

Wiebke kam; ich zeigte ihr alles mit zitternder Hand und sagte ihr alles.

„Es wäre eine Versuchung gewesen von manchem andern; von ihm nicht!“ bekannte sie ehrlich und half mir mit freundlich geschäftiger Hand.

„Sie weiß, wo ich jetzt bin! Und ich bin bei Dir, bei Dir!“ jauchzte Hildegard. „Alle Noth ist vorbei; nur habe mich lieb!“

„Und das Band?“ fragte ich und hielt sie fest im Arm.

„Als ich an jenem Tage ins Boot stieg, an dem Du es im Zorn hinabwarfst, sah ich es auf dem stillen Wasser neben dem Kahn treiben, wie’s langsam gegen die Felsen getragen wurde von den spülenden kleinen Wellen. Da tauchte ich die Hand ein und nahm es mit – tiefes Leid um Dich im Herzen; zum Andenken an Dich – an meine Jugend – an mein Glück! Und hab’s alle Stunden bei mir getragen! … Und nun will ich gehen,“ sagte sie und stand auf und legte mir die Hände auf die Schultern. „Der Mond wird bald untergehen, und es schickt sich eigentlich nicht, daß ich Dich auf Deiner Kammer besuche zur Mitternachtszeit; aber Du bist mir nicht böse darum, nicht wahr? Und unser Herrgott wird’s auch nicht sein; heut’ war Deine Stube eine Kirche, denn seine lieben Engel waren mit dabei; nicht wahr, bei unserem Verlöbniß?“

Ja, der Mond ging unter; aber funkelnd ging unsere Sonne auf, Ströme goldigen Lichtes ausgießend über unseren Weg. Es giebt doch Glück, auch auf Erden schon!




Als ich erwachte am nächsten Morgen, da war mir’s wie ein Traum. Allmählich kam mir das ganze Gefühl der Erlösung aus jahrelangen Banden einsamen Leids, das Gefühl der seligen Gewißheit und ich hob die Hände in unendlicher Freude! So blühten uns zwei Tage eines Glückes, wie es wenigen beschieden ist. Wir saßen zusammen und horchten hinaus, wie da immer noch Odins wilde Jagd mit Pfeifen und Heulen über die brandende Nordsee fuhr, und bauten uns unsere eigene Welt. Sie lag vor mir auf den Knieen, die Arme aufgestützt und das Gesicht in die Hände gelegt – so sah sie zu mir auf mit den blauen Augen, umwallt von dem langen dunklen Haar, und welch ein Feuer strahlte aus den Augen, welche Welt lag für mich darin!

„Weißt Du, was ich wollte?“ fragte sie ernsthaft.

„Nun?“

„Daß wir so allein blieben! So ganz nur Du mir und nur ich Dir angehörig! O, wenn Du wüßtest, wie lieb ich Dich habe!“

Ich wußte es.

„Kennst Du das Lied von den zwei Königskindern?“ fragte sie weiter, „die nicht zu einander kommen konnten, denn das Wasser war viel zu tief?“

Ich dachte an den ersten Abend unten im Thurm und an Wiebkes Gesang.

„Für uns war’s nicht zu tief! Wir waren die Königskinder, aber uns hat’s zusammengebracht. Und wenn ich Dich jetzt wieder lassen sollte –“ wie glomm es auf in ihrem Blick! – „ja, dann hieß es auch zum Schluß: ‚Und länger konnt’ sie nicht leben!‘“ Sie sprang auf und legte die Hände um meinen Nacken zusammen, und ihr langes Haar wallte um mein Gesicht, wie sie sich über mich seligen Mann neigte: „Alles, alles, was ich seit jenen Tagen ins Herz zurückdrängen mußte, jetzt ist’s über seine Dämme getreten – ich bin wieder dieselbe, die im Schloßgarten Dein Arm umfing, wie die Nachtigall ihre letzten Weisen sang; aber ich bin älter, mein Herz ist stärker; ich will, ich muß jetzt Dein sein mit allem, was in mir lebt und lebendig geworden ist; es soll keine Falte meines Herzens sein, in die Du nicht hineinschaust, kein Gedanke, den Du nicht kennst – aber ich will auch Dich haben; ganz –!“ Starke Leidenschaft brach aus ihren Augen; holdselig stand sie vor mir.

