Am Abgrund (W. Heimburg)

Textdaten
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Autor: Wilhelmine Heimburg
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Titel: Am Abgrund
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50–52, S. 817–822, 835–842, 849–851
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Am Abgrund.
Von W. Heimburg.


Wir saßen wie allabendlich im Gastzimmer zur „Goldenen Sonne“ in dem kleinen Honoratioren-Stüblein am Stammtische, aber die rechte Stimmung wollte uns nicht kommen. Wir waren soeben von einem Begräbnisse zurückgekehrt; in unseren Ohren mochte noch immer der dumpfe Fall der Erdschollen nachtönen, die auf den Sarg hernieder gerollt, in welchen sich ein junges Menschenkind gelegt, freiwillig gelegt, als sei es geflüchtet aus diesem Leben mit all seinen tausendfältigen Variationen von Kummer und Herzeleid. Er war ein guter Freund von uns gewesen, hatte bis vor wenig Tagen hier am Tische mit uns gesessen, und Niemand hatte ihm den grausen Entschluß von der Stirn gelesen. Vor wenigen Wochen erst war er ein Verlöbniß eingegangen mit einem braven wohlhabenden Mädchen aus hiesiger Stadt; er, der Sohn nicht unbemittelter Eltern, – was konnte ihm, dem in anscheinend so geordneten glücklichen Verhältnissen lebenden Menschen, die Waffe in die Hand gedrückt haben? Man verläßt doch am Ende seinen Posten nicht ohne zwingende Gründe!

Schon oft in diesen Tagen war jene Frage aufgeworfen worden, und Keiner hatte sie zu beantworten gewußt. Auch jetzt fand man die Lösung nicht.

Wir waren Alle noch jung; der Aelteste von uns mochte vielleicht dreißig Jahre zählen, er war Arzt; zwei Andere bekleideten Lehrerstellen am fürstlichen Gymnasium. Ich, der Jüngste unter ihnen, lebte erst seit einem Jahre in dem thüringischen Städtchen, wo ich als Techniker die Bahnbauten zu leiten hatte.

„Haben die Herren noch nie gehört, daß Jemand in den ordentlichsten, respectabelsten Verhältnissen zu Grunde gehen kann?“ fragte plötzlich eine leise Stimme. Ein alter Herr, der regelmäßig am Nebentische seinen Platz einnahm, hatte sich erhoben und legte seine Hand auf die Schulter des Arztes, der ihm zunächst saß.

Uns war er fast ganz fremd, der alte einsame Mann, obgleich er täglich in demselben Zimmer zur „Sonne“ neben uns seinen Schoppen trank. Ich kannte ihn unter dem Namen Doctor Johann Rüdiger und wußte, daß er in der Zimmergasse ganz allein ein stattliches Haus bewohne, dessen Garten an den fürstlichen Schloßpark stieß und als ein kleines Wunderwerk geschmackvollster Anlage gerühmt wurde. Im Uebrigen galt er für einen Sonderling; er sprach selten, pflegte gar keines Umganges, und unser Verkehr hatte sich bis jetzt nur auf einen achtungsvollen Gruß von unserer Seite beschränkt, welcher von ihm mit der formellen altmodischen Höflichkeit einer längst vergangenen Zeit erwidert wurde.

Man sagte ihm nach, er besitze werthvolle Sammlungen und sei ein grundgelehrter Kauz, – das Volk nannte ihn „überstudirt“. Er war ein Arnsteiner Kind, hatte aber lange Zeit im Auslande gelebt; mehr wußten wir nicht von ihm, die wir Fremdlinge in diesem Lande waren.

Heute Nachmittag nun war er dicht hinter dem Sarge hergeschritten, just als wollte er die Stelle des Geistlichen vertreten, der dem Selbstmörder seine Begleitung versagte, und er hatte es auch gewissermaßen gethan; denn nachdem ein dem Verstorbenen nahe stehender Herr ein paar bewegte Worte gesprochen, war er an die Gruft getreten und hatte mit lauter Stimme ein „Vaterunser“ gebetet, wobei er absonderlich betonte: „Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“

Wir wußten, er hatte den Verstorbenen nicht näher gekannt; um so mehr gewann er unsere Sympathie, und Einer nach dem Andern waren wir hinzu getreten, ihm die Hand zu drücken.

Jetzt stand er plötzlich vor uns, und aus seinem blassen anziehenden Gesichte sahen die noch jugendlich klaren Augen still fragend zu uns herüber.

„Verzeihung, meine Herren; mich interessirt der Heimgegangene mehr, als Sie vielleicht ahnen.“

Der Arzt hatte einen Stuhl herbeigezogen und das Seidel des alten Herrn auf unsern Tisch gestellt. Nun saß er zwischen uns, als wäre es nie anders gewesen.

„Ich meine, daß Kränklichkeit ihn in den Tod getrieben,“ sagte Doctor Werner, einer der Lehrer.

„Unsinn!“ erwiderte der Arzt. „Ein gesunder Kräutlein ist nirgends gewachsen. Nein, diesmal hat Ihre Pathognomik in’s Blaue geschossen – er war kerngesund.“

Der alte Herr nickte mit dem Kopfe. „Kerngesund!“ wiederholte er halblaut.

„Wer weiß, was da faul war im Staate Dänemark?“ meinte der College vom Gymnasium. „In solchen Geschäften hängt’s oft an einem Haar, besonders bei den jetzigen bewegten Zeiten; hat sich doch schon Mancher vor einem Bankerott – –.“ Er machte einen Griff nach der Kehle.

„Ei behüte!“ widersprach der Arzt. „Das Geschäft steht bombenfest! Und jetzt, wo er mit der Verheirathung ein kolossales Vermögen hereingekriegt hätte – – Nein, wissen Sie, meine Herren,“ und er sprach leiser, „er war ein kleiner Schwerenöther, hatte irgendwo hier herum eine etwas ernste Liebschaft und – das Frauenzimmer wird Lärm geschlagen haben, als er sich anderweit verlobte – so habe ich wenigstens gehört.“

[818] „Meine Herren!“ Die Stimme des alten Mannes unterbrach das Gespräch ziemlich hastig; „was es auch gewesen sei, das den Beklagenswerthen zu jenem Schritte trieb – urtheilen wir milde, lassen wir den Schleier darüber! Es müssen nicht immer die beiden großen Triebräder der Menschennatur sein, die einen verzweifelten Entschluß zur Ausführung bringen, – ich meine, man kann auch durch andere Ursachen als Hunger oder Liebe soweit kommen, es für vortheilhafter zu halten, die Erde mit dem unbekannten Jenseits zu vertauschen.“

Die Zeit war über dem Geplauder dahingegangen. Meine Freunde wurden daheim erwartet, zwei von ihnen hatten Weib und Kind; den Arzt trieb es zu seinen Kranken. Ich saß plötzlich allein mit Herrn Johann Rüdiger in dem dämmernden Gastzimmer; nun erhob er sich.

„Ich komme mit, wenn Sie es gestatten,“ sagte ich und nahm den Hut vom Pflocke. Und so schritten wir stumm neben einander her den schlecht gepflasterten Markt entlang, vorüber an dem rauschenden Brunnen, der von lärmenden Kindern umspielt wurde, in eine stille Straße, an deren Ende finster und schweigend das fürstliche Schloß ausgebreitet lag. Es war ein Mai-Abend, noch im Anfange des Monats, und die fürstlichen Gärten sandten einen Strom von Duft zu uns herüber; eine Wonne, ihn einzuathmen. Ich nahm mir vor, noch einen Gang durch den menschenleeren Park zu thun, um die Nachtigallen schlagen zu hören; denn ich befand mich just in der Stimmung heute, und zudem – die stets einsamen Gärten mit den herrlichen Bäumen waren immer meine Freude gewesen.

Ich glaube, ich sagte etwas Dergleichen zu meinem Begleiter, der still neben mir herwanderte, das Haupt gesenkt, als zähle er die Steine des Pflasters. Er sah mich an und blieb stehen.

„Wenn Ihnen, mein Herr, etwas an dem Dufte des Flieders liegt, so machen Sie mir die Freude, in meinen Garten zu treten,“ sagte er mit gewinnender Freundlichkeit; „noch zwei Schritte, und wir stehen vor meinem Hause. – Sie stören mich nicht, nein, wirklich nicht!“ redete er mir zu, als er sah, daß ich eine höfliche Einwendung machen wollte. Und in weiteren zwei Minuten war ich der unerwarteten Einladung wirklich gefolgt und durchschritt an der Seite des alten Mannes einen mächtigen Flur, der das ganze Haus durchmaß, ging mit ihm über einen von Nußbäumen beschatteten Hof und stand bald in dem vielbesprochenen Garten, der mir in der That einen Ausruf der Bewunderung entlockte, obgleich die leichte Dämmerung bereits einen Theil seiner Schönheit verhüllte.

Es giebt Gärten, so traulich, so heimlich, so voller Poesie, voll echter deutscher Poesie, daß man kein Herz haben müßte, wenn man nicht der Lieder gedächte, die das Volk singt von seinem Lindenbaume, oder von einer dunklen Laube, darinnen es flüstert – Gärten, in denen man träumt von Freude, von Weltabgeschlossenheit und stillem Glücke, und ein solcher Garten lag vor mir. Da rauschten im Hintergrunde uralte Linden und beugten flüsternd ihre Zweige zu den fürstlichen Nachbarn hinüber, die jenseit der hohen epheuübersponnenen Mauer standen; Kastanien weckten die Erinnerung an die Kinderspiele im Garten des Vaterhauses, rings umher blühten Flieder und Jasmin und hauchten ihre Düfte mir entgegen, und in edler unvergänglicher Schöne hob sich blendend weiß eine marmorne Pallas Athene von der dunklen Taxuswand, und über alle diesem lag der Maienzauber.

„Wie glücklich müssen Sie hier sein!“ sagte ich und folgte dem alten Herrn auf die Terrasse am Hause. Er nahm den Hut ab, und ein stilles Leuchten innerer Befriedigung glitt über sein Gesicht.

„Empfinden Sie es schon, daß Einsamkeit Glück ist?“ fragte er; „es ist ein wenig zeitig, will mich bedünken.“ Er lächelte dabei und klopfte mich auf die Schulter. „Nun wollen wir aber den Mai-Abend feiern. Bücken Sie sich einmal, mein junger Freund – dort rechts nach der Vertiefung unter dem Fenster – so ist’s richtig, greifen Sie nur zu. Er ist immer kühl da,“ fuhr er fort, als ich zu meiner Verwunderung eine schlanke Rheinweinflasche erfaßt hatte, „immer die richtige Temperatur, und man braucht nicht erst in den Keller zu steigen; die Steinplatte hält gut frisch. Und hier“ – er langte, sich auf dem Stuhle wendend, nach der Fensterbank, wo umgestürzt zwei alte grüne Römer standen, und setzte sie auf den Gartentisch – „sind die Gläser. Es wird gut thun, ist doch jetzt die duftige Maiweinzeit, die Scheffel so wunderbar in seinen durstigen Liedern besingt.“

Und nachdem er die Gläser gefüllt, stieß er mit mir an. „Dem Todten, den wir heute begruben,“ sagte er, „möge ihm die Erde leicht sein!“ Und langsam und andächtig trank er das Glas leer; dann blickte er starr in den Garten hinaus, lange Zeit, ohne zu sprechen.

„Sehen Sie,“ begann er endlich, „da wird nun kein Mund im Städtchen sein, der nicht irgend eine Vermuthung ausspricht, warum dieser Mann aus der Welt gegangen. Es wird viel Blödsinniges behauptet, viel Schimpfliches erfunden werden, das den Armen noch unter seinem stillen Hügel empören könnte, wenn ihm nicht Menschenwitz und Menschenwort zu wesenlos erscheinen müßten jetzt, und wenn anders er es noch erfährt, was man auf dieser Welt von ihm sagt. Aber mich empört es, dieses Fragen, Flüstern, Zweifeln, – und deshalb trat ich heute an seine Gruft. Der Mann hat schwer gekämpft, dachte ich, nein, – ich weiß es sogar, obgleich ich ihn nicht näher gekannt, in keinerlei Beziehung zu ihm gestanden habe. Sie, Herr Baumeister, waren ja sein Freund.“ Er zögerte einen Augenblick. „Ist Ihnen nie eine Ahnung gekommen, warum er –?“

„Nein!“ gab ich rasch zurück, einen Augenblick durch den Gedanken verlegt, daß der alte Herr mich vielleicht zu dem Zwecke eingeladen habe, mich auszufragen; „er lebte, wie ich bereits bemerkte, in geordneten, sogar recht guten Verhältnissen – es ist mir ein Räthsel –“ schloß ich dann.

