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Artikel „Willkomm, Ernst Adolf“ von Max Mendheim in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 296–298, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Willkomm,_Ernst_Adolf&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 18:19 Uhr UTC)
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Willkomm: Ernst Adolf W., Schriftsteller, wurde am 10. Februar 1810 als Sohn des Pfarrers Karl Gottlob W. in Herwigsdorf bei Zittau geboren. In seine ersten Kinderjahre, von denen er selbst interessante Mittheilungen gibt, drang noch der Lärm der Napoleonischen Kriege hinein, der 1813 sogar sein Heimathdorf berührte und die Familie zwang, vorübergehend in Zittau bei den Großeltern mütterlicherseits Schutz zu suchen. Den ersten Unterricht ertheilte ihm und seinem um zwei Jahre älteren Bruder der Vater selbst, ein ernster, schweigsamer, pflichttreuer Mann und humaner Geistlicher, durch dessen düstern Ernst der nervöse Knabe leicht eingeschüchtert wurde, während er sich an die Mutter, eine heitere, joviale Natur, die oft Geschichten erzählte, leichter anschloß. Während der Bruder mit Fleiß und Ausdauer die Schriftsteller des Alterthums studirte, wurde Ernst wenig von diesen Sachen gefesselt und machte sich lieber mit dem landwirthschaftlichen Betriebe vertraut. Aber er war von Natur schwächlich und nervös, sodaß die bäuerlichen Erzählungen von Hexen, Gespenstern und anderem Spuk stark auf seine Einbildungskraft wirkten und ihm sogar ein heftiges Nervenfieber zuzogen, dessen Folgen, Nervenschwäche und Schlaflosigkeit, ihn körperlich sehr herunterbrachten. Ostern 1822 wurde er in die Untertertia des Gymnasiums zu Zittau aufgenommen und bezog 1830 die Universität Leipzig, um sich dem Studium der Rechte zu widmen. Auch hier, wo W. mit den Schriftstellern des jungen Deutschlands, besonders mit Herloßsohn, Böttger, Gutzkow und Kühne in engeren Verkehr trat, war er noch sehr nervenleidend, zeitweise bis zum Somnambulismus. Als ihn die Rechtswissenschaft nicht mehr befriedigte, wandte er sich der Philosophie und Aesthetik zu und begann auch schon in diesen Jahren seine schriftstellerische Thätigkeit. Als deren erste Früchte sind zu nennen: die Novelle „Julius Kühn“ (2 Bücher, 1833), die kleine Gedichtsammlung mit dem Titel „Buch der Küsse“ (1834), in der 33 Küsse, vom Lebenskuß bis zum Todeskuß, in sentimentaler Reflexion, nicht ohne Phantasie, Decenz und Anmuth im Ausdruck besungen werden, das [297] fünfactige Trauerspiel „Herzog Bernhard von Weimar“ (1834), das von den Zeitgenossen als das Werk eines frischen, selbständigen Talentes gerühmt wird, wie auch seine blühende, bilderreiche Sprache besondere Anerkennung findet, und das aus drei fünfactigen Theilen bestehende dramatische Gedicht „Erich XIV., König von Schweden“ (1834), eine offenbar viel zu breit angelegte Dichtung, die zwar einige echt dramatische Scenen voll Kraft und guter Wirkung hat, deren Verse, fünffüßige Jamben, aus einer reichen Dichterader geflossen, aber doch oft recht holpricht sind, und deren Sprache, obgleich prägnant und kräftig, etwas geschraubtes hat, sodaß sie selbst schon damals als zu sententiös empfunden wurde.

W. blieb auch nach Vollendung seiner Studien zunächst in Leipzig und gab hier von 1837–39 mit Alexander Fischer (s. A. D. B. VII, 49) die „Jahrbücher für Drama, Dramaturgie und Theater“ heraus, für die er selbst einige warme und scharf geschriebene dramaturgische Aufsätze und Kritiken sowie einige Scenen aus einer historischen Tragödie „Heinrich der Finkler“ lieferte. Nachdem W. in den Jahren 1845 und 1846 Italien besucht hatte, wovon seine „Italienischen Nächte“ (2 Bde., 1847) Zeugniß ablegen, ging er nach Norddeutschland und nahm 1849 als Berichterstatter am Feldzug in Schleswig theil. Noch in demselben Jahre übernahm er dann die Leitung der „Lübecker Zeitung“, von der er jedoch bereits 1852 wieder zurücktrat. In Lübeck hatte er sich auch am 1. October 1850 mit Anna Marie Christine Rosendahl aus Flensburg vermählt, einer trefflichen Frau, die sich mit einigen Jugendschriften litterarisch versucht hat und ihm vier Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen schenkte. 1852 siedelte W. nach Hamburg über und war hier von 1853–57 für den unterhaltenden Theil der Zeitschrift „Jahreszeiten“ und das Feuilleton des „Hamburgischen Correspondenten“ thätig. Eine sichere, feste Stellung anzunehmen war ihm bei seinem starren, eigenwilligen Charakter unmöglich; er sträubte sich gegen jede bindende Verpflichtung und konnte sich keinem fremden Willen beugen. So kam es, daß er, um die schweren pecuniären Sorgen, die ihn zu Zeiten unsäglich drückten, einigermaßen zu lindern, sein Dichtertalent nicht allein der Kunst widmen konnte, sondern zum Broterwerb ausnutzen mußte und sich gezwungen sah, ohne große Scrupel rasch und viel zu produciren. Diese Sorgen und quälendes Heimweh veranlaßten ihn einige Jahre später in seine Heimath zurückzukehren, wo er sich nun in Bernstadt niederließ, bis die spießbürgerlichen Verhältnisse dieser kleinen Landstadt den hochstrebenden Mann so gewaltig niederdrückten, daß er sich entschloß, wieder nach Hamburg zu ziehen, wo er sich seit 1859 durch Aufnahme von Pensionären in sein Haus ein auskömmliches Einkommen sicherte. Er wurde Hamburger Bürger und lebte sich dort so ein, daß er förmlich für das Leben und Treiben der mächtigen Hansestadt schwärmte, wie denn auch einige seiner besten Romane („Die Familie Ammer“ und „Rheder und Matrose“) diesen Eindrücken ihre Entstehung verdanken. Nach dem Tode seiner Gattin, die 1880 starb, zog er zu seiner älteren Schwester nach Zittau. Wenn er auch, außer den nur langsam fortschreitenden, sehr ausführlichen, aber auch viel culturgeschichtlich Interessantes enthaltenden „Jugenderinnerungen“ (erschienen als Fragment Leipzig 1887) in den späteren Jahren nichts mehr geschrieben hat, so war doch der stattliche Mann mit dem lang herabwallenden, weißen Barte und der scharf gebogenen Nase bis zu seiner letzten Stunde geistig frisch und ein anregender Gesellschafter, der sich freilich als eingefleischter Republikaner mit dem Gange der deutschen Politik nie recht befreunden konnte. Er starb in Zittau am 24. Mai 1886.

