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Artikel „Weiß, Joß“ von Franz Votteler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 41 (1896), S. 575–577, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wei%C3%9F,_Jo%C3%9F&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 07:20 Uhr UTC)
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Weiß: Joß (Jodocus; er selbst schreibt fast immer Joß, auch Jobst) W. aus Reutlingen, Bürgermeister seiner Vaterstadt in der Reformationszeit, nimmt neben dem Reformator Matthäus Alber eine ähnliche Stellung ein, wie in Straßburg Jakob Sturm neben Martin Butzer. Seiner umsichtigen Leitung, seinem einträchtigen Zusammenwirken mit Alber ist es sicherlich in hohem Maße zuzuschreiben, daß die Stadt ruhig und besonnen auf der einmal eingeschlagenen Bahn der Reformation vorwärtsschritt; daß sie ebenso kräftig als maßvoll die Ansprüche der Katholiken zurückwies und sich nicht einschüchtern ließ durch die Drohungen des Abts von Königsbronn und die Warnungen des Schwäbischen Bundes, durch Kirchenbann und Reichsacht, durch die Absperrungsmaßregeln der österreichischen Regierung in Stuttgart; daß sie den aufrührerischen Bauern ihre Thore verschloß und den Wiedertäufern wehrte sich einzunisten; daß sie am Ende des dritten und Anfang des vierten Jahrzehnts sich eifrig an den Bündnißbestrebungen der Evangelischen betheiligte, und daß Reutlingen so eine weit über seine Macht hinausreichende Bedeutung für jene Zeit erlangte. – Nach der Tradition gehörte W. zur angesehenen Zunft der Weingärtner; und damit [576] stimmt überein, wenn er vom Augsburger Reichstag aus am 9. September den Rath bittet, er möge einen andern an seine Statt verordnen, „darmit ich auch zu meinem Handel kommen könne, in den Herbst, denn es liegt mir vill daran“ (von Frankfurt aus am 9. März 1539: „damit ich meinen Handel und Buw auch nach notturfft kundte versehen“). Frühzeitig erscheint er als Vertrauensmann der Gemeinde. Im J. 1523 unterhandelt er, ohne Zweifel in diesem wie in den beiden folgenden Jahren erster Zunftmeister und Schultheiß, neben bewährten älteren Männern wie den beiden Altbürgermeistern Jakob Becht und Michel Decker mit dem Vertreter des Klosters Königsbronn, dem Ulmer Altbürgermeister Matthäus Kraft wegen einer Besoldungserhöhung des Stadtpfarrers Wölflin. Als im Mai 1524 die Gemeinde, mißtrauisch geworden gegen den Rath, von ihm verlangt, er solle in Sachen ihres Predigers mit dem bischöflichen Vicar nicht weiter verhandeln, bis die ganze Angelegenheit den andern Städten und dem Bund vorgelegt worden, wird vom Rath Jakob Scherer (wahrscheinlich erster Bürgermeister) und Joß Weiß „zur Botschaft“ (an die Städte und den Bund) verordnet (St. A.). 1525 ist er mit Kaspar Knapp Spendenpfleger. Er sucht die Freilassung des lutherischen Pfarrers Epstlin von Hausen, eines Reutlinger „Stadtkinds“ auszuwirken, den der Vogt von Urach, Dietrich Spät, gefänglich eingezogen hatte unter dem Vorwand, daß er mit den Bauern im Einvernehmen gestanden, und bringt die Beschwerde der Stadt an den Bundestag in Ulm (St. A.). Der Pfarrer wurde jedoch nach Stuttgart geschleppt und mit einem andern lutherischen Pfarrer im August jenes Jahres zwischen Stuttgart und Cannstatt gehängt. Im September wohnt er mit Paulus Klein als Gesandter der Stadt dem Tag in Speyer an, wo die Reichsstädte an den Kaiser die Bitte um eine einheitliche Ordnung der Ceremonien (im Sinn der Neuerung) richteten (R. A.). 1527 Richter, vertritt er im folgenden Jahre als erster Bürgermeister mit Peter Klöwer Reutlingen in Eßlingen (26. Juli), wo die Städte muthig von Ferdinand die Aufrechterhaltung des günstigen Speyer’schen Abschieds begehren wollten (R. A.). Fortan ist er 14 Jahre lang ununterbrochen einer der drei Bürgermeister, auch jedenfalls des öfteren Amts- (regierender) Bürgermeister; und fast auf allen Städte-, Bundes- und Reichstagen, welche die Stadt durch einen eigenen Abgesandten beschickt, begegnet uns sein Name. So auf dem Reichstag in Speyer 1529, wo er die Protestation unterzeichnet, und auf dem Städtetag in Biberach Decbr. 1529. 1530 nach Augsburg mit der Weisung gesandt „ohne allen Umschweif in Religionssachen an Chursachsen und Nürnberg sich zu halten“ unterschreibt er die berühmte Augustana, wie auch das Schriftstück, mit dem im Namen der evangelischen Stände der sächsische Kanzler Brück die vom Kaiser am 7. September den Protestanten gemachten Vorwürfe erwiderte. Trotz des kaiserlichen Verbots verläßt er am 24. September Augsburg: seine Mitbürger senden am 22. October den Nürnbergern ein von wahrem Märtyrermuth eingegebenes Schreiben, das die Bewunderung der Glaubensgenossen erregte, und die Gemeinde lehnt am 24. November mit erdrückender Mehrheit (gegen 23 Stimmen) den Reichstagsabschied ab (M. B.), obwol Ferdinand der Stadt das gleiche Schicksal in Aussicht stellte, das ihr elf Jahre früher Herzog Ulrich bereitet hatte. – W. vertritt Reutlingen auf den Städtetagen in Ulm Februar und Mai 1531, in Schmalkalden wahrscheinlich aber nicht ganz sicher December 1530, sodann März 1531, in Frankfurt December 1531, in Ulm März 1532, bei den Friedensverhandlungen in Schweinfurt und Nürnberg April bis Juni 1532, bei dem evangelischen Städtetag in Ulm November 1532 und dem Schwäbischen Bundestag in Augsburg December 1532, die beide die Auflösung des Schwäbischen Bundes vorbereiteten, sehr wahrscheinlich auch auf dem Städtetag in Eßlingen März 1535, bei den langwierigen [577] Verhandlungen in Frankfurt Februar bis April 1539, die zum Abschluß des Frankfurter Anstands führten: „ich main“, – schließt er seinen Brief vom 8. April – „mir haben die marterwochen gehapt“.