„In geordneten Verhältnissen!“ wiederholte er leise. „Ja, Sie sagten es schon; – aber darf ich Ihnen einmal meine Behauptung von vorhin illustriren und somit beweisen, daß man auch in den sogenannten ‚geordnetsten Verhältnissen‘ soweit – nun ja, soweit – kommen kann? Denn daß im letzten Augenblicke noch ein rettender Zufall – das ist ja Nebensache.“

Ich bot ihm schweigend die Hand, und er begann, sich in den Sessel zurücklehnend:

„Droben auf dem Obermarkte unseres Städtchens, dem Rathhause vis-à-vis und just neben der Löwenapotheke, liegt der Schauplatz meiner Geschichte. Seit langen Jahren ist in dem stattlichen Hause ein sogenanntes Schnittwaarengeschäft betrieben worden; die Goldene Elle heißt es noch heute, und es mag auch, mit Ausnahme des modernen größeren Ladens und der entsprechenden Spiegelscheiben, noch genau so aussehen wie vor nahezu hundert Jahren, da einer meiner Vorfahren seinen Kram darinnen aufgethan.

Dort wurde ich geboren, so um die Weihnachtszeit des Jahres 1815. Zwei Kinder hatten schon vor mir das Licht der Welt erblickt, der Bruder Friedrich und meine Schwester Emilie. Die Mutter hat mir später einmal erzählt, ich sei ihr recht unpaß gekommen, denn gerade in der Weihnachtszeit sei sie so nöthig gewesen drunten im Geschäfte, und sie habe mit einer solchen Unruhe da oben neben meiner Wiege gelegen, daß sie sich gar nicht so recht über das kleine schreiende Hinderniß habe freuen können.

Nun, und mit diesen Worten war das Motto gegeben für unser gegenseitiges Verhältniß sie hat sich nie so recht über – mich freuen können.

Sie war eine energische, immer thätige Frau, die, wie man so sagt, die ganze Wirthschaft gründlich unter der Fuchtel hielt, den Vater nicht ausgenommen. Er hatte sie sich aus Erfurt heimgeholt, und zwar gegen den Willen seiner Familie, denn sie war eines preußischen Feldwebels Tochter, und schwer mußte sie sich ihr Terrain in unserer stolzen Sippe, zu welcher der Bürgermeister und zwei Rathsherren gehörten, erst erkämpfen. Aber sie war eine Soldatentochter, in schwerer Zeit herangewachsen, und es dauerte nicht gar zu lange, da hatte man der resoluten, tüchtigen, allzeit gesprächigen Frau den ihr gebührenden Platz eingeräumt, und sie saß so fest und mit einer so stattlichen Würde darauf, wie nur eine Honoratiorentochter unserer Stadt es gethan haben könnte.

Unter ihrer Leitung bekam das Geschäft einen großen Aufschwung; sie sorgte, daß modische Sachen auf Lager waren, daß nur streng reelle Waare verkauft wurde, und sie hatte eine Art, mit den Kunden umzugehen, daß den Leuten das Herz im Leibe lachte und Jeder von ihr bedient sein wollte. Wie sie so dastand hinter dem Ladentische, den Stoff zu schönen Falten gerafft in der hochgehaltenen Linken, mit der rechten Hand an dem Gewebe [819] herunter streichend, darüber ihr rundliches, stets heiteres Gesicht mit den blitzenden dunklen Augen – so sehe ich sie noch und höre noch immer die bekannten Redensarten, die sie von Preußen mit herüber gebracht hatte: ‚Wie geht’s, Frau Meier? Papa mobil? Kinder mobil?‘ Alles mobil? Womit sie sagen wollte, ob die Familie gesund sei?

Auch eine andere Redensart hatte sie, die mich manche Thräne gekostet und manch heimliches Fäusteballen veranlaßte. ‚Es ist kein’ Schneid darin,‘ sagte sie, wenn ihr eine Sache nicht gefiel; ach, und wie oft hat sie es von mir gesagt! – Meine Mutter! Aber gut war sie doch, sie verstand es nur nicht anders, und der sonderbar stille, immer verträumte kleine Gesell mußte ihr wie ein recht unnützes Etwas in der Welt erscheinen. Besonders neben dem Friz; der war ein Bengel, so roth und weiß, mit den blizenden Augen der Mutter und dem dunklen Kraushaare, und so voll des übermüthigsten Lebens, daß es sich nicht zu lassen wußte in Seele und Leib und im unbändigsten Gebahren nach außen trieb. ‚Da ist Schneid drin!‘ sagte die Mutter zum Vater, wenn sie den Buben nach Herzenslust abgeprügelt hatte für irgend einen dummen Streich, und ihre Augen lachten vor Seligkeit.

Jungen und Prügel gehören zusammen, denn wenn so ein Bub nicht im Stande ist, sich eine Tracht Schläge zu verdienen, ist er ein Waschlappen und bleibt es – so war ihre Meinung; und ich – ich verdiente keine Prügel, absolut nicht; man konnte doch unmöglich den Jungen dafür strafen, daß er so mäuschenstill mit seinem Spielzeug einhersaß oder, was ihm das Allerliebste, auf den Stufen der Hausthür über seinem Bilderbuch träumte, nur dann und wann einmal einen fremden Blick thuend in die lärmende Schaar, die unter Anführung des Bruders im lautesten Gejohle um den steinernen immer sprudelnden Brunnen und über den Marktplatz stürmte, wenn sie, wie üblich, Franzosen spielten oder Räuber und Gensd’arm.

In der Schule hielten wir uns aber tapferlich neben einander, der Fritz und ich, obgleich ich drei Jahre jünger war. Eines Abends, als wir nach geschlossenem Geschäft in der Ladenstube saßen, an dem runden Tisch mit unseren Schulaufgaben beschäftigt, sagte der Vater, der schweigend und nachdenklich seine Pfeife ge- raucht: ‚So wird’s am besten, Karoline; der Friedrich wird ein Kaufmann unserer Branche, und der Hans mag studiren.‘

‚Ich meine, das Geschäft nährt Zwei,‘ erwiderte die Mutter, ihm einen ärgerlichen Blick zuwerfend.

‚Hat vorläufig noch keine Eile, Lienchen!‘ Und der Vater im geblümten Zitzschlafrock, mit dem langen Weichselrohr im Munde und dem gestickten Hauskäppchen auf dem Kopfe, schlug freundlich die Mutter auf die Schulter und ging in die Sonne zum Abendbier, just in das Stüblein, wo wir heute gesessen. Auf der Mutter Gesicht aber wechselte Röthe und Blässe, es mußte sie mächtig erregt haben.

‚Kommt einmal her, Ihr Jungen!‘ rief sie. Und als wir vor ihr standen, da zog sie uns nahe heran und hielt jeden von uns mit einem Arme umfaßt, nur daß der Friedrich auf der Herzensseite stand.

‚Sagt einmal an, was wollt Ihr werden? Du zuerst, Friedrich!‘

Der Fritz wiegte den Lockenkopf, sah zu den Balken empor, um den Augen der Mutter auszuweichen, schlug mit den Hacken aus wie ein übermüthiges Füllen und that, als ob er sich sehr besinnen müsse. Endlich erklärte er: ‚Wenn es so Räuber geben thäte wie der Rinaldini, am liebsten dann ein solcher; wenn aber das nicht – na, dann Soldat, um die Franzosen über den Kopp zu hauen.‘

‚Dummer Junge!‘ rief meine Mutter und gab ihm eine Ohrfeige, ‚meinst Du, der Mensch ist nur in der Welt, um zu raufen?‘ Aber ihre Augen sahen dennoch mit leidenschaftlich zärtlichem Ausdruck in sein blühendes Gesicht.

‚Na, dann meinetwegen Ellenritter,‘ gab er zu.

‚Ich werde gleich die Elle auf Deinem Rücken tanzen lassen, Du nichtsnutziger Spottvogel!‘ Und sie strich ihm mit der Hand die Haare aus der Stirn und gab ihm einen Kuß. ‚’s ist ein guter Stand und ein nobler Stand,‘ fuhr sie lobend fort; ‚ein Soldat ist ein Unding im Frieden, und der Napoleon ist todt, – kann lange dauern, bis der zweite kommt. Und nun Du, Hans?‘ Sie wandte mir ihr ernst gewordenes Antlitz zu; ‚sieh, nun sag’ ’mal was recht Gescheidtes!‘

Mein Herz war zum Ueberlaufen voll und pochte in raschen Schlägen. Unwillkürlich faltete ich die Hände in einander; wie in purpurrothem Nebel sah ich nur noch das ernste Frauengesicht vor mir. Ich wollte eine Bitte stammeln, eine Bitte, die mein ganzes Sein erfüllte, aber ich brachte nur stockend und leise die Worte heraus: ‚Magister Schröder –‘

Ein schallendes Gelächter der beiden Geschwister tönte mir in die Ohren, und die schreiende Stimme des Bruders hob an:

‚Schnipp, schnapp Magisterlein
Hat zwei Stelzen statt der Bein;
Magister zieh die Strümpfe stramm,
Weil wir heute Wäsche han.‘

Die Mutter aber hatte mich mit einem Ruck losgelassen, war aufgestanden und kehrte mit der Elle aus dem Laden zurück, die sie uns Kindern drohend wies. ‚Ruhe!‘ gebot sie, ‚oder –‘; und sie setzte sich wieder und zog mich noch näher zu sich.

‚Also ein Tagedieb möchtest Du werden, Hans?‘ fragte sie. Seltsam unheimlich klang mir ihre Stimme. ‚Ein Mensch, der sich den Kopf mit lauter gelehrtem Kram vollstopft, der Keinem auf der Welt etwas nützt! So ein armes überstudirtes Gespenst zu sein, scheint Dir begehrenswerth?‘ – Und da ich schwieg, fuhr sie fort: ‚Statt frischer, gedeihlicher Arbeit – das Brüten über staubigen Büchern in dumpfer Stube; statt eines gesunden Körpers – abgemagerte Glieder! Bengel, woher hast Du die unglückliche Idee? Aber, nicht wahr, ’s ist nicht Dein Ernst?‘ schmeichelte sie, ‚Du hast Dein Mütterchen foppen wollen, wie es der Fritz gethan mit den Räubern?‘

Ich schüttelte den Kopf und sah sie an, und die Thränen liefen mir über die Wangen.

‚Ich hatt’ immer gemeint – da draußen über der Hausthür – sollte einmal stehen: ‚Gebrüder Rüdiger‘,‘ flüsterte sie vor sich hin.

‚Plärre nicht, Junge!‘ fuhr sie mich dann plötzlich an und stieß mich zurück; ‚hätt ich Dir die Elle zur rechten Zeit zu kosten gegeben, wahrscheinlich hättest Du mehr Schneid’ in Dir. Vorwärts, geht zu Bette; das Weitere wird sich finden!‘ Und marsch, mußten wir hinaus.

Wir gingen, und ich warf mich auf mein Lager; der Kopf brannte mir vor tausend Gedanken, und die Sehnsucht wollte schier überhand nehmen nach – ja, ich konnte kaum Namen dafür finden.

Wie ich auf den ‚Magister‘ gekommen? Ach, das ist ja das beglückendste Geheimniß meiner Kinderzeit! Er war eines Tages in den Laden getreten und hatte in seiner gewöhnlichen freundlichen Art ein Stück des feinsten Tuches zu einem damals modischen Frack gekauft, und ich hatte das Paket eine halbe Stunde später nach der Zimmergasse in sein Haus tragen müssen.

Der Magister war ein alter Herr dazumal schon; er vertrat die Stelle eines Vorlesers bei der Fürstin Anna Katharine, die zu jener Zeit ein freudenloses, einsames Wittwenleben im Schlosse drüben führte. Eine hochgebildete Frau, mit dem geistreichen Hofe zu Weimar stets nahe liirt gewesen und Freundin Goethe’s, hatte sie ein fast schwärmerisches Interesse für Literatur und Kunst, einen starken Hang zur Philosophie, und ihr treuer Führer bei diesen Streifzügen auf das Gebiet des Schönen und Erhabenen war der Magister Schröder. Aeußerlich spielte er eine wunderliche Figur; er war mit seiner Toilette noch halb in dem verwichenen Jahrhundert verblieben, denn seine dürren Beine steckte er noch immer in schwarzseidene Strümpfe und Schnallenschuhe, während sein Obertheil den unkleidsamen Frack mit den hochgepolsterten Aermeln und blanken Knöpfen der neuesten Mode acceptirt hatte. Weil dies nun gar komisch zusammenpaßte und weil die schwarzseidenen Strümpfe in allerlei traurigen Falten herabhingen, so fehlte es nicht an mancherlei Neckereien. Mein Ideal aber war und blieb er; was kümmerten mich die bespotteten Strümpfe? Ich sah nur das feine blasse Antlitz und jene zwei großen nachdenklichen Augen, aus denen seine schöne Seele sprach. Er ist mein Wohlthäter geworden, denn ohne ihn –“ Der Erzähler stockte plötzlich. „Doch ich wollte ja berichten, wie ich seine Bekanntschaft machte.