Zwei Tage lebten wir so hoch über der Welt, während kein Verkehr mit dem Lande möglich war. Aber doch ging die Rede zwischen uns und dem Hause, zu dem sie bisher gehört, häufig genug hin und her. Der Leuchtthurm stand in telegraphischer Verbindung mit Stagersand, und von dort gingen die elektrischen Boten nach Fischbeck, uns von drüben, ihnen von hüben Kundschaft zu bringen. Brar Volkers war so verständig gewesen, gleich am ersten Abend beruhigende Nachricht hinüber zu senden, und von den prächtigen alten Leuten, wie von dem minder prächtigen Domänenpächter, ihrem Sohn, liefen Trost- und Mahntelegramme genug ein.

Hildegard behandelte alle, die von ihm kamen, mit einer grenzenlosen Verachtung, die an Haß grenzte. Eben war wieder eines angekommen; sie hielt es mir entgegen, lachend, daß die weißen Zähne unter der feinen Oberlippe hervorblitzten. Wenn sie mich anlachte, war’s anders!

„Hier, lies!“ sagte sie. Ich las: „Theure; sobald morgen ein Verkehr möglich ist, komme ich hinüber und hole Dich; wir sehnen uns unbeschreiblich nach Dir!“

Wiebke lachte auch.

„Na, ich gönne es ihm!“ sagte sie leichthin, „aber die Augen!“

Nur Brar Volkers saß ernst und bedächtig und rauchte stark aus seiner Kreidepfeife und sagte nichts.

Am nächsten Morgen war der Sturm abgeflaut und die See niedergegangen. Wir standen oben auf der Galerie des Thurms, Hildegard auf meinen Arm gelehnt und eng an mich geschmiegt, und beobachteten den Strand durch meinen Kieker.

Ich reichte ihn ihr: „Schau hin; da wird ein Boot klar gemacht!“ Helles Roth stieg in ihre Wangen; ich richtete ihr das Glas. „Ja,“ sagte sie, und ich fühlte, wie ein leichtes Zittern durch die schlanke Mädchengestalt ging – „nun sehe ich einen gelben Strohhut. Ich fürchte mich!“ sagte sie, das Glas sinken lassend und ihr Gesicht an meiner Schulter bergend; „laß uns hier oben bleiben!“

„Das geht nicht, Hildegard; Aug in Auge müssen wir Abrechnung mit ihm halten!“

Sie richtete sich auf: „Nun gut denn! Du hast recht; ich habe eine gute Sache! Laß uns gehen! Aber um eines bitt’ ich Dich: laß mich ihn allein empfangen, wenn das Boot landet; willst Du? Aber bleib’ in der Nähe, in der Wirthsstube, sonst fürchte ich mich doch!“

Langsam gingen wir die hohe Treppe hinunter. Vor Wiebkes Zimmer machte sie sich los: „Ich komme nach! Geh’ in die Wirthsstube und komm mir zu Hilfe, wenn’s sein muß!“ Die kleine Hand war doch kalt, die sie mir reichte.

Sie stand unten an der Landungsstelle; noch immer in Wiebkes Kleidern, jetzt sogar mit dem reichen Silberschmuck auf der Brust, das aufgenommene Haar unter das schwarzseidene Kopftuch mit den abstehenden Flügeln gezwängt. Das Boot kam näher. Der Mann mit dem gelben Strohhut winkte vergnügt mit der Hand. Hildegard stand ruhig, an den Bootsdavit gelehnt. Ich sah, wie sie mir verstohlen und verständnißinnig zunickte; der etwas kurzsichtige Herr hielt sie offenbar noch für Wiebke.

Nun kam das Boot näher. Hildegard beschattete die Augen, wie von den Sonnenstrahlen geblendet, mit der Hand. An Gestalt und Wuchs waren sich beide Mädchen ziemlich gleich, so daß ein Irrthum verzeihlich war. An dem so emporgehaltenen Handgelenk funkelte ein goldenes Armband – jenes mit den blauen kleinen Vergißmeinnicht. Er mußte es blitzen sehen. Er winkte mit seinem Tuch; er freute sich offenbar über den Anblick, den das schöne Friesenmädchen dort oben bot, das zu seinem Empfang da stand. Das Boot schoß herum und das niedergeholte Segel verbarg ihm auf kurze Zeit ihre Gestalt. Kaum war das Boot nahe genug, so sprang er gewandt heraus; Hildegard ließ die Hand von ihren Augen sinken und blickte ihn an – er taumelte einen Schritt zurück.

