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Artikel „Unger, Friederike Helene“ von Ludwig Geiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 293–296, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Unger,_Friederike_Helene&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 00:24 Uhr UTC)
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Band 39 (1895), S. 293–296 (Quelle).
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Unger: Friederike Helene U., Frau von F. G. U. (s. oben) geborene v. Rothenburg, geb. in Berlin 1751. Das Jahr ihrer Verheirathung ist nicht bekannt, seit 1782 tritt sie bis zu ihrem Tode, am 21. September 1813, als Schriftstellerin auf, theils mit ihrem Namen, häufiger ohne diesen; gelegentlich arbeitete sie auch mit ihrem Manne zusammen. Sie schrieb viele kleine Aufsätze [294] in Berliner Zeitschriften über historische und ökonomische Gegenstände. Nur letztere haben, wenn sie nicht zu wortreich sind, einige Bedeutung, weil sie einen Blick auf die damaligen Zustände und Verhältnisse gestatten, z. B. der über das Verderben des Gesindes: daß sie trotz ihrer sehr in die Breite gehenden schriftstellerischen Thätigkeit auch Hausfrau blieb – über die Art, wie sie dem Hause ihres Gatten vorstand, es gesellschaftlich repräsentirte, sind wir leider nicht unterrichtet – zeigte sie durch „das neueste Berliner Kochbuch“ (2 Bände, Berlin 1785, 1789, neue Bearbeitung 3 Bände, 1796–1798). Auch ein „Vaterländisches Lesebuch für Land- und Soldatenschulen“ Berlin 1799, ein seltsamer von einer Frau gewählter Vorwurf, gehört dieser praktischen Richtung ihrer Thätigkeit an. Der Lust, in die Verhältnisse ihrer Stadt und Zeit einzugreifen, entsprang ihre, bei Gelegenheit des bekannten Berliner Gesangbuchstreites (1781 ff.) geschriebene Broschüre: „Die Damen dürften doch ein Wort mitreden oder etwas über das neue Gesangbuch“. Endlich mag in diesem Zusammenhange ein „Naturkalender zur Unterhaltung der heranwachsenden Jugend“ Berlin 1789 genannt werden, der viele praktische Notizen aus dem Gebiete der Naturkunde und Oekonomie enthielt. Doch war diese Art der litterarischen Thätigkeit nicht ihre hauptsächliche. Sie war vielmehr in erster Linie Uebersetzerin und Romanschriftstellerin. Gar manche der unter ihrem Namen gehenden Originalromane sind nichts anderes als Uebersetzungen z. B. Karoline v. Lichtfeld (2 Bände, Berlin 1787). Auch in den beiden, im Verlage ihres Gatten erschienenen Sammelwerken, den „Vermischten Erzählungen und Einfällen zur allgemeinen Unterhaltung“ (4 Bände) und dem „Journal der Romane“ (11 Bände, 1800 ff.) sind viele Uebersetzungen, die ihrer fleißigen Feder entflossen, daneben übersetzte sie zahlreiche Lustspiele von Beaumarchais, Marivaux, Mercier, aber auch Molière und manchen weniger bekannten französischen Autoren. Schon diese Uebersetzungen verdankten ihren Ursprung wol in geringerem Maße einer litterarischen Neigung als dem praktischen Bedürfniß: wurden doch bei der großen Vorliebe für französisches Wesen gerade solche Stücke für stehende oder Liebhabertheater verlangt. Frau U. arbeitete daher als Gehülfin für die Pressen und den Verlag ihres Mannes. Noch mehr that sie das, als sie Rousseau’s, eines Schriftstellers, den sie durchaus nicht liebte, Confessions und die an diese sich anschließenden „Unterhaltungen“ ins Deutsche übersetzte (Berlin 1782); sie befriedigte damit als thätige Buchhändlersgattin das Verlangen des Publicums nach einem vielbesprochenen Buche. Als dann die Ereignisse der französischen Revolution in Berlin großes Interesse erregten, suchte sie diesem Interesse zu genügen, indem sie in ihrer Schnellfertigkeit eine Uebersetzung von Linguet’s „Geschichte der Bastille“ und nach französischen Journalberichten eine „Beschreibung der Bastille“ lieferte. – Zeigt diese höchst umfangreiche schriftstellerische Thätigkeit einen ungeheuern Fleiß, Sprachgewandtheit und praktische Befähigung, so können die mir bekannt gewordenen Originalarbeiten – viele ihrer Romane „Prinz Bimbam“; „Melanie oder das Findelkind“; „Albert und Albertine“ (Berlin 1802–1804); „Der junge Franzose und das Deutsche Mädchen“ (Hamburg 1810) waren mir nicht zugänglich –, ihr nicht eben das Prädicat einer Dichterin verschaffen. Zeitgeschichtlich die interessanteste ist „die Franzosen in Berlin oder Serene an Clementinen in den Jahren 1806, 1807, 1808. Ein Sittengemälde.