Ich war mit meinem Paket bei glühender Sommerhitze durch die Straßen getrabt und in das kühle Haus des Magisters getreten; ein prächtiger weißer Pudel war mir da entgegen gekommen, sonst Niemand. Ich ging durch den Hausflur, über den Hof und, [822] da ich Stimmen hörte, auch weiter in den Garten, von wo sie mir entgegenschallten. Dort, an der Hofthür steht eine kleine Steinbank – sehen Sie, es ist dieselbe noch unter dem nämlichen Hollunderbaum – weiter kam ich nicht, denn durch die Büsche erkannte ich in ihrem Fahrstuhl die Fürstin, und eine zweite Dame als ihr junges Hoffräulein, Baronesse von Rettberg, die unter dem Namen ‚die schöne Rosa‘ im ganzen Städtchen bekannt war. Den Magister sah ich nicht, aber ich hörte ihn bald – er las.

Mein Lebtag werde ich nicht vergessen, welch eine Fülle von Licht und Wonne in das dürstende Kinderherz fiel, wie Musik umschmeichelte es mich; ach, so etwas hatte ich nimmer geahnt. Meine Mutter hielt wohl nie in ihrem Leben ein Buch in der Hand, außer Bibel, Gesangbuch und Kalender; mein Vater las das Wochenblatt und eine größere Provinzialzeitung, das war schon ungeheuer viel. Wir Kinder lernten auch in der Schule Gedichte hersagen, aber es waren meist Kirchenlieder oder lehrreiche Parabeln aus dem Kinderfreund, und es hatte sich noch nie etwas gerührt in mir, wenn ich lernte: ‚Ein Knabe aß wie viele Knaben die Datteln für sein Leben gern.‘ Aber jetzt –

‚Es stand in alten Zeiten, ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt es über die Lande, bis an das blaue Meer –‘

das war kein Sprechen mehr, das war wirklich Musik.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen, nachdem er geendet; der Fürstin Rollstuhl war längst mit leisem Knirschen durch den Garten geschoben und in dem Pförtchen der Mauer verschwunden, leichte Dämmerung war herniedergesunken, ich saß noch immer da, bis der Magister mich verwundert fragte, was ich wolle, und, kinderfreundlich wie er war, sich mit mir in ein Gespräch einließ.

Zugehört hätte ich, gestand ich endlich, und es sei so schön gewesen!

Da ich ging, schieden wir als Freunde, und Uhland ist immer mein Lieblingsdichter geblieben.

Was Wunder, daß ich an gar nichts weiter dachte und daß des Magisters Name über meine stammelnden Lippen kam in jenem Augenblicke. Dieser Vorgang, die Frage der Mutter und meine Antwort, hatte dennoch Folgen für mich. Nach einer Familienberathung, in der mein Pathe, der Bürgermeister, den Vorsitz führte, wurde kurz nach jener Zeit beschlossen, daß ich studiren solle. Meine Mutter eröffnete mir dies, aber wohlweislich erst nachdem der Jahrmarkt vorüber, während dessen wir Brüder tüchtig im Laden helfen mußten. Vielleicht bin ich noch zerstreuter als sonst gewesen, denn wenn eine Bauerfrau einen rothen wollenen Unterrock begehrte, so dachte ich beim Anblick des Purpurs an den furchtbar prächtigen König, und bei dem sanften Himmelblau, das die junge Küstersfrau zu einem Pathenkleidchen verlangte, an die muthmaßliche Farbe des Gewandes der schönen Königin, die so süß und mild gewesen, ‚als blicke der Vollmond drein.‘

Ich war entschieden noch schlechter im Geschäfte zu gebrauchen, als gewöhnlich, aber ich bekam weder Schelte noch Ermahnung.

Zwei Tage später war der feierliche Moment, wo mir gesagt wurde, daß ich von Ostern ab das Gymnasium besuchen werde, um, meinem Wunsche gemäß, zu studiren. Glauben Sie mir, mein junger Freund, das war der seligste Tag meines Lebens!

Wie ich den Herrn Pathen gegen Abend im bedächtigen Schritt über den Markt kommen sah, wie meine Mutter ihn in das Putzzimmer führte, das im ersten Stock des Hauses sich befand, wie der Vater den Fritz rief und ihn hinter den Ladentisch stellte mit dem Befehl, daß man ihn nur rufen solle, wenn etwas ganz Wichtiges verlangt werde; wie dunkle Gewitterwolken über den Schönauer Bergen aufstiegen und die goldnen Kreuze der Marienkirche so blinkend von dem blauschwarzen Hintergrund sich abhoben – das hörte, sah und fühlte ich Alles dort oben auf unserer Giebelstube, in welcher der Fritz und ich hausten. Ich stand am Fenster, und mein Herz klopfte schwer und bang, ich weiß nicht, ob es die drückende Schwüle draußen machte oder die Erwartung von dem, was da kommen sollte.

Der Vater rief mich endlich in das Gemach, und dort stand ich eine Weile stumm an der Thür, bis die fette Stimme des Oheims nach mehrmaligem Räuspern also sprach:

‚Nun, Hans, mein Sohn, so laß Dich denn an die Krippe der Weisheit führen und verdirb Dir den Magen nicht mit dem Mengefutter der griechischen und lateinischen Gelehrtheit, möge sie Dir im Gegentheil wohl bekommen!‘

Er lachte über seinen Spruch, daß ihm das Bäuchlein wackelte, und trank sein Glas Franzwein aus. Der Vater aber nahm mich bei der Hand, strich mir über das Haar und sagte: ‚Bedank’ Dich beim Pathen, er hat Dir das Wort geredet gegen die Mutter; wär’s nach ihr gegangen, so –‘

Die Mutter schwieg; sie sah mich bekümmert an, als sei ich ein schier verloren Schäflein. ‚So ein dummer Junge!‘ sprach sie endlich.

Als ich dem Herrn Bürgermeister die Hand gegeben und dann zu ihr trat, setzte sie hinzu: ‚Hoffentlich gereut’s Dich nie, Hans. Nun kannst Du laufen!‘ Und ich lief; im Hause hätt’s mich nimmer gelitten.

Menschenleer waren die Gassen, schwer und dumpf die Luft; ich eilte, als gelte es noch vor dem Unwetter das schützende Dach zu erreichen. In stürmischer Hast drückte ich die Thür zu des Magisters Hause auf, just als der erste falbe Blitz vom Himmel herniederzuckte, und athemlos stand ich vor ihm, der, aus dem Garten kommend, eben durch den Hausflur schritt und mich nun lächelnd und verwundert betrachtete.

Er mußte mir drinnen im Zimmer Alles abfragen – erzählen, berichten konnte ich nicht. Er saß mir gegenüber im tiefen Lehnsessel an dem mit Büchern und Papieren bedeckten Tisch, der Himmel draußen war so finster, daß sein mildes blasses Antlitz das einzig Lichte in dem dämmerigen Gemach erschien, und er sprach. Er sprach von der Wissenschaft, wie sie den Menschen veredle und erhebe, er sprach von den Wundern, die mir num erschlossen werden sollten, ‚von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,‘ er sprach von allem Hohen, was Menschenherz erhebt! Und draußen rauschte der Regen zur Erde und durch die offene Thür quoll ein wundervolles Duften in das Gemach. Nie, niemals werde ich das vergessen! Ich hatte an seiner Hand den ersten zaghaften Schritt in das Land meiner Sehnsucht gethan.

Er strich mir lächelnd über die Wange, als er sich endlich erhob, und sagte, daß ihn die Fürstin erwarte; und er ging zu einem der hohen Schränke und drückte mir dann ein kleines Buch in die Hand. Eine Perle nannte er es, unter dem, was Menschengeist erschaffen, ein Werk, das ich jetzt freilich noch nicht verstehe, und an ihn solle ich denken, wenn ich dereinst mich in dieses Meer von Schönheit versenkte.

Und ich ging, das Buch in der Hand. Unter dem letzten tröpfelnden Regen wanderte ich durch die Lindenalleen, die unser Städtchen umschließen; mir war zu Muthe wie trunken. Vor dem Gymnasium blieb ich stehen und schaute zu den alten grauen Mauern hinauf in schweigender Andacht, und Homer’s Odyssee hielt ich fest an mein klopfendes Herz gedrückt.

Und die Kindheit verging unter eifrigem Lernen und dem Streben, das Versäumte nachzuholen, und das Jünglingsalter brach an. Alltäglich verlebte ich glückliche Stunden in diesem Hause, noch heute gedenke ich mit Freuden ihrer, dort drinnen, im behaglichen Zimmer, wo wir den Olymp mit all seinen Göttern und das ganze classische Griechenland um uns zu versammeln pflegten. Ich höre noch die milde Stimme des alten Mannes, mit der er jene wunderbare Sprache redete – ich sehe seine blauen leuchtenden Augen, und ich sehe sein mildes Lächeln, mit welchem er meine Verse überlas, die ersten, die ich gedichtet und die ich ihm verstohlen auf den Arbeitstisch gelegt hatte.

‚Hans, mein Sohn, was weißt Du von solchen Dingen, was weißt Du von Frauenschönheit?

‚Nicht der Grazien Reiz, nicht Eos’ strahlender Schönheit,
Nein! – Die Palme gebührt Rosa, der Herrlichen, nur!‘

Hans, mein Sohn, soll ich das dem Fräulein von Rettberg vorlesen?‘

Ja, die schöne Hofdame der Frau Fürstin war meine erste heiße wunschlose Schwärmerei. Kein Wunder, daß ich vor Entzücken fast taumelte, als mich einstmals der Herr Magister mit in das Schloß hinüber nahm, damit ich – er war plötzlich heiser geworden – der hohen Frau einige Capitel aus Walter Scott’s neuestem Roman vorlese. Das blasse stille Antlitz der Fürstin, das hohe, mit Bildern und Portraits fast tapezirte Gemach, das flackernde Kaminfeuer mitten im Sommer, die grünen schwankenden Lindenzweige vor den Fenstern und endlich die schlanke Mädchengestalt am Stickrahmen, so vornehm in jeder Bewegung, ihre tiefen traurigen Augen – das ist eine jener Erinnerungen, die mir nie erblaßten; ich war siebenzehn Jahre damals, Herr Baumeister.“

[835] Immer enger schloß ich mich meinem gelehrten Freunde an, wir durchstreiften Wald und Thal – bei jedem Schritte ein Wort des Wissens, der Belehrung – und so war es natürlich, daß mein junges Herz in dem Hause des Magisters blieb, während ich theilnahmlos daheim am runden Tische saß und über Dinge reden hörte, die mir fremder geworden denn je. Ja, wenn es nur das gewesen wäre, aber unsere Seelen wurden sich auch fremd und fremder, ich verstand die Meinen nicht mehr und sie mich nicht, und das war es ja eben!

‚Fremd und fremder!‘ sagte ich. Zuerst die Mutter, – sie konnte es nicht überwinden, daß einer ihrer Söhne ein Stubenhocker, ein Bücherwurm geworden. Ihr imponirte es wenig, daß ich der Fürstin vorgelesen, daß mich die Lehrer lobten und daß ich am Schluß des Winterhalbjahrs eine lateinische Rede in der Aula hielt. Sie hatte dafür ihre Freude an dem Bruder, der Sonntags im modischen Anzuge, wie aus dem Ei geschält, von Erfurt herüber kam, wo er, um sich auswärts umzuthun, als Commis in einem größeren Geschäfte unserer Branche Stellung genommen hatte. Sie freute sich über ihn in einer Weise, daß es mir weh zu thun begann; er war so frisch, so hübsch, er war die Zukunft des Hauses, ihres Alters Trost, ihre künftige Stütze; von mir war keine Rede mehr. Sie hatte ihr Wohlgefallen an der Schwester, die einen Bräutigam gefunden, den jungen Apotheker nebenan. Im fröhlichen Kreise nach des Tages Last und Hitze saßen sie scherzend und lachend vor der Hausthür, oder zogen Sonntags in den Wald, nach dem Jägerhause, um Röstwürstchen und Weizenbier zu genießen und Abends mit lautem Singen heimzukehren, nachdem sie alle Ereignisse des Städtleins beredet und besprochen hatten.

Daß ich lieber daheim blieb bei meinen Büchern, daß ich des Magisters stillen Garten und meinen Homer dem Trubel und dem Gedränge auf der Schützenwiese, oder dem Kegelspiele im ‚Sonnen‘-Garten vorzog, das verstand die Mutter nicht, aber sie hielt mich für unleidlich hochmüthig; der ‚Herr Professor‘ nannte sie mich. Der Herr Professor! – Und kam ich mitunter zu ihr, um mich schmeichelnd zu ihr hernieder zu beugen, so sagte sie herbe scherzend:

‚Ei, ei! Der Herr Professor lassen sich herab zu mir?‘ Oder: ‚Hat ein so gelehrter Herr denn noch Zeit, seine dumme Mutter zu herzen?‘ –

Der Einzige, der mich noch bei dem alten Kosenamen ‚Hans‘ rief, das war der Vater. Ja, der Vater – wenn er bei uns geblieben wäre! Aber da kam einmal ein Tag, an dem der Laden geschlossen blieb und meine Mutter mit rothen nassen Augen ein Trauerkleid für sich und die Schwester vom Stücke schnitt. In der Ladenstube saß ich mit Friedrich am Sarge des Vaters, drei Nächte lang, und hatte mich schier aus einander geweint. Am dritten Tage schritten wir hinter dem Sarge über unsere Schwelle, und drinnen weinten und jammerten die Frauen. Das war gerade vier Wochen vor dem Abiturium, eine Zeit, in der, wie Sie ja auch wissen, so ein junger Kopf ohnehin schon schwer in Anspruch genommen wird.

