Allerlei Nahrung. VII. Schnecken

Textdaten
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Autor: Carl Vogt
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Titel: Allerlei Nahrung. VII. Schnecken
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 778–779
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Allerlei Nahrung.[1]

Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
VII. Schnecken.

Die nördlichen Küstenländer des Mittelmeeres sind die Wiege und noch heute der Mittelpunkt der Verzehrung von Landschnecken. Sonderbar, wie hier die Auslese waltet. Man denkt nicht daran, die großen rothen, braunen oder schwarzen Wegschnecken, die keine Gehäuse besitzen und nackt einherschleichen, zu verzehren; man verkocht sie nur zu einer schleimigen Brühe, die als Volksmittel gegen Auszehrung gilt, jetzt aber wohl mehr und mehr aus dem Arzneivorrathe schwindet. Wäre die Schneckenbrühe wirklich von der heutigen Medizin anerkannt, so müßten eigene Frachtzüge nach Davos eingerichtet werden.

Wohl aber werden die mit Gehäusen versehenen Schnirkelschnecken in um so größeren Mengen verzehrt, je weiter nach dem Süden man vordringt. In Mitteldeutschland und den Rhein hinab ist es allein die große braune Weinbergschnecke, die als leckeres Gericht gilt, in Fulda, besonders aber an der Umgegend von Ulm in großen Massen gezüchtet wird und früher von dem letzteren Orte aus zu Millionen in Fässern die Donau hinab nach Wien und weiter verschifft wurden. Weiter nach Norden hat man einen ebenso großen Abscheu vor Schnecken, als in England vor Fröschen, aber in ganz Frankreich werden sie in großen Mengen verzehrt und das gesegnete Burgund hat eine besondere Zubereitungsweise erfunden, die sich weithin in die Schweiz Bahn gebrochen hat. Ich gehe täglich in Genf auf der Straße von Carouge von meinem Hause bis zur Stadt an einigen Cafés vorüber, in welchen besonders Arbeiter, Landbewohner etc. verkehren und in deren Schaufenstern die Schneckenteller „Escargots à la mode de Bourgogne“ mit ihrem feingehackten, gelblich-weißen und grün gesprenkelten Inhalte niemals fehlen. In der Schweiz gesellt sich zu der Weinbergschnecke die aus dem Süden eingewanderte und wohl durch die Mönche eingeführte Sprenkelschnecke (Helix aspersa), die etwas kleiner, aber von feinerem Geschmacke als die Weinbergschnecke ist. Freiburg im Uechtlande züchtet sie in großen Massen.

Hat man einmal die Alpen überschritten, so tritt eine Menge von Arten mit in den Markt ein, und je weiter man nach dem Süden kommt, desto mehr werden die Landschnecken Volksnahrung. In Neapel und Palermo werden sie ebenso massenhaft vertilgt wie in Barcelona und Granada. Es erregte des guten Schneckenvaters Roßmäßler lebhafteste Verwunderung, daß in den wasserlosen Kalkhügeln der Umgegenden einiger spanischer Städte so ungeheure Mengen von Landschnecken gefunden werden könnten, wie sie dort auf den Markt gebracht wurden.

Im Norden verspeist man nur Schnecken, die sich zum Winterschlafe mit einem porösen Kalkdeckel geschlossen, so zu sagen eingepuppt haben. Dort bereitet man auch die Schneckenleiber, die man nach einigem Absieden aus der Schale gezogen hat, in verschiedener, oft recht künstlicher Weise zu. Im Süden macht man nicht so viel Umstände und wie mir scheint, ißt man sie zu allen Zeiten, gedeckelt oder ungedeckelt. In offenen Kesseln auf der Straße brodeln die Schnecken in einer Brühe, die schwach gesalzen, aber desto mehr gepfeffert ist, und für einen Soldo kann man schon eine Portion haben. Freilich ist sie auch danach, und der Fremde, der einmal davon gekostet hat, versucht es nicht zum zweiten Male, während nach Burgunder Art zubereitete, nämlich mit Eiern, Butter und feinen Kräutern zusammengehackte Schnecken ein sehr schmackhaftes und appetitförderndes Gericht sind.