In Willkomm’s litterarischer Thätigkeit, die in mehr als 100 Bänden zum Ausdrucke gekommen ist, kann man nicht unschwer fünf Perioden unterscheiden. Der ersten gehören die schon genannten Jugendwerke an, von denen besonders [298] die beiden Dramen ihn als Nachahmer unserer classischen Dichter und Shakespeare’s zeigen; die zweite wird vornehmlich durch zwei Werke, „Die Europamüden“ (2 Bde., 1838) und „Lord Byron“ (3 Bde., 1839) charakterisirt. In jenem reflectirt er mit einem Ernste, der oft dem Lächerlichen sehr nahe ist, über die extremsten Forderungen des Jungen Deutschland, redet von mißverstandener Civilisation, verkannter Glaubenslehre und boshaft verdrehten Menschenrechten und schafft Gestalten, die zum Theil reine Caricaturen verständiger Menschen sind, überspannte Phantasten, deren Ueberspanntheit in einem übertriebenen Pessimismus wurzelt und alles Heil für die Zukunft Europas von Amerika erhofft. In seiner Nachschrift sagt er selbst darüber: „Ich habe ein Bild großer Lebensschmerzen, kein Kunstwerk schreiben wollen“. In „Lord Byron“, einem Lebensbilde des Dichters in einzelnen Novellen, zeigt sich, wenigstens in seinen besten Theilen, die mit glühender Phantasie geschrieben sind, wie sonst fast nirgends bei W. die Fähigkeit, kurz und scharf zu charakterisiren, die Sprache ist oft schwungvoll und bilderreich, während sich sonst bei ihm eher etwas Trockenes und Nüchternes bemerkbar macht. Sind diese beiden Werke in ihrem Gehalte, ihrer Darstellung und Stilisirung auch so gewaltig von einander verschieden, so gehören sie doch beide jener Zeit und Lebensauffassung an, die W. mit dem Jungen Deutschland verband. In den vierziger Jahren hat er sich dann an historische und sociale Stoffe gewagt, aber auch hier durch breite Reflexionen das künstlerische Gefüge seiner Erzählungen stark beeinträchtigt. Besseres leistete er in dieser Zeit mit seinen Skizzen aus dem Volksleben (wie „Grenzer, Narren und Lotsen“, „Wanderungen an der Nord- und Ostsee“, „Im Walde und am Gestade“) und mit seinen „Sagen und Märchen aus der Oberlausitz“ (1845), die in einfacher, schlichter Sprache erzählt sind, allerdings zuweilen auch durch die romanartigen Ausschmückungen aus Willkomm’s eigener Phantasie nicht ganz den natürlichen, volksthümlichen Charakter tragen wie z. B. die Grimmschen Märchen. Seiner folgenden Schaffensperiode gehören dann die schon erwähnten Hamburger Romane an, die zwar zu den besten Erzeugnissen seiner Muse zu rechnen sind, spannende Handlung und eine gewisse realistische Charakterisirung der Personen aufweisen, aber doch auch wieder an seinem unverbesserlichen Fehler, zu breiter Ausführung und zu weitläufigen Betrachtungen kranken. Und daran leiden ebenso auch die Romane seiner letzten dichterischen Thätigkeit, die wol zu seinen schwächsten gehören und den allgemeinen Typus der Romanwaare der sechziger Jahre widerspiegeln, bei denen eine bewegte und verwickelte Handlung die Hauptsache ist und auch vom Dichter als Hauptsache angesehen wird, während er mit den Mitteln, die Handlung spannend zu erhalten nicht eben wählerisch ist, das Unwahrscheinlichste als das Effectvollste herbeizieht und die Charaktere meist höchst oberflächlich abthut. Man kann bedauern, daß W. sich in seinem Schaffen nicht zu beschränken wußte oder vielmehr sich gezwungen sah, zum Broterwerb möglichst viel zu schreiben; denn er hatte wol eine tüchtige Anlage, etwas besseres zu leisten. Eine vollständige Aufzeichnung seiner Schriften, denen nur noch ein „Handbuch für Reisende im Riesengebirge“ (1853) und die Novelle „Das gefährliche Vielliebchen“ (1879) hinzuzufügen sind, gibt die 4. Auflage von Brümmer’s Dichterlexikon.

Für viele der hier mitgetheilten Einzelheiten aus seinem Leben bin ich verschiedenen Verwandten Willkomm’s zu Danke verpflichtet.