ADB:Wolffradt, Gustav Anton Graf von
Ludw. Gotthard Kosegarten. Da er fast ganz ohne den Verkehr mit Altersgenossen aufwuchs, so entwickelten sich bei ihm ein reger Sinn für ernste Beschäftigung, ein frühreifes Wesen und ein Hang zur Einsamkeit. Im September 1779 bezog er die Universität Göttingen zum Studium der Rechtswissenschaft, das er hier vier Jahre lang hauptsächlich unter der Leitung der Professoren Georg Ludw. Böhmer und J. St. Pütter mit gleichem Eifer wie Erfolge betrieb. Am 26. Mai 1783 vertheidigte er unter Böhmer’s Vorsitze eine von ihm verfaßte Arbeit: „Dissertatio juridica sistens theoriam generalem de adquisitione fructuum“ (Göttingen, Dieterich 1783). Durch Pütter wurde W. dem Herzoge Karl Wilhelm Ferdinand zu Braunschweig und Lüneburg empfohlen, der ihn in demselben Jahre (28. September 1783) zum Hofrathe bei der Justizkanzlei in Wolfenbüttel ernannte. Nachdem er hier ein paar Proberelationen gehalten und am 30. Januar 1784 ein Examen sehr gut bestanden hatte, wurde er am 26. Februar d. J. als Hofrath in das Collegium eingeführt. Er gewann in Wolfenbüttel bald freundschaftliche Beziehungen und vermählte sich hier am 15. Mai 1787 mit Elisabeth v. Knuth, der einzigen Tochter des Consistorialpräsidenten v. Knuth. Dennoch folgte er etwa ein Jahr darauf einem Rufe in die Heimath, wo er zum Assessor bei dem kgl. schwedischen Tribunale in Wismar ernannt wurde. Der Herzog hatte ihm unterm 8. April 1788 nur ungern den Abschied ertheilt, und als 1801 die erste Stelle der Justizkanzlei frei wurde, berief er W., der inzwischen zum Oberappellationsrath befördert war, als Präsident jener Behörde wieder nach Wolfenbüttel zurück, wo er am 11. December 1801 sein neues Amt antrat. Der Herzog hielt große Stücke auf ihn und berief ihn daher unterm 17. Februar 1805 als wirklichen Geheimrath nach Braunschweig in das Ministerium, wo er das Justizfach zu verwalten, daneben aber, losgelöst von dem Ministerium und nur unter der Aufsicht des Fürsten, die Finanzsachen zu bearbeiten hatte. Dies that er zu voller Zufriedenheit des Herzogs, der in den letzten Jahren keinem Beamten ein größeres Vertrauen schenkte als ihm. Als am 20. September 1806 der Erbprinz [65] gestorben war, bereitete W., während Karl Wilhelm Ferdinand als Oberbefehlshaber des preußischen Heeres im Felde stand, für dessen jüngsten Sohn Friedrich Wilhelm die Thronfolge vor, indem er die beiden älteren regierungsunfähigen Prinzen zum Verzicht auf die Succession bewog. Auf die Kunde von der Verwundung des Herzogs bei Auerstädt reiste W. ihm bis Homburg entgegen; am 21. October vollzog der Fürst die von W. inbetreff der Thronfolge entworfenen Urkunden. Als er dann seine Flucht vor den Franzosen fortsetzen mußte, wollte W. ihn begleiten, aber der Herzog machte ihm zur Pflicht, bei seinem Lande zu bleiben. Er versprach dies und hat sein Wort, das dem todtwunden Fürsten eine wahre Beruhigung war, treu gehalten. Das Herzogthum kam zunächst in französische Verwaltung, doch setzte das alte Staatsministerium unter einem französischen Gouverneur vorläufig die Geschäfte in alter Weise fort. W. war die Seele dieser Regierung und suchte nach Kräften die an das Land von den fremden Gewalthabern gestellten Anforderungen so erträglich wie möglich zu gestalten. Er stand auch an der Spitze der braunschweigischen Deputation, die am 9. November in Berlin in einer Audienz bei Napoleon sich vergeblich bemühte, dem Herzogthume die Selbständigkeit und die angestammte Dynastie zu erhalten. Mit dem Herzoge Friedrich Wilhelm