Ich saß vor meinen Büchern in dem kleinen Stübchen oben und konnte mich noch immer nicht besinnen ob des plötzlichen Verlustes; ich hörte wie sonst die Schelle herauf klingen, die einen Käufer meldete, hörte der Mutter geschäftigen Tritt und der Schwester Walten, und es klang doch so sonderbar, so anders. Ja, es war viel Freudigkeit dahin an meinem Schaffen. – Friedrich reiste wieder nach Erfurt; die Mutter wollte das Geschäft allein besorgen, bis seine Zeit dort um sei. Ich trat zu ihr, als Friedrich fortging, und fragte sie, ob ich ihr helfen könne bei den Rechnungen und Büchern.

Du?‘ sagte sie und trocknete ihre weinenden Augen; aber sie dankte mir nicht einmal.

Ich stand und ging so um sie herum und fand doch kein Wort, das mich ihr näher brachte; sie hatte auch weniger Zeit noch als sonst; sie kam selten einmal zum Ausruhen und meine Examenarbeiten drängten; so ließ ich es denn und schob einen herzlichen Annäherungsversuch auf bis zu gelegenerer Zeit. Aber mir war unter ihren traurigen vorwurfsvollen Blicken zu Muthe, als hätte ich schwer gegen sie gesündigt, und wußte doch nicht womit.

So bedrückt arbeitete ich und ging still einher, daß der Magister mich fragte und mich lächelnd und mild tröstete: ‚Der Kummer um den Vater, Hans; – ein schwerer Stand, der Wittwenstand, besonders bei einer Geschäftsfrau; habe Geduld – Rebus in adversis animum deponere noli! Was sagen will: Verliere nie den Muth im Mißgeschick!‘

Am 25. März 1831, acht Tage vor Ostern, machte ich das Examen. Feierlich theilte der Director uns das Resultat mit, dessen wir abgespannt und erwartungsvoll harrten; nun, Sie kennen ja auch diese Stunden. Gottlob, wir hatten sämmtlich bestanden! Ich verließ mit einem wunderlichen Gefühle das alte Schulgebäude. – ‚Zum Herrn Magister!‘ das war mein erster Gedanke, – mein zweiter: ‚Wenn der Vater noch lebte!‘ Dann kehrte ich um und schlug den Weg nach Hause ein. Ich weiß nicht, ob es nur das Bewußtsein war, daß die Mutter doch das [836] größte Anrecht habe, die Erste zu sein, die diese Kunde erfuhr, oder ob ich mich sehnte, das Mutterauge ein einziges Mal in freudigem Stolze auf mich gerichtet zu sehen, – ich vermag es nicht mehr zu entscheiden.

Ich fand sie nicht in der Ladenstube, auch im Laden selbst war es still; nur die Schwester saß hinter dem Ladentische und nähte an weißem Linnen für ihre Mitgift, und vor ihr saß der Bräutigam, der herüber gekommen war, um ein Stündchen mit ihr zu verplaudern. Auf Beider Gesicht lag Frühlingssonmenschein. Sie fuhr erschreckt empor, die Emilie; oben sei die Mutter, sagte sie dann lachend, oben in der Stube.

Ich stieg die Treppe hinan und trat ein; es war das sogenannte Putzzimmer, hatte eine geblümte Tapete, helle Birkenmöbel, schneeweiße Gardinen und einen Glasschrank mit vielen vergoldeten Tassen. Hier fand ich die Mutter vor dem Schreibsecretär, in dem sie ihre Ersparnisse, ihre Andenken und Briefschaften aufzubewahren pflegte. Sie schrieb – nein, sie machte Striche mit einer Bleifeder, so eifrig, daß sie erst dann aufschaute, als ich neben ihr stand und meine Hand auf ihre Schulter legte.

,Du, Hans?‘ sagte sie, und an ihren Zügen bemerkte ich, daß etwas Frohes sie beschäftigte, siehst Du, eine Freude hat man doch ’mal wieder. Friedrich’s Principal schreibt mir da, er habe so großes Vertrauen zu ihm, daß er ihn in einer Zahlungsangelegenheit nach Mailand schicken will – das freut mein Herz, Hans; es ist Schneid in dem Jungen! Und nebenbei kann er Geschäftsverbindungen in Mailand und Zürich anknüpfen, die uns nützen werden, und er lernt ein Stückchen Welt kennen obendrein. Und Du,‘ – sie ließ mich nicht zu Worte kommen – ,da siehst Du, ich male mir sogar schon diese Zukunft aus. Das da‘ – und sie wies mir ein Blatt Papier, auf dem ein großes Viereck gezeichnet stand, mit lauter kleinen Quadraten darinnen – ‚das ist unser Haus, und hier – guck – wo unser jämmerlich kleines Schaufensterchen ist, da will ich die Mauer durchbrechen und ein großes Fenster machen lassen, damit Licht wird in dem Gewölbe und die Waaren besser ausgelegt werden können, die wir führen. Ich hab’s dem seligen Vater immer und immer gesagt, aber er war nicht dafür; er meinte, die Kunden kämen so auch. Nun ja; aber ich hab’ ’mal meine Freude daran und der Friedrich soll sie auch haben. Und, Hans, da Du einmal hier bist – ich wollte schon immer mit Dir sprechen – könntest mir auch einmal einen Gefallen thun. Gelt? Einen einzigen!‘ Und sie sah auf zu mir mit den blizenden braunen Augen. ‚Willst?‘ fragte sie; ‚einmal könntest Du der ‚goldenen Elle‘ wohl etwas nützen! Schau, Du bist ja bekannt bei der Frau Fürstin; – ich meine, es würde sich gar fein machen, wenn auf dem Schilde draußen unter der Firma zu lesen wäre: ‚Hoflieferant‘. Gelt, das könntest Du ihr sagen? Sie hat ohnehin erst vor ein paar Tagen an die sechszig Ellen Vorhangszeug bei mir kaufen lassen.“

Ich antwortete nicht sogleich; mir war es ein peinlicher Gedanke, der hohen Frau mit dieser Bitte zu nahen, da ich ja doch außer beim Vorlesen meinen Mund zu keinem Worte zu öffnen wagte in ihrer Gegenwart. Vielleicht war es kleinlich von mir – aber wie man so ist in jenen gesegneten Jahren. Und ich fragte gepreßt:

‚Thäte es nicht eine schriftliche Bitte, Mutter? ich würde sie Dir aufsetzen und schreiben.‘

Sie antwortete nicht gleich; sie schob hastig die Papiere zusammen und erhob sich, eine Purpurröthe auf dem Antlitz. ‚Schon gut!‘ sagte sie kurz und schloß den Schrank.

‚Es ist ja keine Ungefälligkeit, Mutter – ich glaube nur, daß dieser Weg der richtigere –‘ sprach ich fast flehend.

,Schon gut – ja, ja,‘ erwiderte sie, ‚bemühe Dich nicht. Wolltest Du sonst etwas?‘ setzte sie hinzu.

‚Ja, ich kam Dir zu sagen, daß ich das Examen bestanden habe.‘

,So, so! Nun, ich gratulire!‘ – das klang kühl, und kühl wie ein Nordwind hauchte es mein warmes Herz an und ließ alles Gute, alles Liebe darin erstarren. – Ich stand noch eine Weile, meinte, sie müsse etwas sagen; aber sie schaute angelegentlich zum Fenster hinaus.

‚Guten Abend!‘ wünschte ich dann nicht allzu höflich und verließ die Stube.

Das war das Letzte; an sich klein und unbedeutend, baute es eine Riesenschranke auf zwischen Mutter und Sohn. Die Schwester kam wenige Tage später weinend in meine Kammer: ‚Hans, was hattest Du mit der Mutter? Sie hat dem Pathen erzählt, Du seist ein unleidlich hoffährtiger Geck geworden, der sich ihrer und unseres Hauses schäme.‘

,Habt nur Geduld,‘ erwiderte ich ruhig, aber voll innern Grimmes, ‚ich befreie Euch bald schon von meiner Gegenwart, ich gehe in acht Tagen nach Jena –‘

Mein alter Magister lag auf dem Krankenbette, als ich schied. Ich war den ganzen Tag um ihn, saß an seinem Lager und ließ mir von ihm berichten über das akademische Thun und Treiben und nahm dankbar einen Empfehlungsbrief an den Professor Reinhold in Empfang, der ein Freund von ihm war. Ich wollte Philosophie studiren.

Der Mondschein ruhte in voller Pracht auf der schlummernden Erde, als ich, von ihm gegangen, noch einmal diesen Garten durchschritt. Dort lag das Schloß schweigend und still, und ich starrte hinüber, als müßte ich noch einmal jene vornehme Frauengestalt erblicken, mit dem Zug geheimen Kummers um den feinen Mund, die von Kindheit an mein Herz erfüllte als das Schönste und Lieblichste, was es gab. – Wenn ich einmal ein Liebchen hätte, müsse es ihr ähnlich sein, meinte ich. Recht wie ein Schwärmer pflückte ich ein paar Vergißmeinnicht, die an der Pforte wuchsen, durch welche sie oft geschritten; dann ging ich heim durch die stillen mondhellen Straßen. Es flimmerte um die Linden, es zitterte auf den Wasserstrahlen des Ritterbrunnens und wob sich um die Zackengiebel des alten Rathhauses; es schien mir Alles so anders als sonst, so viel schöner; – oder machte es die weiche Abschiedsstimmung?

Leise schlich ich die Stufen hinauf in die Kammer. Mein Köfferchen stand gepackt, wohl versorgt mit Wäsche und Kleidern; in aller Morgenfrühe wollte ich mit der Post fort. Ermüdet warf ich mich auf mein Bette und konnte doch nicht schlafen, ich hatte der Mutter nicht Lebewohl! gesagt, nur der Schwester den Auftrag dazu gegeben. Nun flackerte die alte Sehnsucht nach einem herzlichen Wort mächtig auf in dieser Stunde; ich gedachte der Vergangenheit, besonders des Vaters und wie es ihn immer so herzlich betrübte, wenn ich der Mutter scheu auswich. ‚Sie ist eine so gute Seele, Hans‘, hatte er noch kurz vor seinem Tode zu mir gesagt.

Ich erhob mich und ging auf Strümpfen die Treppe hinab bis vor ihre Schlafstube. Ich war in der Stimmung, vor ihrem Bette niederzuknieen und sie für irgend etwas um Verzeihung zu bitten – nur um noch ein gutes Wort zu hören. Aber sie war noch nicht zur Ruhe; ich hörte Schritte drinnen, und jetzt die Stimme der Schwester: ‚ Mutter, besinne Dich doch, gieb ihm selbst das Geld!‘ – das war mein Reisegeld.

‚Nein!‘ klang die helle Stimme der Mutter, ‚so, wie wir Beide uns gegenüber stehen, ist’s besser, wir reden nicht mehr mit einander. Gieb Du ihm die Tasche!‘

‚Aber Mutter!‘ bat das Mädchen flehend.

‚Red’ mir nicht drein!‘ rief sie, ‚und wenn er noch zehnmal gelehrter wäre, seines Vaters Hantirung braucht er darum nicht zu verachten und uns dazu. Mag er hingehen, wo es vornehm ist; mein Trost wird auch kommen; wenigstens ist mir ein Sohn geblieben!‘

Am andern Morgen zog ich aus dem Vaterhaus, ohne Sang und Klang. Die Mutter schlief noch, ich sah sie nicht mehr; die Schwester stand bleich in der Hausthür und zerdrückte eine Thräne. Ich wandte mich noch einmal um an der Rathhausecke, ihr zu winken, aber sie schaute mir nicht nach, sie hatte schon den Kopf gewendet und sah nach der Löwenapotheke hinüber, drinnen ihr Schatz hauste. Ich mußte grimmig auflachen; ich ging fort wie ein Ausgestoßener, wie ein Verlorener!


Es ward ein wunderlicher Gesell aus mir in dieser Seelenstimmung, zur Hälfte voll der brennendsten Lebenslust, zur andern Hälfte grillig, schwermüthig, weltverachtend.