An den Küsten machen verschiedene Meerschnecken den Landschnecken das Feld streitig. Wer an der Küste der Bretagne, in Nantes, Concarneau oder Brest frühstückt, sieht mit einigem Erstaunen die Kellnerin mit einem Teller voll kleiner, zierlich gewundener Schneckchen herannahen, neben welchen einige große Stecknadeln liegen, deren Spitze hakenförmig umgekrümmt ist. Bis die festeren Speisen aufgetragen werden, vertreibt man sich die Zeit damit, die kleinen Schneckchen mit der Hakennadel aus der Schale zu reißen und hinabzuschlürfen. Manche Esser entwickeln darin eine bewundernswerthe Kunstfertigkeit, aber ich glaube kaum, daß sie sich an den Dingerchen sättigen können, die übrigens recht fein und gewürzig schmecken. Weit verbreitet ist diese eigenthümliche Vorspeise nicht; östlich von Brest, in Morlaix, Roscoff oder Saint-Malo, wo doch dasselbe Schneckchen massenhaft an allen Steinen und Felsen sitzt, die von der Ebbe entblößt werden, habe ich dasselbe weder sammeln noch verzehren sehen.

Aehnlichen Launen begegnet man in Beziehung auf die in allen Meeren außerordentlich häufigen Napfschnecken (Patella), die, fest an Felsen und Steine angesaugt, in den nordischen Gewässern ruhig die Zeit der Ebbe im Trockenen versitzen, um erst bei Fluth wieder aufzuleben. Wenn wir im Sommer von Nizza aus die Bucht von Villafranca kreuzten, um im Schatten der hohen Oelbäume von Beaulieu unseren Sonntag zu verbringen, so zerstreute sich sofort die Gesellschaft, um mit bis zu den Schenkeln aufgestülpten Hosen an den Felsen herumzukrabbeln und Patellen zu suchen. Da die Schnecken sehr fest an den Steinen sitzen, bewaffnete man sich mit Meißeln, um sie loszustoßen. Aber zum Frühstück wurde keine Schnecke gebracht, sie waren alle unmittelbar frisch, wie Austern, hinabgeschluckt worden. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in gleicher Weise wie meine Nizzaner Gefährten für die Napfschnecken hätte begeistern können; der fast kreisrunde, aus strammen Muskelfasern gewebte Fuß, mit dem die Thiere sich festsaugen und der einen großen Theil ihres Körpers ausmacht, schien mir geschmacklos und so hart und fest, daß man sich einen Zahn daran hätte ausbeißen können.

Dieser Meinung müssen auch die Bewohner von Roscoff und Umgegend sein, denn ich sah dort niemals Napfschnecken verzehren, obgleich sie bei der Ebbe in Massen eingebracht wurden. Weiber, Kinder und Greise ziehen dann dem sich zurückziehenden Wasser nach, mit einem Sacke versehen und einem im Winkel gebogenen und mit einem Handgriffe versehenen Eisen bewaffnet, das auf der Außenseite geschärft ist.

Mit einem Stoße wird die Napfschnecke abgelöst; die im Sacke gesammelte Ernte wird heimgebracht, um den Schweinen, ganz besonders aber den Hühnern, Enten und Gänsen oft als alleinige Nahrung vorgeworfen zu werden. Die armen Vögel bekommen davon einen niederträchtigen Thran- und Fischgeschmack, und als wir das folgende Jahr nach Roscoff zurückkehrten zu längerem Aufenthalt, ließen wir zwei Monate vor unserer Ankunft von unserer Wirthin Hühner und Enten aufkaufen und einstweilen mit Kleie, Schrot und Körnern füttern, um ihnen den unseligen Thrangeschmack aus dem Körper zu bringen. Aber fett werden die Thiere bei der Schneckenkost, das läßt sich nicht leugnen, wenn auch das Fett für unseren Gaumen einen schlechten Geschmack hat. Darüber läßt sich aber nicht streiten – wenn der Isländer ranzige Butter der frischen vorzieht, so darf auch der Bewohner der Insel Batz seinen Thrangänsen den Vorzug geben.

Wenn die Bretonen die Napfschnecken nur verzehren, nachdem sie durch verschiedene Assimilationsprozesse in Fleisch warmblütiger Thiere umgesetzt worden sind, so gelten ihnen die Seeohren (Haliotis) als feinster Leckerbissen. Wer kennt nicht diese ohrenförmigen, am schmalen Ende etwas gewundenen, breiten und wenig tiefen, Löffeln ähnlichen Schalen, deren innerste Lagen einen so prachtvollen Perlmutterglanz zeigen und die auf der Außenseite eine Reihe von Löchern tragen, durch welche das Wasser zu den Kiemen gelangen kann, auch wenn das Thier fest an den Felsen angesaugt ist? Die Schale wird so groß und größer als eine ausgestreckte Hand und die ganze Fläche wird von einer riesigen, festen und dicken Fußscheibe eingenommen. Der Fuß ist demjenigen der Napfschnecke ähnlich, von der übrigens das Seeohr in seiner sonstigen Bildung sehr abweicht.