blieb W., angeblich wegen Oelser Angelegenheiten, unter stillschweigender Zustimmung der französischen Befehlshaber in Verbindung. Nach dem Frieden von Tilsit, der den Herzog jeder Aussicht auf das Herzogthum beraubte, traf er mit ihm noch einmal in Celle zusammen, wo er seines Dienstes entlassen und autorisirt wurde, die Gemüther aller derjenigen zu beruhigen, die sich durch ihren Eid noch dem Hause Braunschweig verpflichtet fühlten. Nach Errichtung des Königreichs Westfalen gehörte W. zu den ersten Mitgliedern des Staatsraths, die am 11. December 1807 ernannt wurden; noch am 31. desselben Monats ward er hier Präsident der Section für die Justiz und das Innere. Gerade ein Jahr später übertrug ihm der König das Ministerium des Innern, das er bis dicht vor das Ende des westfälischen Königthums geführt hat. W. hat ohne Hintergedanken und selbstsüchtige Zwecke dem neuen Herrscher treu und aufrichtig gedient. Dieser achtete ihn, aber er hatte zu ihm weder Zuneigung noch volles Vertrauen. Deshalb hat W., der zweifellos ein sehr tüchtiger Geschäftsmann war, dem aber höhere staatsmännische Begabung und diplomatische Gewandtheit entschieden fehlten, auch keinen großen Einfluß auf den lebhaften jugendlichen Fürsten ausgeübt. Wenn W. auch infolge seiner Stellung unterm 9. Januar 1810 in den Grafenstand erhoben (Vollziehung des förmlichen Patents vom 5. Novbr. 1812) und am 14. November 1810 zum Commandeur des Ordens der westfälischen Krone ernannt wurde, so hat er doch streng rechtlich gesinnt andere Wohlthaten vom Könige weder gesucht noch erhalten. Er galt nicht mit Unrecht für einen Anhänger des Alten, der bei Annahme neuer Ideen eine etwas schwerfällige Bedächtigkeit zeigte und alles, was nicht nach der Verfassung geändert werden mußte, gern bewahrte. So behielt er z. B. den Gebrauch der deutschen Sprache in seinem Amtsbereiche nach Möglichkeit bei. Diese Verhältnisse erschwerten ihm oft seine Geschäftsführung und machten ihn unzufrieden mit sich selbst; er fühlte sich nicht so sehr an Jahren, wie im Gemüthe zu alt für seine Stellung. Auch die enge Verbindung, in der seine Geschäfte mit dem Hofleben standen, war ihm zuwider; ebenso wenig war letzteres seiner Frau sympathisch. So sehnten sie sich beide inmitten des Glanzes von Kassel nach einem behaglichen zurückgezogenen Leben mit den alten Freunden in Wolfenbüttel. Dennoch hielt er in seiner Stellung aus, weil er fürchten mußte, daß sonst ein Franzose oder Halbfranzose an seinen Platz gesetzt werden würde, und nicht zum wenigsten auch deshalb, [66] weil er nur so seinem zweiten Vaterlande Braunschweig, dem er treue Anhänglichkeit bewahrte, sich nützlich erweisen zu können glaubte. Das hat er stets nach besten Kräften gethan. Er suchte, was irgend möglich war, für Braunschweig zu retten; so hat er sich auch um die Erhaltung der Universität Helmstedt vergeblich bemüht, und eine große Freude war es ihm stets, wenn er Braunschweiger im Staatsdienste befördern konnte. Auch trug W. keine Scheu für mißliebige Persönlichkeiten bei dem Könige offen einzutreten. Er nahm den im Verdachte patriotischer Gesinnung stehenden Grafen v. d. Schulenburg-Wolfsburg in seinen Schutz, und als der König den Präfecten Henneberg, den jungen Eschenburg und v. Marenholtz, die dem Herzoge Friedrich Wilhelm im J. 1809 in Braunschweig, um ihn zu schnellem Abzuge zu bewegen, die Stellung der feindlichen Truppen verrathen hatten, auf das höchste erzürnt vor ein Kriegsgericht stellen wollte, wo sie unfehlbar zum Tode verurtheilt worden wären, hat