„Hildegard!“ stotterte er – „nein, diese Ueberraschung! Du siehst ja entzückend aus in dem Anzug –“

„Ja wohl, besonders mit dem schönen Armband, nicht wahr? Ist es nicht wundervoll?“ fragte sie und streckte ihm die Hand [512] entgegen. Sie suchte ihre Stimme fest zu machen, aber ihr Busen wogte in mächtiger Aufregung.

„Um Gott!“ rief er und war bleich geworden – „wie kommst Du dazu?“ entfuhr es dem Fassungslosen, Ueberraschten.

„Laß unsern Herrgott aus dem Spiel!“ sagte sie ernst und ihre großen Augen lagen mit einem unaussprechlichen Ausdruck auf ihm; „nehmen wir an, ich hätte es gefunden, und dies dazu!“ Sie griff in die Tasche und hielt ihm den Brief entgegen. „Da Sie das Armband so gut wieder erkannt haben, ist die Frage, ob Sie die Handschrift hier anerkennen, wohl überflüssig – hier!“ Sie knitterte das Blatt zusammen in der kleinen Hand und warf es ihm vor die Füße; „und hier!“ das Armband klirrte auf den Fels; „und hier!“ ein kleiner Goldreif sprang auf und rollte über die Granitquadern ins Meer. Ohne einen weitern Blick wandte sie dem Wortlosen den Rücken und ging langsam auf die Thür des Thurmes zu.

Er sah nicht sehr geistreich aus in diesem Augenblick. – Plötzlich aber fuhr er auf und lief ihr nach. Er faßte ihren Arm. „Hildegard!“ keuchte er, „was soll das? Bist Du wahnsinnig?“

Mit vornehmer Bewegung machte sie ihren Arm los. Kalt und feindselig sah sie ihn an, das Haupt zurückgeworfen, die volle Unterlippe etwas vorgeschoben. Sie sagte kein Wort. Mich hatte sie doch noch anders angeschaut damals im Kursaal!

„Hildegard, was machst Du?“ rief er heiser; „so höre mich doch! Was ist denn mit Dir vorgegangen?“ Ihre Lippe schürzte sich in bitterer Verachtung. Sie blickte über ihn weg nach dem Fenster, an dem ich stand, und winkte mir. Sein Auge folgte unstet ihrer Bewegung. Jetzt strömte wieder dunkles Roth über sein fahl gewordenes Gesicht und es leuchtete auf in seinem Blick. „Ah!“ rief er.

Ich trat hinaus.

„Sprich Du mit dem Herrn!“ sagte Hildegard kalt und trat in den Thurm.

Du? Du?“ stammelte er und machte einen Schritt auf mich zu – „Herr, was ist hier vorgegangen? Stehen Sie mir Rede!“

„Kommen Sie mit,“ sagte ich und zog ihn in einen Winkel des vorspringenden Felsens, wo man uns nicht sah vom Thurme aus; „die Sache ist sehr einfach: Sie haben sich so wenig als Mann von Ehre gegen Ihre Braut benommen – Sie werden die Thatsache selbst nicht leugnen wollen, denn die Beweise sind ja erdrückend – daß Sie nichts Besseres thun können, als die Lösung Ihres Verlöbnisses ohne weiteres anzuerkennen –“

„Den Teufel will ich!“ schrie er mich an.

„Es wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben; denn ich vertrete die Interessen des Fräuleins von jetzt an –“

„Sind Sie verrückt, Herr? Mit welchem Recht?“

„Als ihr zukünftiger Gatte!“

Er sah mich an, als ob er falsch gehört hätte.

„Ihr – zukünftiger – Gatte, sagten Sie?“ Er lachte laut auf. „Das ist ja eine reizend anständige Gesellschaft hier! Auf diese Art von Leuchtthurm will ich doch die Polizei aufmerksam machen! Die Tochter und die Gäste scheinen gleich gut zu sein –“

Da langte mit einem Male ein dicker Arm in Flaus gekleidet um die Ecke und faßte den Fassungslosen in des Wortes eigenster Bedeutung am Kragen. Er sah sich um, so gut er konnte, und schaute in Brar Volkers’ grimmiges dunkelrothes Gesicht.