Ich brauchte mich just nicht zu eilen mit meinem Studium. Das Erbtheil, das ich zu erhoffen, sicherte mich vor des Lebens Noth zu jeder Zeit, und jetzt hatte ich von meiner Mutter einen fast zu reichen Wechsel. So stak ich bis über die Ohren in dem akademischen Treiben jener Tage, und nächst den Kneipereien und [838] Gelagen im Burgkeller und zu Lichtenhain, den Paukereien auf dem Fechtboden, schwärmte ich für Poesie, machte Gedichte und schrieb fleißig an den Herrn Magister, gewöhnlich in mehr oder weniger classischen Hexametern. Nach Hause ging ich nicht in dieser ganzen Zeit; während der Ferien machte ich Reisen mit einem oder dem andern Freunde im romantischen Stil; Alles zu Fuß; durch Thüringen, den Main hinunter, den Rhein hinauf, wobei alle an der Tour liegenden Universitätsstädte mitgenommen wurden. In Heidelberg blieb ich einst sechs Wochen liegen, weil ein dort studirender Landsmann, der mich Ritter von der ,Goldenen Elle‘ geheißen, bei der darauffolgenden solennen Paukerei mir die Nase beinah aus dem Gesichte hieb. Und auf diesem Schmerzens-Lager packte mich abermals die Sehnsucht nach der Heimath und der Mutter. Einmal schrieb mir die Schwester und berichtete, daß sie verheirathet sei, daß Friedrich das väterliche Geschäft übernommen habe, und daß der Mutter Wunsch erfüllt, der Bruder zum „Hoflieferanten“ ernannt worden sei. Die resolute Frau hatte sich eines Tages aufgemacht und eine Audienz bei der Fürstin nachgesucht. Es war noch in einem Postscriptum hinzugefügt: Friedrich gehe auf Freiersfüßen um die Minna Kerstens.

Minna Kerstens war die Tochter des Schloßmühlenbesizers, aber den Schmeichelnamen der ‚schönen Müllerin‘ konnte ihr Niemand geben. Groß, blond, von mächtigem Gliederbau, kam sie fast ungeschlacht daher; die Mutter hatte früher oft scherzhaft geäußert, wenn die Minna ein Kleid gebrauche, so sei ein Geschäft zu machen, denn sechs Ellen müßte das Mädchen nothwendig mehr haben, als andere Leute. Aber Gott hatte in seiner Gerechtigkeit einen Ausgleich ersonnen und ihr ein paar der ungewöhnlichen Natur entsprechende Geldsäcke, wohlgefüllt und schwer, verliehen, die sie dem Glücklichen, der sie heimführte, als Mitgift zubrachte. Nun, praktisch war Friedrich immer. Und richtig, als ich eines Abends in rosigster Stimmung von einem Commers aus Lichtenhain zurückkehrte, lag die goldengeränderte Verlobungskarte auf meinem Tische.

Ich faßte mich kurz und gratulirte ihm zu seinem kolossiven Glück. Und dieses „kolossive Glück“ verstand er denn auch, wie ich es gemeint und wie es ja nicht anders zu verstehen war. Darauf kam ein Brief, nicht von ihm, wohl aber von meiner Mutter, der mich wieder auf Wochen verstimmte, weil er mir in bittern Worten vorwarf, daß ich den Bruder ernstlich gekränkt, und mit ihm die ganze Sippschaft der neuen Schwägerin; es sei doch wohl genug des Kummers, den ich ihr draußen in der Welt bereite, ich möchte wenigstens mein Vaterhaus mit Aergernissen verschonen. Der Brief sprach deutlich zwischen den Zeilen: – man hielt mich für ein verbummeltes Genie, für einen wüsten Menschen, aus dem nie etwas Ordentliches werden würde.

Ja, sie maßen eben Alles mit ihrer Krämerelle; was konnten sie wissen, wie einem flotten Burschen zu Muthe?

Daß ich es ehrlich gestehe, der Brief war ganz darnach angethan, mich völlig wild zu machen. Ich kam nun nicht viel mehr heraus aus den Paukereien und Kneipereien, bei dem tollsten Blödsinn war ich fortan unter den Ersten, und das Geld spielte gar keine Rolle mehr bei diesen Verrücktheiten. Daß sie daheim Kunde von der tollen Wirthschaft erhielten, dafür brauchte ich nicht zu sorgen, auch bewiesen es schon ganz allein meine kurzen Briefe, die Geld um Geld verlangten. Ohne Anstand erhielt ich selbst namhafte Summen, und nur ein einziges Mal standen zwei Zeilen von der Hand der Mutter daneben: ‚Ich hab’s gehabt – ist ein armer Mann!‘

Nun will ich mich aber nicht schlechter machen, als ich war. Ein Wüstling ward ich nicht, und ganz gebummelt habe ich auch nicht, denn der Drang nach Wissen, die Lust zur Sache war mächtiger in mir, als alle Jugendlust; und wenn wir spät in der Nacht von einem Commers heimkamen, so fand mich doch schon der folgende Morgen im Hörsaal, und der Collegien, die ich versäumte, sind es eigentlich wenige gewesen. Auch verkehrte ich nicht allein in dem bunten Studententreiben, denn Dank des Magisters Empfehlungen kam ich in manch Professorenhaus und zu manchem wohlgesitteten Thee-Abend, zu mancher soliden Landpartie, wo ich ein blondes Professorentöchterlein unter den Bäumen herumschwenken durfte; aber freilich, das erfuhren sie nicht daheim.

Im Frühsommer des kommenden Jahres meldete sich ein unheimlicher Gast in Deutschland an, die Cholera. Erst nahm sie ihre Opfer hier und da, wie zum Spiel verschonte sie manche Orte ganz, dann verschwand sie in grausamer Neckerei ein Weilchen, um mit Herbstes Anfang sich wüthend auf viel blühendes Leben zu werfen. Von Arnstein hatte man bis jetzt wenig gehört – da, eines Tages theilte mir der Herr Magister mit, daß die Fürstin, durch den Tod ihrer so innig geliebten Hofdame auf’s Aeußerste erschreckt und betrübt, Arnstein verlassen habe, um sich auf ein Jagdschloß ihres verstorbenen Gemahls zu begeben, das, tief in den Wäldern versteckt, ihr Sicherheit gegen die schreckliche Krankheit und Einsamkeit für ihre Trauer gewähren solle, und daß er, der Herr Magister, ihr noch heute dorthin zu folgen gedenke. Es sei ein grausiger Reigen, den der Tod jetzt anhebe in unserem freundlichen Städtchen, hatte er hinzugefügt, und warum nicht er dahingerafft sei, anstatt dieser voll erblühten Rose?

Mir war gewitterschwül und bang zu Muthe; es ist so eigen, wenn man ein Paar leuchtende Augen gekannt hat und sie dann so jäh geschlossen weiß. Und von dem fröhlichen Schloß, von dem stillen Eckzimmer, an dessen Fenster ich so oft das schöne Mädchen gesehen, irrten meine Gedanken zu dem alten Giebelhause auf dem Markt und hingen sich an ein alterndes Frauenantlitz mit sehnsüchtig angstvoller Gewalt: – meine Mutter – wenn sie sterben müßte, und ich hätte sie nicht wiedergesehen! Es war ein Gedanke, der mich mit Folterqualen packte.

Ein paar Tage, ein paar schlaflose Nächte hindurch ertrug ich ihn. Da, am andern Morgen, körperlich fast krank, traf ich einen Mann auf der Straße; ich kannte ihn von Ansehn, er ging seit langen Jahren mit Schuhen hausiren, die er in meiner Vaterstadt aufzukaufen pflegte.

‚Kommen Sie aus Arnstein?‘ redete ich ihn an.

Er bejahte. ‚Sieht schlecht aus da, junger Herr,‘ setzte er hinzu, ‚die Cholera hat die Leute beim Schlafittchen, sie wissen selbst nicht wie; das ganze Nest stinkt von allerhand Räucherwerk und den Leichenträgern blüht der Weizen.‘

Ich wollte den Mund aufthun zu einer Frage und scheute mich doch.

‚Sie räumt diesmal recht auf unter den Vornehmen,‘ fuhr er geschwätzig fort. ‚Den Herrn von Niedeck aus der Weißgasse haben sie hinausgeschleppt, und den Herrn Bürgermeister brachten sie im Trab, just als ich aus dem Erfurter Thor schritt gestern beim Tagesgrauen. Die Frau Amtsräthin und das schöne Hoffräulein sind todt, und in der Löwenapotheke lebt nur noch die alte halbblinde Großmutter und das Sechswochenkindchen, das junge Paar haben sie mitsammen fortgeschafft –‘

‚Meine Schwester?‘ stieß ich hervor.

‚Ihre Schwester? O, die geborne Rüdiger – ja, ja – sie hat ihren Mann gepflegt, der starb zuerst, dann kam’s an sie – –‘

Ich stürmte fort, wie ich ging und stand, und löste mir ein Postbillet. In der nächsten Stunde schon schwankte das schwerfällige gelbe Fuhrwerk über die Höhe von Jena.

Am folgenden Morgen, um vier Uhr, langte ich in Arnstein an. Ein feiner Nebel hing an den Bergen und über dem Schloßpark und lagerte auf den Dächern der Stadt, als der Wagen durch das Thor rollte. Die Hausthüren waren noch alle fest verschlossen, als scheue man die Morgendünste; nur ein paar Ackerwagen begegneten mir, und am Ritterbrunnen, wo ich ausstieg, vier Männer; die trugen eilig einen unheimlichen Korb an langen Stangen und schienen, trotz der Morgenfrühe, nicht mehr ganz nüchtern, wenigstens ließen sie einen starken Duft von Wachholderbranntwein hinter sich zurück. Die Kirchthür stand offen, ein altes Weiblein schlich hinein; sonst war es unheimlich still, nicht einmal die zahllosen Sperlinge lärmten mehr in den Linden, die Morgens ein Geschrei zu machen pflegten, daß sich die anwohnenden Leute darüber beschwert hatten, und doch traf schon ein rosiger Sonnenstrahl die bekannten Giebel.

Ich schritt weiter. In der Thür des Backhauses stand die runde Frau Meisterin, die mir so manchen Kringel verkauft hatte. Auch sie trug ein Trauerband an der Haube.

Ich grüßte flüchtig und wollte vorüber.

‚Jesus!‘ schrie sie hinter mir auf, ‚Herr Rüdiger! Herr Rüdiger! Erschrecken Sie sich nur nicht. Da bei Ihnen –‘

Ich winkte mit der Hand ab, ich wollte es nicht hören; – ich wußte ja, meine Mutter war es – meine Mutter!

[839] Ich weiß nicht, wie ich den Marktberg hinaufkam und in die Hausthür; sie stand weit geöffnet, als habe man eben Jemand hinausgetragen. Einen Augenblick lehnte ich wie erschöpft in dem stillen Flur am Treppengeländer, dann schwankte ich vorwärts, der Ladenstube zu. Mit leisem Kreischen ging die Thür auf, die ersten Sonnenstrahlen lugten durch die weißen Vorhänge und erfüllten den trauten Raum, aber lautlos stille war es innen, die Uhr stand, das Vogelbauer war leer, und nun wußte ich es – die Mutter war nicht mehr!

So einsam, so öde hatte ich es mir vorgestellt, wenn sie einst todt – aber nimmer so schrecklich, so mit wahnsinniger Angst und Reue die Seele packend. Wie ein verlorener Sohn, wie ein Verbrecher, dem die Pforten des Paradieses verschlossen sind auf ewig, so stand ich in dem verlassenen Raum.

‚Jahre meines Lebens gäbe ich, Alles, Alles, woran mein Herz gehangen, träte sie nur noch einmal in ihrer raschen Art durch die Thür dort,‘ stöhnte ich, ‚giebt es denn keine Barmherzigkeit im Himmel?‘

Da ging leise die Tapetenthür gegenüber, und da kam es herein, eine alte gebeugte Frau im Trauerkleide, die Haare, ehedem so braun, nun gebleicht von Herzeleid und Kummer.

‚Hans!‘ sagte sie leise.

‚Mutter!‘ schrie ich auf, ‚Du lebst, Du lebst?!‘

Und ich lag zu ihren Füßen und drückte ihre Hände an meine weinenden Augen.

‚Ich lebe,‘ sprach sie, ‚ich, die Alte, und die Jungen sind dahin – Alle, Alle!‘ Und nach einer Weile: ‚Du, mein Einziger noch!‘

‚Laß es gut sein, Mutter,‘ schluchzte ich, ‚laß mich Alles gut machen, laß mich bei Dir bleiben!‘ Und so im jähen Ueberschwang des Schmerzes und der Reue warf ich Alles hin, was mir des Lebens Lust und Wonne gewesen, in dem Wahne, ich habe eine schwere Schuld zu sühnen, die Schuld, daß Gott mir ein ander Temperament gegeben, als es die Mutter gemeint.

Als es Abend geworden, brachte sie mir das Hauptbuch des Geschäftes und ein Bund Schlüssel: ‚Gott segne Dich und Deinen Entschluß, Du mein Trost in der Verlassenheit!‘ Und aus den Thränen, die um den Sohn in ihren Augen standen, den ihr die verflossene Nacht geraubt, schimmerte ein Glücksstrahl über den verloren Geglaubten, den ihr der Morgen gebracht.“


Der alte Mann schwieg. Ich fühlte wohl, jetzt sei er im Begriff von dem zu reden, was ihn einstmals an den Rand jenes dunklen Abgrundes getrieben. Er saß, als habe er die Gegenwart vergessen. Der Mond war allmählich hinter den Bäumen emporgestiegen und streute seine silbernen Funken über den Garten aus; im Fliederstrauch hub eine Nachtigall an.