W. durch zweistündige Verhandlung mit dem Könige ihnen das Leben gerettet. Um so mehr kann es wunder nehmen, daß er damals gegen den Herzog Friedrich Wilhelm eine so gehässige Haltung einnahm. Daß W. das Verfolgungsdecret gegen den Herzog unterschrieben, wurde ihm schon derzeit von nichtbraunschweigischen Beamten in Kassel ernstlich verdacht. Hauptsächlich zum Vorwurfe wurde ihm später sein in den Braunschweig. Anzeigen (1809, Nr. 61) abgedrucktes Schreiben an den Präfecten Henneberg vom 5. Aug. 1809 gemacht, allerdings nur von solchen, die nicht wußten, daß ihm dies der König in die Feder dictirte, unmittelbar nachdem er für Henneberg und die Andern die Gnade des Königs erwirkt hatte. Dann verdrossen auch die wegwerfenden Worte, mit denen W. in der Ständeversammlung am 2. Februar 1810 des heldenmüthigen Zuges des Herzogs gedachte: „Kühne Abenteurer suchten das Elend des dreißigjährigen Krieges in unseren Zeiten zu erneuern“. Um solche Aeußerungen zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß das Verhältniß Friedrich Wilhelm’s zu seinem Vater, der gegen den Sohn sehr streng war und geringes Zutrauen in ihn setzte, kein sehr gutes, zeitweise geradezu ein gespanntes war. So konnte es leicht kommen, daß der Sohn gegen den Vertrauten des Vaters, in dem er einen ihm gesetzten Führer und Vormund witterte, eine gewisse Voreingenommenheit faßte, die vielleicht auch durch das Verhalten jenes selbst gefördert wurde. Jedenfalls war die Stellung Wolffradt’s zu dem jungen Fürsten, wol auch veranlaßt durch die Verschiedenheit der Charaktere, von anfang an keine gute. Es kam hinzu, daß W. in den Bestrebungen des Herzogs eine zwecklose Beeinträchtigung der westfälischen Interessen erblickte, denen er sich ganz ergeben hatte. Denn er gehörte, wie Reinhard sagte, zu denen, qui pour faire aimer le gouvernement westphalien sacrifieraient tout autre interêt. Gerade das mochte mit dazu beitragen, daß er trotz oder vielleicht besser wegen seiner Anhänglichkeit an Braunschweig hier gegen ein ihm persönlich nicht sympathisches Mitglied des braunschweigischen Fürstenhauses, das seine Kreise störte, um so schroffer und rücksichtsloser vorging. Sonst wurde ihm im allgemeinen vielmehr zu große Milde vorgeworfen. Als im J. 1812 in Braunschweig mancherlei Mißstimmungen im Volke laut wurden, ward er für diesen schlechten Geist in schärfster Weise von dem Könige verantwortlich gemacht. Er aber war und blieb der loyale Beamte, der er von Anfang an gewesen. Das zeigte sich auch noch beim Zusammenbruch des westfälischen Königthums. Als Czernichew am 28. Septbr. 1813 Kassel überfiel, reiste W. mit seiner Gattin nach Wesel ab, erhielt dort aber vom Könige den Befehl, nach Kassel zurückzugehen. Hier forderte der Justizminister Siméon am 12. October seinen Abschied; am folgenden Tage wurde sein Ressort W. übertragen, während das Ministerium des Innern der Finanzminister Malchus mit übernahm. Es geschah dies wol auch deshalb, [67] weil W. sich den übereilten Anordnungen des Generals Allix widersetzt hatte. Am Morgen des 26. October folgte die endgültige Abreise Jerome’s von Kassel, dem W. mit seiner Gattin mittags nachfolgte. Am 2. November trafen König und Minister in Köln zusammen. Nachdem W. dann längere Zeit in Aachen, Brüssel und Compiegne verweilt hatte, ging er Mitte Januar 1814 mit dem Könige nach Paris, wo er auch zurückblieb, als dieser die Stadt verließ. Er erhielt hier die Nachricht vom Tode seines Schwiegervaters v. Knuth († 25. Jan. 1814), in dessen behaglichem Hause in