„So? Der Polizei wollen Sie mich melden?“ grollte der Alte im heißen Zorn; „und meine Tochter und das Fräulein wollen Sie hier schlecht machen? Nun will ich Ihnen ’mal etwas sagen: die Polizei wohnt da drüben an Land; und nun machen Sie nur schnell, daß Sie hinkommen; sonst könnten Sie hier vorher noch die Fäuste eines alten Seemanns kennen lernen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht –“ Und nun brach die Wuth los bei dem Alten. „Was?“ donnerte er und schüttelte den Machtlosen – „und Sie haben mir hier mein Kind, mein Mädel verführen wollen?“ –

Und was nun kam, das schenke ich dir, Fritz; aber bei jedem Kraftwort flog der geknickte, jeden Widerstand aufgebende Herr vor der Eisenfaust, die ihn hielt, vorwärts oder rückwärts.

„Und nun fort!“ brüllte Brar Volkers und schob ihn vor sich her, „und Gnade Ihnen Gott, setzen Sie je den Fuß wieder hier auf den Felsen!“

Jetzt waren sie beim Boot; mit einem letzten Stoß warf er den großen Mann hinein, daß er über die Duchten fallend hinschlug. „Ab!“ schrie er dem Schiffer zu, der in stummem Entsetzen zugehört hatte und sich beeilte, dem Befehl zu folgen.

Der Domänenpächter setzte sich aufrecht und drohte mit der Faust hinauf gegen mich und ihn, ohnmächtige Wuth im Gesicht.

„Hier, Sie haben noch ’was vergessen!“ rief Brar Volkers; „verschenken Sie’s nur anderswo, wo Sie mehr Glück damit haben!“

Damit schleuderte er das Armband mit kräftigem Fußtritt vom Stein hinaus, daß es klirrend gerade ins Boot fiel, in dem der Schiffer das Segel setzte – und hin fuhr es! Ich athmete auf. Als ich in die Thurmstube trat, fiel mir Hildegard wortlos um den Hals.

Nur einen Schmerz hatte sie noch zu überwinden, einen harten Absagebrief der Mutter, von der sie so herzlich viel hielt. „Wie weit Sie im Recht oder Unrecht sind meinem Sohn gegenüber, will und kann ich nicht untersuchen; aber es wäre Unnatur, wenn von Stund’ an nicht jegliche Verbindung aufhörte. Schreiben Sie mir nicht – ich nehme keinen Brief von Ihnen an!“

Thränen standen in ihren Augen, als sie mir das Schreiben zeigte.

„Thut’s Dir leid?“ fragte ich.

„Sprich so etwas nicht!“ sagte sie, in ihren Thränen lächelnd; „ich brächte Dir wohl noch andere Opfer!“ –

Am Nachmittag nahmen wir Abschied vom Thurm und seinen Bewohnern. Brar Volkers schüttelte mir herzhaft die Hand. Mit einem Male ließ er meine schon ziemlich zerarbeitete Rechte los, trat an den Kredenztisch und schenkte vier Gläser goldigen Portweins ein.

„Hier, Fräuleinchen, das trinken Sie nur ruhig aus; das kratzt nicht so wie der Cognac neulich! Und nun glückliche Reise, und wenn Sie im Sommer ’mal wieder an die See reisen, dann kommen Sie nur immer zu uns! Prost!“

Hell klangen die Gläser zusammen. So schieden wir.

Wiebke steuerte wieder wie an jenem Tage das Boot, das uns nach Stagersand brachte. Was lag zwischen damals und jetzt! Hildegard hielt meine Hand und sah zu mir auf. Mein Lebensglück lag in diesem Blick. Da ragte der Stein aus dem Wasser, auch jetzt noch umspült von der Brandung. Wir schauten hinüber – und schauten uns an: es war der Grundstein des Hauses, in dem wir wohnen wollten.

Um’s kurz zu machen: Wiebke war sehr bewegt, als wir Abschied von ihr nahmen, und fiel Hildegard weinend um den Hals. „Ich mag gar nicht in den alten langweiligen Thurm zurück!“ klagte sie; „nun wird’s wieder so gräßlich einsam!“ Mir drückte sie mit abgewandtem Gesicht die Hand und stieg ins Boot, hißte ihr Segel und schaute nicht um, so lange wir ihr nachsahen; und wir standen auf dem Steg, Hildegards Arm lag in dem meinen, und ich verglich diese Stunde mit jener, als ich damals in bitterer Seelenqual mit Wiebke hier ins Boot gestiegen war.