Er fuhr aufhorchend empor, strich sich das Haar aus der Stirn und griff zum Glase.

„Vom Hörsaal der Philosophie bis hinter den Ladentisch der ‚Goldenen Elle‘,“ begann er, „ein wunderlicher Weg, gethan unter der zwingenden Gewalt eines uralten heiligen Naturgesetzes; aber so rasch war ich diesen Weg gelaufen, in so kopfloser Eile, daß ich am Ziele ermattet zusammenbrach; doch, wer überlegt in der Angst, in der Erregung –?

Die kommende Zeit lebt in meiner Erinnerung verworren, unklar und dennoch so furchtbar lebendig!

Anfänglich stand ich noch völlig unter dem Banne der erschütternden Ereignisse, der herben Verluste; die opferwillige Liebe zu der schon verloren geglaubten Mutter schlug himmelhohe Wellen, und sie, sie lag schier anbetend vor ihrem ‚Einzigen‘ auf den Knieen. Wie oft am Tage kam sie, legte ihr graues Haupt an meine Schulter und sagte weinend: ‚Mein Einziger! Mein Sonnenschein!‘ – Mit welcher Todesangst sorgte sie sich um meine Gesundheit, mit welchem Aufwand von Festigkeit erzwang ich es, bei ihr bleiben zu dürfen in der verpesteten Stadt!

Daß ich heimgekommen, das Geschäft zu übernehmen, fand Jedermann natürlich; wer hätte es sonst thun sollen? Das alte schöne Geschäft, das für rentabler galt als ein Rittergut, würde man doch nicht verkommen lassen! Niemand redete mich darauf an, Keinem erschien es wie ein Opfer; im Gegentheil, es gab allerhand Leute, die da meinten, der leichtsinnige Studiosus habe doch mehr Glück als Verstand, denn es wäre schwerlich etwas aus ihm geworden auf der Universität, und heimlich habe die Mutter schon das Geld abgezählt in der Schublade liegen gehabt, um mich je eher je lieber nach Amerika zu spediren.

Mit den ersten Herbstfrösten erlosch die schreckliche Krankheit; der Bann, der auf allen Gemüthern lag, wich, Jedermann athmete auf – nur ich nicht. Bisher hatte ich in einem wunderlichen drückenden Halbtraum dahin vegetirt, aber plötzlich ward ich völlig wach: bin ich denn wahnsinnig gewesen an jenem entsetzlichen Morgen? Ein schrecklicher Tag, an dem ich diese Frage an mich selbst richtete. – Es war um Martini herum und in unserem Geschäfte drängten sich die Bauerweiber vom Lande, um die warmen Wintersachen einzuhandeln, ein Tag, der geschäftlich obenan stand bei uns. Draußen wirbelten die Schneeflocken über dem bunten Treiben des Marktplatzes, vom Thurme blies der Stadtmusikant einen Gassenhauer im Walzertact; es war ein Feilschen, Lachen, Schreien um mich herum, und ein Duft von Zwiebeln, nassen Kleidern und Tabak, der mich körperlich fast elend machte, erfüllte den Raum, und über Alles hinweg ertönte die Stimme der Mutter, nach Allem fragend, zuredend, angreifend, wie es das Geschäft verlangt.

,Sie sind krank, Hans‘, sagte eine Mädchenstimme hinter mir, ‚gehen Sie, ich werde der Mutter helfen.‘ Und meines Bruders hinterlassene Braut schob mich fürsichtig, als sei ich eine Puppe, zur Seite, und ein Paar blaue, von hellen kurzen Wimpern umrahmte Augen sahen mich mit zärtlich besorgtem Ausdruck an.

Ich ging. Ich ging immer, wenn sie kam und sie kam oft. Es war ein instinctiver Widerwille, den ich gegen dieses robuste grobfadige Mädchen hatte. Sie trampelte einher wie ein Percheron, und Nerven schien sie zu haben wie Seilerstricke; schon allein ihr derbes Lachen konnte mich zur Empörung bringen, und sie lachte oft in der letzten Zeit. Das Einzige, was ihr Ehre machte – sie hatte es längst heraus gefühlt, mit welchem Widerwillen ich in dem Laden thätig war, und sie erbot sich gern zur Ablösung, wie sie denn überhaupt Alles that, womit sie glaubte mir angenehm zu sein.

Die Mutter hielt große Stücke auf sie, das Minnachen war eine ‚so schneidige‘ Person. Ich hatte oft des Abends, vor einem Buche sitzend, mit halbem Ohre wie aus weiter Ferne eine Lobrede über sie angehört –. Nun, heute kam sie mir recht! – Ich trank in der Ladenstube ein Glas Wein, den die Mutter sorglich immer für mich bereit hielt, und stellte mich an das offne Fenster. –

‚Hans,‘ flüsterte da wieder die Mädchenstimme hinter mir, ,Hans, heut in aller Frühe ist die Fürstin zurückgekommen und auch der Herr Magister, von dem Sie soviel halten; ich sah es, als ich zum Backhause ging mit den Martinskuchen; – ich meine, es interessirt Sie?‘

Ich fuhr herum. Ohne ein Wort zu sagen, langte ich die Mütze von der Wand, schritt aus dem Hause und durch das Marktgewühl in die Zimmerstraße. Wie ich den Flur betrat, packte mich ein wunderliches Gefühl, etwas wie Scham, und dennoch ein altes seliges Erinnern; als ich aber drinnen stand in dem trauten Gemach, in dem nur leise die Uhr tickte und die Büsten Homer’s und Sokrates’ so still gemahnend auf mich herabschauten; als ich wieder das milde Antlitz sah und die Stimme des alten Mannes hörte, der mir in griechischer Sprache entgegenrief: ‚Sei mir gegrüßt, mein Sohn!‘ da war es, als schüttelte es mich, und eine innere Stimme schrie: ‚Bist Du denn wahnsinnig gewesen an jenem Morgen?‘

Er wußte von nichts. Er erkundigte sich nach meinem Studium und wie es komme, daß ich daheim. Und warum ich so lange nicht geschrieben? Und ich stand noch immer vor ihm, in stummer Verzweiflung:

‚Ich habe umgesattelt,‘ sagte ich, mich mühsam zu einem leichten Tone zwingend – ‚ich bin Kaufmann geworden.‘

Er sah mich schmerzlich an.

‚Der Bruder ist todt,‘ fügte ich hinzu, ‚und die Mutter schafft es nicht allein –.‘

Er antwortete noch immer nicht. ‚Hans, mein Junge,‘ nahm er endlich das Wort, ‚Ehre Deinem Entschluß, – Du wirst es wohl erwogen haben und – mögest Du Dich glücklich fühlen!‘

Mir schoß plötzlich das Wasser in die Augen – ich konnte nicht mehr bei ihm bleiben, ich hätte sonst geweint wie ein Schulbube. [842] Ich sagte kurz ‚Adieu‘! und ging. Aber in unserem Hause, in dem Mansardenstübchen saß ich dann und wühlte in meinen Bücherlisten, die noch unangerührt standen, wie sie von Jena gekommen; mein Cerevis-Käppchen hatte ich auf den Kopf gesetzt und in den Händen hielt ich die Tristien Ovid’s; und ich las und las, wie ein bald Verdurstender zu trinken pflegt. So saß ich noch, als die Dämmerung hereingebrochen war.

Als ich blaß und erfroren zum Abendessen in die Ladenstube kam, sah mich die Mutter über den Tisch herüber mit forschenden Augen an. Aber sie sagte nichts und legte mir nur sorglich vor; nachdem wir schweigend gegessen und der Tisch abgeräumt worden, nahm sie das klappernde Schlüsselbund und ging hinaus. Nach einer Weile kehrte sie zurück, eine verstaubte Flasche in der Hand und des Vaters Mundglas; sie stellte Beides vor mich hin. ‚Hans‘, sagte sie, ‚trinke, – der Vater hielt es immer so; wenn ein guter Tag im Geschäft gewesen, dann goß er sich das Glas voll Franzenwein und sprach: ‚Heut war Segen drin, Alte, da können wir uns das erlauben!‘ – Nun, Hans, Du kannst es auch haben, Du bist ja hier an des Vaters Statt!‘

Sie strich mir dabei leise über das Haar, ich aber sah das alte geschliffene Glas nur noch durch funkelnde Thränen; – daß sie heut, wo ich ihr im Herzen abtrünnig geworden, sie allein gelassen in dem Drang der Arbeit, kein tadelndes Wort für mich fand, das schlug mich fast zu Boden. Hastig schob ich das nun gefüllte Glas zurück und strebte nach der Thüre.

‚Hans‘! rief es hinter mir, ‚Hans, bleib hier!‘ Aber ich konnte es nicht, ich wußte selbst nicht, warum. Heftig schlug ich die Thüre hinter mir zu und warf mich in der Kammer auf mein Bette. – Wüst und wirr erhob ich mich am andern Morgen, und wüst und wirr war all mein Thun.

Das Haus des Magisters vermied ich gänzlich, – ich war noch längst kein Philosoph! – Bei Wind und Wetter ging ich nach Schluß des Ladens in Feld und Wald umher, nur um mein fieberndes Blut zu fühlen, denn meistens stand ich schlaflos wieder auf vom Lager; immer hatte ich nur den einen Gedanken: ‚Und das soll so fortgehen, lebenslang, ewig?‘

So hatte sich mittlerweile denn auch eine Meinung über mich im Städtchen gebildet, nämlich, daß ich ein hochfahrender unfreundlicher Geselle sei, der die Leute nicht zu behandeln verstehe. Es passirte sogar, daß ein paar Honoratiorenfrauen, die mich allein im Laden fanden, nach meiner Mutter fragten und, als ich sagen mußte, sie sei abwesend, meinten, dann kämen sie ein andermal wieder. Mir war es recht: aber die Mutter, der es der Lehrling berichtete, ward mächtig dadurch aufgeregt und klagte: ‚Mit gutem Willen könne man viel – und sie hätte nicht gedacht, daß es soweit kommen würde! Sie werde wohl nie die wohlverdiente Ruhe finden, um droben in der Stube mit dem Strickzeug und der Tasse Kaffee behaglich am Fenster zu sitzen, die Leute auf der Straße zu schauen und sich zu freuen, wie es drunten so fein ordentlich und regelrecht einhergehe.‘ Und das war immer ihr Ideal, ihres Lebens Traum gewesen.

Und hier macht mein Lebensweg wieder einmal eine Biegung, um aus ödem freudlosen Pfad in einen noch schlimmeren voll Nesseln und Dornen zu münden. Es war im Lenzesanfang, da das passirte, was ich eben berichtet. In dem Schaufenster hatte der Lehrling hellfarbige Frühlingsstoffe ausgelegt; die Thür des Gewölbes stand offen und ließ schmeichlerisch warmes Wehen herein. Allenthalben schimmerten die Sträucher in smaragdenem Grün und über den Schönauer Bergen lachte ein lichtblauer wonniger Himmel. Nun, das weiß ein Jeder, daß der Frühling da draußen auch sacht an das arme Menschenherz pocht und ihm zuflüstern will von einem neuen Leben, von einem Besserwerden, daß es sich dehnt und schwillt und klopft vor unsagbarer Sehnsucht. So ging es auch mir.

Ich stand am Pult und starrte auf die Zahlen. Da fiel auf einmal ein Schatten auf mein Buch und eine Frauenstimme rief ein schallend: ‚Grüß Gott, Hans!‘ Dabei legte eine keineswegs zarte Hand im Filethandschuh ein paar Maiblümchen auf das Papier, und als ich aufblickte, sah ich die Minna. Sie hatte das Trauerkleid abgelegt und trug ein kornblumenfarbenes Gewand und einen Strohhut mit gelben Bändern. Ihre Erscheinung kam mir so grotesk vor, daß ich sie einen Augenblick wie erstarrt betrachtete; sie nickte aber vergnügt und flüsterte näher tretend:

‚Ja, sehen Sie, Hans, ewig kann ich doch nicht so schwarz herumlaufen, – heute Morgen kam’s so über mich bei dem Sonnenschein; da nahm ich das Kleid aus dem Schrank. Das Trauern äußerlich thut’s ja nicht, den Friedrich vergesse ich doch nimmer, und ich dachte,‘ sie ward plötzlich roth, ‚es wäre Ihnen auch lieber so; Sie sagten neulich einmal, es müßte eigentlich gar nicht erlaubt sein, daß die Menschen schwarze Kleider anziehen.‘

Ich hörte sie verständnißlos an. Was hatte meine im Allgemeinen aufgestellte Behauptung mit ihr zu thun? – Ich war froh, daß die Mutter mich einer Antwort überhob. Sie kam eben in den Laden und stieß einen Ruf froher Ueberraschung aus, als sie das junge Mädchen sah.