Wolfenbüttel er stets gehofft hatte, sein Alter in Ruhe zu verleben. Jetzt trug er dennoch Bedenken dorthin zu gehen. Die Stimmung des Volkes war gegen manche ehemals westfälische Beamte und nach einigen Anzeichen auch gegen ihn eine sehr gereizte. Es waren Spottverse gegen ihn verbreitet; so in dem Gedichte „Der Abschied von Cassel“, das sein früherer College, der ehemals westfälische Finanzminister v. Bülow verfaßte, mit dem er früher sehr schlecht gestanden hatte. Der Herzog Friedrich Wilhelm hatte ihm allerdings in ehrendem Gedächtniß an seinen Vater und die Verdienste, die er unter dessen Regierung um das Braunschweiger Land sich erworben habe, den Wunsch genehmigt, als Privatmann in seinen Landen zu leben. Vielleicht hatte er mehr erwartet. Seine Bitte, dem Herzoge in Paris aufwarten zu dürfen, wurde ihm in höflicher Form abgeschlagen. So hielten ihn denn Unentschlossenheit, Krankheiten von ihm und seiner Frau u. a. bis zur Rückkehr Napoleon’s in Paris fest. Erst am 5. Mai 1815 kam er in Wolfenbüttel an, gerade in den Tagen, da Herzog Friedrich Wilhelm seinen Truppen zum Kampfe gegen Napoleon nachfolgte, aus dem er nicht heimkehren sollte. Man mißtraute W., zumal in dieser Zeit, verständigte ihn unter der Hand, daß er die Erledigung seiner Erbschaftsangelegenheiten beschleunigen und seinen Aufenthalt auf einige Tage beschränken möchte. Er erlebte allerlei Verdrießlichkeiten; ein hitzköpfiger Officier forderte stürmisch eine Ehrenerklärung des Officiercorps, daß er 1809 „Bande“ geheißen habe, oder Genugthuung mit der Waffe. Wurde dieser auch vor weiteren Zudringlichkeiten ernstlich gewarnt, W. Schutz zugesagt, so schlug ihm das Geheimrathscollegium am 9. Mai – der Herzog war am 6. Mai bereits abgereist – eine Verlängerung seines Aufenthalts doch ab. Am 10. d. M. reiste er aus Wolfenbüttel fort. Er hat sich dann in seinem Geburtsorte Bergen niedergelassen, wo er in stiller Zurückgezogenheit in Verkehr mit einigen Freunden, in eifriger Beschäftigung mit den Wissenschaften und in edler Wohlthätigkeit den Rest seiner Tage verlebte und in Briefen an entfernte Freunde gern von seinen Lebensschicksalen erzählte, wobei seine unverminderte Anhänglichkeit an den Herzog Karl Wilhelm Ferdinand und sein stets steigender Widerwille gegen den Herzog Friedrich Wilhelm vor allem zum Ausdrucke kamen. Nach langem Krankenlager ist er am 13. Januar 1833 gestorben. Seine Frau, die ihm in allen Lebenslagen die treueste Gefährtin war, ist ihm am 27. Juli 1836 ebenfalls zu Bergen im Tode nachgefolgt. Kinder waren ihrer Ehe nicht erwachsen.
Wolffradt: Gustav Anton von W., Staatsmann, wurde am 1. September 1762 zu Bergen auf der Insel Rügen geboren. Sein Vater Karl Gustav v. W., Sohn eines schwedischen Obersten, war 1760–85 Landvogt der damals noch schwedischen Insel († 1794); seine Mutter war eine geborene v. Bagevitz, Tochter des Hofraths v. B. († 1789). Gustav Anton war der einzige Sohn der Ehe, aus der nur noch eine zwei Jahre jüngere Tochter stammte. Den Unterricht erhielt er durch Hauslehrer, zuletzt (seit Michaelis 1777) durch den Dichter- Vgl. außer den allgemeinen Werken über die Geschichte Westfalens von Goecke, Kleinschmidt, Thimme u. a. den Aufsatz F. K. von Strombeck’s in den Zeitgenossen, 3. Reihe, Bd. IV, S. 87–90 (wiederholt: Vaterl. Archiv f. Hann.-Br. Gesch. Jahrg. 1833, S. 37–44) und die Denkwürdigkeiten e. ehemal. Braunschw. Ministers von A. P(ütter). in der Deutschen Rundschau Bd. 45, S. 376–405 und Bd. 46, S. 52–71. – Herzogl. Landeshauptarchiv in Wolfenbüttel.