In Frankfurt wurde W. in den geheimen Ausschuß gewählt, ein Beweis, welche Anerkennung der tüchtige Mann auch außerhalb der Mauern seiner Vaterstadt fand. Seine Mitbürger schenkten ihm unbedingtes Vertrauen: in seiner Instruction nach Schmalkalden (datirt vom 18. März 1531) heißt es, daß alles, was er handle, wahr, fest, stark und unverbrüchlich sein solle, nicht weniger, denn hätte der Magistrat alles solches selber, sämmtlich und sonderlich, mit einhelliger Stimme versprochen, gelobt und besiegelt. Wie eifrig und gewissenhaft er seine Aufgabe erfüllte, die von ihm, dem wenig bemittelten Manne, große Opfer forderte, geht aus der Menge von Briefen und eigenhändig geschriebenen Actenstücken hervor, die er an den Rath in der Heimath sandte. Er hatte die Stadt nicht bloß in den großen politischen und religiösen Fragen zu berathen und zu vertreten: auch der Alber’sche Eheproceß, die Forderung einer Entschädigung für den durch Herzog Ulrich’s Ueberfall erlittenen Schaden und andere kleinere Anliegen der Stadt sollten durch ihn zum Austrag gebracht werden. Den Mangel an gelehrter Bildung ersetzte W. durch ein gesundes praktisches Urtheil und einen hellen Blick für die Bedürfnisse und Forderungen der Gegenwart; und er verband mit diesen Vorzügen eine biedere, kindlich aufrichtige, religiöse Gesinnung. Oefters freilich hat ihn sein argloser, gutmüthiger Sinn die Sachlage günstiger ansehen lassen, als sie wirklich war, so in Speyer 1529, in Augsburg 1530. Noch am 14. September 1530 ist er voll „tröstlicher Hoffnung, es werde bald ein Ort (= gutes Ende) nehmen!“ Für den Frieden war er bereit auch einen hohen Preis zu zahlen: ihm für seine Person würde der Rathschlag, den Luther und Pomeranus (Juni 1532) gestellt haben – der die fremden und die künftigen Glaubensverwandten preisgab – genugsam sein. Aber er erkannte doch richtig, daß, trotz aller Friedensversicherungen des Kaisers und seiner Unterhändler, die Protestanten nur durch festes Zusammenhalten und kräftige Rüstungen sich behaupten können. Nicht ohne eine gewisse Schadenfreude schreibt er am 8. August vom Augsburger Reichstag aus: „Gott sey lob! das wir mit Cur- und Firsten und nirnberg mit K. M. in gyettiger handlung standen; denn ich wayss woll, das K. M. mit den Zwinglianer gar mit nichten handlen wirtt, und loffen etlich Stett, Franckfurt, Gosslar, Hall, die sich gernn uff unser geschrift refferyrten, aber es wyll nime statt haben“ – indeß, obgleich gut lutherisch, ist er doch ein entschiedener Anhänger der Einigung mit den zwinglianisch gesinnten süddeutschen Städten, auf die ja Reutlingen durch Lage und Geschichte angewiesen war. – Zum letzten Mal erscheint Joß W. auf dem Reichstag zu Speyer Febr. 1542. Auf dem Ritt zum Nürnberger Reichstag, unterwegs zu Eschenbach bei Ansbach ist er gestorben, am 11. August 1542. O periculosa tempora – klagt auf die Kunde von seinem Tod der Lutheraner Johann Forster seinem Freund, dem Reutlinger Helfer Schradin –, quae nobis boni presagiunt nihil!

Gayler, Denkwürdigkeiten von R. 1840. – Friderich, Josua Weiß. 1866. – Reutlinger Reformationsacten im K. Archiv zu Stuttgart (St. A.) und im Reutlinger Stadtarchiv (R. A.). – Matthäus Beger, Manuscript in Folio v. 1649, Aemterbesetzungen u. Rechnungsauszüge enthaltend (M. B.).