Die Seeohren sind nur bei den tiefsten Ebben zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen zugänglich, bei gewöhnlichen Ebben bleiben sie immerhin, in der Umgegend von Roscoff wenigstens, von mehreren Metern Wasser bedeckt und können nur mit dem Schleppnetz gefischt werden. Selbst bei den tiefen Ebben gehen nur die besten Kenner des Seegrundes auf den Fang der „Ormeaux“ aus; man kann sehr leicht in den tiefen Löchern, wo die Muscheln hausen, durch die Fluth überrascht und von dem Festlande abgeschnitten werden. Schiffer, Matrosen und Küstenbewohner können aber meist nicht schwimmen und wollen es auch gewöhnlich nicht [779] lernen; es verlängere bei Unglücksfällen doch nur den Todeskampf, meinen sie, und könne von dem Ertrinken nicht erretten.

Die Männer sind also sehr stolz darauf, wenn sie von einer großen Ebbe ein Dutzend Ormeaux nach Hause bringen können, die Weiber aber schneiden meist ein schiefes Gesicht, denn ihnen fällt die Zubereitung zur Last. Das Thier wird aus der Schale herausgenommen und der ganze Körper entfernt, so daß nur die Fußscheibe übrig bleibt, die etwa die Größe eines Handtellers und einen Centimeter Dicke hat. Wollte man diese feste, im Tobeskrampfe erstarrte Muskelscheibe ohne weitere Vorbereitung kochen oder schmoren, so würde sie nicht weicher werden als eine Schuhsohle. Unsere Wirthin klopfte die Scheiben stundenlang auf einem platten Kiesel mit einem Hammer; dauerte ihr dieser Zeitvertreib zu lange, so schickte sie die Scheiben kurzer Hand in die Schmiede, wo sie auf dem Ambos bearbeitet wurden. Dann wurden sie gekocht, gebraten, geschmort, und wenn sie mit einer Brühe aufgetragen wurden, die gewürzt war wie eine Schildkrötensuppe und eine nicht minder kunstreiche Zusammensetzung zeigte, so schmeckten die Ormeaux etwa wie weicher Kautschuk ohne besonderen eigenen Charakter.

Kautschuk sind auch die „Calamaje“ der Italiener, die Fangarme und Muskelmäntel der Pulpen, Kraken, Tintenfische und Kalmare, die auf allen Märkten an der Seeküste feilgeboten und so lange als frisch gekauft werden, als das schillernde, wechselnde Farbenspiel ihrer Haut anhält. Man kann in Neapel in Gasthäusern und Restaurants keine Schüssel „frittura“ erhalten, mögen es nun Fische oder Akazienblüthen sein, die nicht mit „Calamaje“ ringsum garnirt wäre. Besonders geschätzt sind die Arme junger Sepien und Kalmare, die etwa die Länge und Dicke eines tüchtigen Bleistifts haben. Die Thiere werden an allen Küsten bis hoch in den Norden hinauf in Menge gefangen; in ihrer blinden Wuth stürzen sie sich auf bunte und weiße Lappen, die man an einer Leine hin- und herzieht, setzen sich mit den Hunderten von Saugnäpfen an ihren Armen fest und werden heraufgezogen, ehe sie sich vollständig wieder losmachen können. Ein Messerstich in das Genick hinter den Augen tödtet sie nur halb, aber er reicht doch hin, um das Herausnehmen der Eingeweide aus dem Sacke des Mantels zu ermöglichen. Man wirft die brauchbaren Muskeltheile, Mantel und Arme, in kochendes Wasser, um die Haut abzuziehen, und siedet sie dann in heißem Oele mit Fischen oder anderen Bestandtheilen der frittura ab. Kautschuk, wie schon bemerkt, und oft sogar recht zäher, an dem man die Schärfe der Zähne erproben kann! Kein selbständiger Geschmack, nur derjenige, welchen die Zubereitung giebt! Aber ich habe Leute gekannt, welche für Calamaje fritte schwärmten und sie sogar den feinsten Fischen vorzogen. Ich glaube bemerkt zu haben, daß diese Liebhaber meist junge Leute mit trefflichen Zähnen und einem beneidenswerthen Appetite waren.