Hildegard sah träumerisch ins Wasser.

„Denkst Du an die Rose, die in Euer Boot fiel?“ fragte sie.

„Ja!“ sagte ich erstaunt, „wie kommst Du darauf?“

Er hatte sie mir wie im Scherz von der Brust genommen und sie hinabgeworfen; ich dachte nichts Böses dabei, aber es that mir doch weh; doch wie er oben auf dem Thurm ihr das Glas zutrank, da ging mir eine Ahnung auf. Und je öfter er hinüberfuhr, desto deutlicher wurde sie. O wie elend war mir zu Muth! Und als Du mich fragtest im Boot, ob ich glücklich sei – da hätte ich aufschreien können vor Leid. Aber ich durfte Dich nicht in mein gequältes Herz schauen lassen und Du durftest damals am wenigsten von allen Menschen wissen, was für Gedanken durch meine Seele auf dem Stein gezogen waren, die mich alles um mich her vergessen ließen: ich dachte an Dich und wußte, daß ich zu lebenslänglichem Unglück verurteilt sei! Und nun ist alles, alles neu geworden!“ –

Ich brachte Hildegard zu meiner Schwester. An einem Novembertage, gerade als der erste Schnee niederrieselte, traten wir aus der Kirche, fröhliche Brautleute, ein glückseliges Paar; nicht rührselig und mit feuchten Augen, jubelnder Lebensmuth leuchtete mir aus den tiefblauen Augensternen der wonnereichen Frau, die laut und frisch „Ja“ gesagt hatte. Es war Vollmond an diesem Novemberabend, wie in jener Nacht im Leuchtthurm. Hell fiel sein bläuliches Licht auf die verschneiten Felder [514] und in breitem Strahlenbündel in unser Zimmer. Wir standen am Fenster. Ihre Arme lagen um meinen Hals und meine Hand wühlte in dem dunklen gelösten Gelock ihres Haares, das um sie niederwallte. Ihr Mund lag dicht an meinem Ohr; da sang sie wieder leise:

„Und du kannst noch zehn Jahr warten,
Zehn Jahr sind bald herum!“

Wundersam sah sie mich an und ein silberhelles glückliches Lachen erklang von den rothen Lippen, die sie mir bot! –

Du fragst nach der schönen Wiebke? Sie ist seit anderthalb Jahren mit einem königlichen Lotsen verheiratet; wir waren von Stagersand aus beide auf ihrer Hochzeit und haben bei ihrem Buben kürzlich Gevatter gestanden. Wir haben ihr zur Hochzeit ein schweres goldenes Armband geschenkt. Meine Frau war erst dagegen; aber Wiebke wurde roth vor Freude, als sie es anlegte. Sie ist jedenfalls die hübscheste Frau an der Küste und ihr Mann ist ein forscher Seemann mit zwei sehr hellen, scharfen Augen im Kopf.

Da hast Du die Geschichte meiner Liebe, Fritz. Ich wünsch’ Dir nur, sei so glücklich wie ich, dann gehst Du gesegnet auf Erden. Hildegard läßt Dich hundertmal grüßen! Sie trägt mir’s auf, indem sie als reizende sorgliche Hausfrau in die Laube tritt, eine Kanne mit dem schäumenden Trunk in der Hand. Ja wohl, nun singe ich wieder wie einst:

„Das schwarzbraune Bier, das trink’ ich so gern,“ wenn sie’s mir schenkt – und „die schwarzbraunen Mädel, die küss’ ich so gern“ – wenn sie mein eigen sind, heut’, morgen und allezeit!

Auch Aennchen läßt Dich grüßen. Ist eine allerliebste Pastorsfrau geworden. Sie ist zu Besuch bei uns. Sie sitzt gerade drinnen am Klavier und spielt:

„Das Lieben bringt groß’ Freud’,
Es wissen’s alle Leut! “

Hat recht! Ich weiß es; Du weißt es auch! Vale faveque! Auf deutsch: „Behüt’ Dich Gott! und behalte mich lieb!“