‚So ist’s gut, Minnachen, so ist’s gut! Die Jugend will ihr Recht!‘ Und als nach langem fröhlichen Schwätzen das Mädchen endlich ging, trat die Mutter in die Ladenthür und schaute ihr nach. Und dann wandte sie sich zu mir:

‚Gelt, Hans, ein schneidiges Frauenzimmer? Und wie sie dahier Bescheid weiß!‘

Ich nickte zerstreut, und sie sagte nichts mehr und ging hinaus. Nach einer Weile kehrte sie zurück mit Hut und Tuch, eine kleine Gießkanne am Arm und ein Körbchen mit Gartengeräth und Pflanzen.

‚Ich gehe auf den Kirchhof, Hans, will die Gräber ein bischen zurecht machen. Und wenn das bestellte Brautkleid verlangt wird – der weiße Atlas liegt in dem Seidenkasten zu oberst.‘

Sie schritt quer über den sonnigen Marktplatz; wer sie sah, zog den Hut, und die Frauen winkten ihr zu.

[849] Während die Mutter nach dem Kirchhofe wandelte, war die alte Großmutter aus der Löwenapotheke ein wenig in unser Gewölbe getreten und hielt meiner Schwester verwaistes Kindchen auf dem Arme. ‚Na, Hans,‘ – sie duzte mich noch von der Kinderzeit her, wo sie mir manchen Apfel geschenkt – ‚wie schaut’s denn aus? Guck, wird Dir der Junge nicht der Emilie immer ähnlicher?‘ Und sie setzte das rosige Geschöpfchen auf den Ladentisch und schüttelte die Klapper vor ihm, um ihn zu beschäftigen. ‚Da hat ihn die Minna vorhin beinah erdrückt vor Liebe; – na, sie wird’s ja auch erleben, so ein Mäuschen in den Arm zu nehmen. Kinderlieb ist sie, Hans, und eine gute Frau wird sie auch werden; und die Hauptsache, – sie weiß Dir hier mächtig Bescheid im Geschäft, und so Eine muß auch herein.‘

Ich hatte anfänglich garnicht auf sie gehört, weil ich das Kind betrachtet. Jetzt fuhr ich empor, der Sinn ihrer Worte traf mich wie ein Schlangenbiß.

‚Na, Hans, Du brauchst nicht so heimlich zu thun, das weiß die ganze Stadt, und die Mutter wird Dir’s längst gesagt haben, daß es ihr liebster Wunsch ist. Mein Gott, sie wird alt, und was sie erlebte zuletzt, hat sie arg mitgenommen, und – –‘

Sie hielt inne, denn draußen spazierte eine Gevatterin vorüber. Eilig nahm sie den kleinen Buben empor und schlürfte über die Schwelle. – Wie eine Unholdin kam sie mir vor, die auf dem Besen zum Schornstein hereingefahren, ein armes Menschenkind zu martern. Ich schlug plötzlich den Deckel des Pultes zu, daß es schallte und der Lehrling mit großen erschreckten Augen und offenem Munde in die Thüre trat. An ihm vorüber aber schritt ich hinaus in mächtiger Erregung. Das war zuviel! – Ich riß den Strohhut vom Haken und stürmte aus dem Alteburger Thor, dem Walde zu, daß die Frühlingsspaziergänger verwundert stehen blieben und mehr als ein halblautes: ‚Der ist wohl verrückt!‘ mir nachklang.

Und wie ich weiter drang durch Tann und Gestrüpp, ward ich allmählich ruhiger, aber ein düsterer Grimm quoll dafür in meiner Brust empor; und wie ich hoch oben auf der Schönauer Leite stand und weit hinausschaute in den herrlichen Frühlingsabend, – da kam zu diesem Grimm die Sehnsucht nach der verlorenen Herrlichkeit, nach meiner schönen goldenen Freiheit, nach allem, was mein Herze erquickt und begeistert hatte; und wie ein dunkles elendes Gefängniß erschien mir das Vaterhaus, in das ich mich selbst festgeschmiedet voll kindischer Begeisterung. – Ja, da lag es, ich kannte es wohl an dem hohen spitzen Dach, so recht inmitten dieser engen kleinen Stadt, in der Menschen wohnten mit engen Herzen und mit engem Gesichtskreis, und ich ballte die Faust und schüttelte sie und knirschte mit den Zähnen. – Weit, weit in der Ferne, da verschwamm mein Glück wie das Abendroth, mein stolzes Glück, und nimmer war es wieder zu erreichen, ohne wortbrüchig zu werden an der eignen Mutter!

Vielleicht ist sie großmüthig, wenn ich sie bitte, auf den Knieen bitte, mir die Freiheit zurückzugeben, mich hinaus zu lassen nach meiner Wahl?

Großmüthig? O, sie mußte es ja längst, längst gesehen haben, wie ich kämpfte mit mir. – Nein, großmüthig ist nur der, der Anderer Leiden nachfühlen kann: sie verstand nichts von dem, was mich bewegte; sie glaubte mich zu retten von meinem wilden unglücklichen Leben, wenn sie mich in das solide Geschäftshaus einsperrte; mit der Zeit verlernt ja auch der Vogel das Fliegen – im Käfig! Und wenn sie nun noch ein hausbacken Weib in meine Arme stieß, die allstündlich dafür sorgte, daß ihr Eheherr nicht über den Strang schlage, – dann, dann konnte ich ja noch vernünftig werden, konnte es ja noch endlich soweit kommen, daß ich im Schlafrock und mit der Pfeife kannegießernd den Abendschoppen in der ‚Sonne‘ trank und mich mit gutem Appetit zur Nachtsuppe setzte, weil ich ein paar Ellen Zeug verkauft hatte, ohne etwas herunterhandeln zu lassen.

Als verfolgten mich die Furien, so stürzte ich weiter, planlos, ziellos; erst als wieder Menschen an mir vorüberschritten, merkte ich, daß ich, den Strohhut in der Hand, mit zerwühltem Haar daher kam. Dann sagte ich mir, mich emporraffend: ‚Ich werde mit der Mutter reden.‘

Sie sei soeben heim gekommen, berichtete das Dienstmädchen im Flur, und nach oben gegangen. Ich stieg die Treppe empor und rief auf dem dämmrigen Vorsaal ‚Mutter! Mutter!‘

Da öffnete sie die Thür ihrer Schlafstube. ‚Hier bin ich, Hans!‘ Das klang so weich. ‚Komm herein!‘ Und nun stand ich ihr gegenüber. Sie hatte geweint, wie immer, wenn sie von den Gräbern kam, und sie hatte eben ein paar blaue Vergißmeinnicht, die sie von dort gebracht, in ein Glas gethan und sie unter das Bild des seligen Vaters auf die Kommode gestellt. [850] Nun setzte sie sich wieder in den Sorgenstuhl an das Fenster; aus dem Hintergrunde schimmerte das große Himmelbette ungeheuerlich herüber.

‚Schau Dich nur um,‘ sagte sie lächelnd, ‚hier bist Du geboren. – Es war Weihnacht grade, und Du machtest mir das garnicht zu Paß.‘

‚’s ist einmal mein Loos,‘ gab ich zurück.

Sie sah empor, und das Lachen erstarb auf ihrem Antlitz.

‚Ich wollte reden mit Dir,‘ fuhr ich fort, und heute noch erinnere ich mich, welche Mühe mir das Sprechen machte, und wie heiser meine Stimme über die Lippen kam – ‚von der Minna –.‘

‚Ja, Hans, das ist gut,‘ unterbrach sie mich, ‚sie ist ein braves Mädchen und verdient glücklich zu sein.‘

‚Du meinst also, ich soll sie heirathen?‘ fragte ich. – Aber sie merkte nicht den leisen Hohn in meiner Frage.

‚Ja, Hans, das ist der größte Wunsch von mir. Sieh, Schönheit vergeht, aber ein braves Herz nimmer. Sie ist eine Geschäftsfrau, wie keine weiter, und sie bringt Dir ein schönes Capital mit ins Haus. Du bist dreiundzwanzig Jahre, alt, Hans, und wenn Du eine Frau bekommst, die so recht ihre Sache versteht, so wird’s auch keine Noth haben mit uns. – Daß die Minna Dir herzlich gut ist, das hat sie gesagt, als ich sie darum befragte; sie wartet nur auf Dein Wort. Sie hat ein wenig Scheu vor Deinem stillen Wesen,‘ setzte meine Mutter nach einer kurzen Pause hinzu, ‚mit dem Friedrich wär’s leichter gegangen, meint sie. – Thue es bald, Hans, dieweil ich recht stümperig werde. – Sonst hast Du doch keine Neigung, nicht wahr? Ach, die Engel im Himmel sollten mich hier auf Erden beneiden, könnte ich noch den Erben sehen von ‚Wilhelm Rüdiger Söhne‘!‘

Und sie war aufgestanden und zu mir getreten; und sie reckte sich in die Höhe und strich mir über die Wangen: ‚Mein Einziger!‘ – Was doch für Macht in den zwei alten treuen Augen lag; eine Macht, gegen die ich vergeblich kämpfte.

‚Gute Nacht, Mutter,‘ sagte ich, ‚ich will’s überlegen.‘

Und wie ich droben in meinem Kämmerchen stand, da meinte ich, ich müßt’ ersticken. Und an der plaudernden Magd vorüber schritt ich aus der Hausthür und ging in den dunklen Schloßgarten; berauschend dufteten Flieder und Jasmin, wie heute lag der Mondesglanz über den schlummernden Wipfeln der Bäume und durch die verschlungenen Wege irrte mein Fuß immer tiefer hinein in die Frühlingsnacht, entlang an dem Flüßchen, auf dessen raschen Wellen die Silberstrahlen spielten, und hinüber über die aus Baumstämmen gefügte Brücke, wo die alte Schloßruine sich erhebt. Dann stand ich plötzlich vor einem kunstlosen Gefüge aus Stein, in halber Manneshöhe erhob es sich mitten auf dem von blühendem Gesträuch überschatteten Platze, und im grellen Mondschein erblickte ich goldene Schrift auf einer schwarzen Tafel. Ich trat hinzu:

‚Leben ist ewiger Kampf, 

Frieden erst bringet der Tod!

Dem Gedächtniß des Fräulein Rosa von Rettberg, ihrer unvergeßlichen Gefährtin in trüben Tagen.

Anna Katharina, Fürstin zu A……‘“

Er brach plötzlich ab.

„Die Verse, Herr Baumeister, verließen mich nicht mehr“ – fuhr er nach einer langen Pause fort – „ich sah sie beständig vor mir in den goldflimmernden Buchstaben, ich sah das holde Antlitz, zu dessen Gedächtniß sie geschrieben, und ich ertappte mich einmal dabei, daß ich ein Pistol in der Hand hielt und das Schloß spielen ließ; erschrocken vor mir selber legte ich es hin und nahm es dennoch öfter wieder zur Hand. Gleichwohl schleppte ich mich noch vierzehn Tage so hin – vierzehn Tage, die zu den schrecklichsten meines Lebens gehören.

Und es ward wieder ’mal Abend; müde und schwer in den Gliedern wie ein alter Mann saß ich am Fenster der Ladenstube und schaute über den Marktplatz, auf dessen Pflaster der Frühlingsregen plätscherte. Im Rathhauskeller war ein Volk Hallenser Studenten eingeregnet, und ihr Singen und Lärmen scholl deutlich herüber in unser dämmeriges Gemach:

‚Vom hoh’n Olymp herab ward uns die Freude – –‘

so hatt’ auch ich einmal gesungen.

Die Mutter nickte im Sopha, und dann that sich die Thür auf und die Minna kam herein.

‚Grüß’ Gott!‘ sagte sie, ‚ist das ein Wetter!‘

Die Mutter aber rieb sich freudig die Augen, und den Schlüsselbund vom Haken nehmend, trat sie zu mir und flüsterte: ‚Hans, mach’s richtig heut’ Abend; ich lasse Euch allein.‘

Ich hielt sie plötzlich an der Schürze so fest, daß das Band riß; aber wie ich wieder in ihre bittenden Augen sah, ließ ich sie los; ich kam nicht auf gegen diesen Blick. Und sie verließ uns, und die Minna setzte sich gegenüber auf den andern Stuhl; vor den Fenstern plätscherte einförmig der Regen, und schwerfällig ging die Schwarzwälder Uhr an der Wand ihren einförmigen Schritt.

‚Bin durch den Park gegangen,‘ hub das Mädchen endlich an, und ihre raschen Athemzüge waren mählich ruhiger geworden, ‚an Fräulein von Rettberg’s Denkmal liegt Alles voller Kränze - ihr Geburtstag ist heute. Sie haben sie ja auch gekannt, Hans?‘

‚Ja!‘ erwiderte ich gepreßt und setzte hinzu, nur um etwas zu sagen: ‚Die furchtbare Cholera!‘

‚Cholera?‘ fragte sie rasch, ‚wer hat Ihnen das aufgebunden, Hans? Gift hat sie genommen! Eins, zwei, drei – vorüber war’s! Fragen Sie jedes Kind – so ist’s.‘

Ich sprang empor.