“ Leipzig, Züllichau und Freystadt 1809. Das Buch, weniger Erzählung, als vermischte Berichte, ist wichtig für die Stimmung eines großen Theils der Berliner Frauenwelt gegenüber den Franzosen während der Zeit ihrer Occupation Berlins. Von patriotischer Entrüstung ist hier nicht viel zu spüren; vorherrschend ist vielmehr die Neigung zu den schmucken, galanten Kriegern im Gegensatz zu den plumpen deutschen. Ein früherer Roman „Gräfin Pauline“ (Berlin 1800) [295] füllt die beiden ersten Bände des schon genannten „Journal der Romane“, ist möglicherweise auch nur Adaptirung eines fremden Stoffs oder Werks. Schiller, der ihn durch U. bekommen hatte, urtheilte nach der Lectüre (Geschäftsbriefe S. 225): „Das Journal der Romane hat mich sehr angenehm unterhalten. Die Gräfin Pauline erinnerte mich an Agnes von Lilien, zu der sie ein Gegenstück ist, ohne eine Nachahmung derselben zu sein“. Der Roman ist ein nicht ohne Spannung erzählter Entsagungsroman, der an einem kleinen Hofe spielt. Gräfin Pauline, eine bildschöne, geistvolle, reiche, tugendhafte Hofdame liebt den Erbprinzen Aemil, wird von diesem wieder geliebt, muß sich aber vom Hofe entfernen, als dieser seine häßliche ränkevolle Cousine, die Prinzessin Florentine, heirathen muß. Die Liebenden bleiben im Herzen vereint, finden sich auch, nachdem Aemil Fürst geworden, unter Zustimmung der Mutter und der Schwestern des Fürsten, in reinster Freundschaft zusammen. Pauline, nach einem Eifersuchtsanfall, findet Gelegenheit, bei einem feindlichen Angriff sich für den Fürsten aufzuopfern, wird aber gerettet. Nach dem Tode Florentinens will der Fürst sie heirathen, die Stände verweigern jedoch die Zustimmung, Pauline entfernt sich, verschafft dem Fürsten eine ebenbürtige Gemahlin und stirbt. Viel Sentimentalität und Tugend herrscht in dem Roman; bequeme Satire gegen Adel und Hofleben; unvermittelte Contraste salbungsvoller Tugend und lüsternen Lasters. Culturhistorisches Interesse erwecken die gelegentlichen Schilderungen der Gichtelianer in Berlin und außerhalb Berlins; auch Stellen wie I, 135 f., II, 27 ff., die man als Verwirklichung des in dem obenerwähnten von Frau U. herausgegebenen Landschul- und Soldatenbuch geschilderten Ideals bezeichnen kann. Ihr bekanntestes und wichtigstes Buch ist aber ohne Zweifel „Julchen Grünthal, eine Pensionsgeschichte“ (Berlin 1784). Die Berühmtheit dieses Buches zeigt sich nicht bloß in der Thatsache, daß 1787 eine zweite Auflage erschien, nicht bloß darin, daß ein bekannter Schriftsteller J. E. Stutz einen zweiten Theil folgen ließ, sondern darin, daß sie selbst ihren Autornamen verschweigend, die meisten ihrer folgenden Schriften einfach mit der Aufschrift „von der Verfasserin von Julchen Grünthal“ versah. Seiner Erfindung nach ist der Roman roh, die Composition ist höchst ungeschickt. Julchen, die Tochter eines Amtmanns, wird zur Ausbildung nach Berlin in eine von einer Französin gehaltene Pension geschickt und dort völlig verbildet, zur Modenärrin gemacht und ins galante Leben eingeführt. Nachdem ihr Liebhaber schuldenhalber sich geflüchtet – er, wie seine ihm ähnliche Schwester nehmen ein schlechtes Ende – wird sie zu einer Cousine gebracht, verliebt sich in deren Gatten, heirathet ihn, nachdem die Eheleute sich hatten scheiden lassen, führt aber eine sehr schlechte Ehe. Nachdem sie von dem lüderlichen Mann verlassen worden, sinkt sie jetzt von Stufe zu Stufe und wird von einem kranken Wüstling um Schönheit und Gesundheit gebracht. Ihr Vater, der Amtmann, der ihr nacheilt, der zu der Zeit, da er sie hätte retten können, durch Schwäche, Krankheit, ferner durch seine zweite Frau zurückgehalten wird, kann sie nicht mehr einholen. Das Ganze leidet an schrecklichen Uebertreibungen: alte und neue Richtung erscheinen nur carikirt, der Amtmann ist ein so lächerlicher Verehrer des Alten, daß er selbst das „Du“, das die jungen Mädchen unter einander gebrauchen, nicht vertragen kann; die Verderbnisse der Mädchen durch französische halbgebildete, moralisch unzuverlässige Erzieherinnen werden ins Uebermäßige vergröbert. Aber manche scharfe Schlaglichter fallen auf damalige Berliner Culturzustände und geben dem Buche noch heute eine Bedeutung. War Frau U. gewiß keine hochbedeutende Schriftstellerin, so verdient sie doch Achtung wegen ihres außerordentlichen Fleißes. Ein besonderes Verdienst erwarb sie sich dadurch, daß sie die Aufmerksamkeit Goethe’s, mit dem sie sonst in keinem Verhältniß gestanden zu haben scheint, auf Zelter lenkte und dadurch ein Bündniß [296] begründen half, das zu den schönsten unserer classischen Litteraturperiode gerechnet werden muß.

Meusel, s. v. 9, 170 f. – Schmidt-Mehring, Neuestes gelehrtes Berlin II, 246 f. – Goedeke, Grundriß V, 221 und die dort angeführte Lit. – Geiger, Berlin I, 566 f., II, 207, 233 f.