‚Nun ja, was weiter? Sie sollte Einen heirathen, den sie nicht wollte –; umsonst war sie nicht so blaß, immer und ewig; der Magister weiß es auch.‘

Ich trat zu ihr. ‚Nun, und wie denken Sie denn über solchen Fall, Fräulein Minna?‘ kam es schneidend über meine Lippen.

‚Ich?‘ Sie sah mich an, dann schlug sie erröthend die Augen nieder. ‚Ja, ich meine, mit ein bischen gutem Willen kann man Alles – warum nicht auch einem Mann gut werden? Der Tod ist bitter.‘

‚Mit ein bischen gutem Willen?‘ Ich wandte ihr kurz den Rücken und schaute wieder durch das Fenster. So standen wir noch, als die Mutter herein kam.

Sie sah von Einem zum Andern, und als sie das eisige Schweigen zwischen uns ein Weilchen beobachtet hatte, setzte sie sich stumm in die Sopha-Ecke. Es ward dämmerig im Zimmer und todtenstill, ich hörte nur ein leises Schluchzen.

‚Warum weinst Du, Mutter?‘ fragte das Mädchen endlich gepreßt.

‚Daß ich so gar kein Glück habe, so gar kein Glück mit meinen Kindern!‘ stieß sie hervor. ‚Hätt’ ich doch gar nie welche gehabt! Ach, wie ist man stolz und eingebildet auf so ein Kind, was thut man Alles und hat doch nimmer Dank davon! Auf den Knieen möchte man vor ihnen liegen, aber der hochmüthige Nacken beugt sich nicht um ein Haar. – Ehe der Hans geboren wurde, bin ich die Treppe hinuntergestürzt; wäre ich doch liegen geblieben und elendiglich verstorben, als daß ich so eine Marterzeit erleben muß! Was hab’ ich für Geduld mit ihm gehabt – und Alles vergebens!‘

Ich ging plötzlich mit dröhnenden Schritten durch das Gemach und die Treppe hinan. Ich wollte da Etwas aus einem Kasten nehmen, ich that es auch, und kam dann wieder herunter. Hinter der Stubenthür hörte ich das Jammern der Mutter; mir that es nicht mehr weh. Ich erinnere mich noch so deutlich, was ich in jenen Augenblicken sah und empfand. Feuchter Dunst wob sich um die Giebel der Häuser; die Rathhausuhr schlug Acht. Mit eigenthümlicher Langsamkeit schritt ich über den Marktplatz die Straße hinunter: es war kein Mensch zu sehen, der Regen hielt Alles in den Stuben; nur vor dem Rathskeller stand das Schenkmädchen und neckte sich mit einem Studenten, ihr helles Lachen schallte hinter mir drein wie ein letzter Gruß von Leben und Glück, seltsam contrastirend mit den Gedanken, die mein Herz trug. Wie Hohn empfand ich es.

‚Frieden! Frieden um jeden Preis!‘ schrie meine Seele, ‚hinaus aus dieser Erbärmlichkeit!‘

‚Im Schloßgarten!‘ sprach ich dann halblaut, indem mein Schritt rasch und rascher wurde. Ich ging durch verschiedene Wege, ich athmete tief und empfand die duftende kühle Luft wie eine letzte Wohlthat; eine wunderbare Ruhe kam plötzlich über mich, ein Gefühl von baldigem Geborgensein. Und tief und tiefer drang ich hinein in den dämmernden Garten. Irgendwo blieb ich dann [851] stehen und faßte in die Tasche des Ueberziehers; wie ich den Hut abnahm, lief es mir kalt über die Stirn, daß ich hastig darüber fuhr. – –

‚Hans, mein Junge!‘ sagte da eine milde Stimme, ‚hast Du wirklich einmal Philosophie studirt?‘ Und eine zitternde Hand bog danach kräftig meinen Arm zurück, daß die Waffe sich zur Erde senkte. ‚Leih’ mir Deinen Arm, daß ich mich stütze – laß uns zusammen plaudern und gieb mir das, was Du da in der Hand hast. Sieh’ – so ist’s recht; schau, wenn es so weiter regnet, wird’s ein schlechtes Obstjahr – die Apfelblüthe ist hin. Wir gehen gleich durch’s Pförtlein, Hans,‘ fuhr er fort; ‚setze Deinen Hut auf – so; es freut mich nur, daß ich Dich getroffen, wir können da noch einen Schluck Wein mit einander trinken. Ich komme eben vom Denkmal der Rosa Rettberg, hatte schon den ganzen Tag hinüber gewollt, mußt’ aber lange bei der Fürstin sitzen. Sie ist schier außer sich an solchem Erinnerungstage, und heute ganz besonders, wo ihr zu Ohren gekommen, daß in der Stadt das Märchen gehe, ihr Liebling habe sich vergiftet. ‚O, pfui!‘ sagte sie, ‚was hat die arme Seele gethan, daß man sie noch so beschimpft? Feig war sie nie, meine Rosa.‘

Ich stöhnte wohl auf bei diesen Worten, denn er preßte meinen Arm fester an sich. Und als wir endlich in seinem Zimmer standen, warf er den Hut auf den Tisch und sah mich an, und so mild sein Wort gewesen, so mild war sein Blick.

‚Armer Junge! Aber nun laß mich mal sorgen für Dich! Lege Dich dort auf das Sopha und gieb mir die Hand darauf, daß Du fein still bleiben willst, bis ich wiederkomme; ich gehe nur in den Keller und hole Wein.‘

Im wirren Fieberzustand lag ich dort, ich weiß nicht mehr, wie lange; mich dünkten es Stunden.

Endlich kam er mit Wein und flößte ihn mir ein. ‚Und nun steh’ auf,‘ sagte er, ‚ich bringe Dich heim.‘

‚Nein, nein!‘ wehrte ich ab, ‚ich gehe allein, nicht Sie in dem Regen.‘

‚So geh’ allein, Hans, ich kann Dich ruhig lassen; ich weiß es.‘

Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und plötzlich schlangen sich seine Arme um meinen Nacken, und er küßte mich.

‚Das ist recht,‘ sagte er weich, ‚weine, Hans, weine ordentlich; es ist besser, als daß Andere um Dich weinen.‘

Zu Hause war Alles still und stumm; ich hätte es auch nicht ertragen, die Mutter zu sehen. Nur als ich an ihrem Zimmer vorbeischlich, meinte ich ein leises Stöhnen zu hören, aber Weiteres dachte ich nicht. Vergangenheit und Gegenwart gingen unter in der furchtbaren Erregung, die mich noch immer umfangen hielt. So suchte ich mein Bette auf.

Wie diese Nacht vergangen – das weiß ich nicht mehr. Gegen Morgen fuhr ich aus dem angstvollen Schlummer – am Bette saß meine Mutter; um Jahre sah sie gealtert aus.

‚Hans,‘ sagte sie mit zuckender Lippe, ‚Hans, bist Du krank?‘ Und sie faßte nach meiner Hand. ‚Ich möchte, daß Du gesund würdest, Hans, ganz gesund – so gesund, wie der Hollunderstrauch, den der Vater aus der dumpfigen Ecke herausgeholt und mitten in den Garten gepflanzt hat, der nun ein so schöner Baum geworden. Willst Du, Hans?‘ Und sie beugte sich über mich, und ihre warmen Thränen fielen auf mein Gesicht. ‚Willst wieder nach Jena, zu den Büchern? – Sag’s, oder meinst Du wirklich, daß mir die ‚Goldene Elle‘ lieber als mein einzig Kind?‘

Und sie hielt meine Hände mit leidenschaftlicher Gewalt.

‚Bin ich eine schlechte Mutter gewesen? Ich hab’s nicht besser gewußt, Hans – hab’ gemeint, ein Jeder kann, was er will – und nun soll es Etwas geben in der Menschenbrust, das stärker ist, als der eigene Wille. Du warst immer anders, Hans, ich hab’s nur nicht verstanden.‘

Und denselben Mittag noch stand eine kleine gebeugte Frau im Laden, die Augen roth von durchweinter Nacht. Und sie erzählte der Frau Stadtschreiberin, daß der Hans auf Reisen gehe, sich vorerst die Welt anzusehen, um dann weiter zu studiren, ‚denn wenn man nur den Einen hat, liebes Frauchen, soll er da nicht thun, wie es ihm am besten gefällt? Ich bin ja auch noch mobil genug, um den Laden zu besorgen, und wenn nicht, so nehme ich einen Commis; der Emilie ihr Fritzchen wächst ja auch heran; das mag Gott nun fügen, wie er will!‘ Und sie faltete das braunrothe schimmernde Gewebe zusammen und packte es in Papier. ‚So, und wenn Ihre Frau Mutter wieder fragt nach mir, so sagen Sie ihr, es ginge mir so gut, wie seit langer Zeit nicht.‘

Als ich Abschied nahm, um nach Jena zu gehen, standen zwei alte Menschen am Postwagen.

‚Hans, mein Junge,‘ sagte der Magister, ‚bisher warst Du kein Philosoph; nun halt’ die Ohren steif!‘

Die Mutter aber sah mich unverwandt an, als müsse sie sich auf Jahre hinaus sattschauen.

‚Hans, nun mach’ es, wie der Hollunderstock; werde gesund, aber schicke mir zuweilen auch eine Blüthe, ein frisches gutes Wort, weiter habe ich ja nichts mehr von Dir.‘

Und als der Wagen abfuhr, da sah ich, wie sich die alte Frau schwer auf den Arm des Magisters stützte, aber sie winkte trotzdem lächelnd mit dem Tuche.

Ja, so eine Mutter!

Aber was ich sagen wollte – da haben Sie es: es ist nicht immer die Noth des Lebens, die den Menschen zu jenem Entsetzlichen treibt; ich spreche aus Erfahrung. Noch zwei Minuten länger allein, und man hätte mich zu Grabe getragen, wie heut Ihren armen Cameraden. – – Und, sehen Sie, deshalb bin ich mitgegangen; und ich begleite Jeden zur letzten Ruhestätte, dem keine helfende Hand die Waffe herniederdrückte oder ihn am Rocke zurückhielt von dem Sprunge über das Brückengeländer. ’s ist Mitleid – das Leben kann so schön sein! – Wie gern hätt’ ich ihm gethan, wie mir der Herr Magister, dem, der da heute in die Erde gebettet ist, Friede ihm und Achtung den Gründen, die ihn dorthin getrieben!“

Er hob das Glas: „Dieses meiner Mutter und ihm, der hier gewohnt, dem alten wunderlichen Freunde!

Ich habe ihn nicht wieder gesehen!

Als ich mein Doctorexamen gemacht, kam ich zum ersten Male wieder heim; ich wollte der Mutter nicht früher vor die Augen treten, als bis etwas Rechtes aus mir geworden. Da war er bereits geschieden. Die Mutter aber stand an der Post, und wie ich den Marktberg hinan wollte, drehte sie mich um:

‚Nein – hier, Hans!‘ – Und sie wanderte mit mir zur Zimmergasse. ‚’s ist unser,‘ sagte sie einfach und deutete auf dieses Haus. ‚Ich kaufte es acht Tage nach seinem Tode. Das Geschäft dort aber hat der Schloßmüller für die Minna erworben; die heirathet Ostern meinen Commis.‘

So hat sie hier unten ihr Leben beschlossen; sie hat auf dieser Terrasse gesessen und drinnen im Zimmer den Kopf geschüttelt über die vielen, vielen Bücher. Zuweilen besuchte sie auch die Minna im Laden, später aber meinte sie: ‚’s ist doch geruhiger hier unten, es gefällt mir schon recht gut dahier.‘

Ich bin viel in der Welt umhergefahren, habe Jahre lang im Auslande gelebt, habe geschrieben und gesammelt und bin dann immer einmal wieder heimgekehrt zur Mutter. Ihr einziger Kummer war, daß ich nicht heirathete.

‚Aber Du bist mal anders, als andere Menschen, Hans,‘ sagte sie dann. Und wozu die Gelehrten eigentlich auf der Welt sind, das hat sie niemals begriffen. Wenn sie aber ganz besonders zärtlich war, sagte sie:

‚Mein Einziger, Du lebst!‘“

Der alte Mann schwieg. Nur die Frühlingsmelodien sangen weiter, die Nachtigall, das Wasser im Springbrunnen und das Flüstern der Bäume.

„Ich danke Ihnen, Herr Rüdiger,“ wollte ich sprechen, aber ich drückte ihm nur stumm die Hand und schritt allein durch die duftige Nacht weit in den Schloßgarten hinein, bis zu jenem Denkmal, auf dem die Worte stehen:

„Leben ist ewiger Kampf,
Frieden erst bringet der Tod!“