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Artikel „Tobler, Titus“ von Konrad Furrer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 395–402, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tobler,_Titus&oldid=- (Version vom 16. April 2024, 07:52 Uhr UTC)
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Tobler: Titus T., einer der hervorragendsten Palästinaforscher des 19. Jahrhunderts, wurde am 25. Juni 1806 in Stein, einem Dorf des Kantons Appenzell, geboren, woselbst sein Vater Pfarrer war. Der körperlich zarte, aber geistig sehr regsame Knabe schien ebenfalls zum geistlichen Amte berufen und übte sich auch frühzeitig nach Kinderweise im Predigen. Doch als der Vater im J. 1819 starb und die Familie das Pfarrhaus verlassen mußte, verlor sich im Sohne die Freude an der geistlichen Laufbahn. Gern ließ er sich zum Studium der Medicin bestimmen. Frohen Muthes bezog er 1821 die eben gegründete Kantonsschule in Trogen, um hier unter lernbegierigen Altersgenossen bald einer der ersten zu sein; denn schon damals zeichnete er sich aus durch einen scharfen Verstand, ein eminentes Gedächtniß und einen eisernen Fleiß. Häufige Fußwanderungen und gymnastische Uebungen, sowie bäuerliche Arbeiten in den Ferienwochen entwickelten seine körperlichen Kräfte dermaßen, daß ihm auch an leiblicher Rüstigkeit nicht leicht einer gleich kam. Nur 28 Monate dauerte die „goldne Zeit“, die er in Trogen verlebte, dann zog er, ein blutjunger Student, im Frühling 1823 nach Zürich, um an der dortigen medicinischen Schule die nöthigen Fachkenntnisse zu erwerben. Damals war es noch möglich, mit einem recht bescheidenen Maaß von Wissen und Können die medicinische Staatsprüfung zu bestehen und als wohlbestallter „Doctor“ in noch minorennem Alter die Leiden der Menschheit amtlich zu behandeln. So leichten Kaufes wollte aber T. nicht Arzt werden. Die Studien in Zürich setzte er in Wien und Würzburg fort. Nachdem er sich hier auf Grund einer Dissertation über das Scharlachfieber den Doctortitel mit allen Ehren erworben, ging er nach Paris, um dort seine Kenntnisse zu vervollständigen. Im Winter 1827 begann er zu Teufen im Appenzellerlande seine praktische Wirksamkeit. Mit einem reichen Fachwissen verband er eine ungewöhnlich große, allgemeine Bildung; denn emsig hatte er sich während seiner Studienjahre [396] auch um Sprachen, um allgemeine und Litteraturgeschichte bemüht und sich schon mannichfach in eigenen litterarischen Leistungen versucht. Die erste Schrift, die er als Praktiker veröffentlichte, galt den weitesten Kreisen des Volkes. Unter dem Titel „Hausmutter“ gibt diese Schrift Rathschläge für eine rationelle Lebensführung, insbesondere für die leibliche und geistige Erziehung der Kinder und sucht durch Anleitung zu einer einfachen und zweckmäßigen Krankenpflege den Charlatanismus zu bekämpfen. Aber noch hielten Quacksalberei und Aberglauben das Volk zu stark in Banden, als daß die Schrift den Erfolg gehabt hätte, den sie verdiente. Sie erlebte nur zwei Auflagen, die erste 1830, die zweite 1844.

Ein so gründlich gebildeter und ein für den Fortschritt auf allen Gebieten der menschlichen Thätigkeit so begeisterter Mann wie T. konnte dem politischen Leben seiner Heimath nicht fern bleiben, zumal in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, als die Wogen der französischen Julirevolution weithin in europäischen Ländern nachzitterten. Wol besaß das Appenzellervolk seit Jahrhunderten die Freiheit in demokratischer Form; dessen ungeachtet hatte sich das Regiment thatsächlich sehr patriarchalisch gestaltet, und es fehlte durchaus an einer Trennung der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalten. In Flugschriften, in Zeitungsartikeln, in mündlicher Rede verfocht T. besonnen und furchtlos die Sache des loyalen Fortschrittes. Sein aufrichtiger und immer auf edle Ziele gerichteter Patriotismus wurde denn auch im Laufe der Jahre von seinem Volke dankbar anerkannt. Es betraute ihn mit verschiedenen Ehrenämtern und berief ihn wiederholt in die höchste schweizerische Landesbehörde, in den Nationalrath. Tobler’s Verdienst ist es, daß seit Ende der 50er Jahre der Charfreitag als hoher kirchlicher Feiertag in der ganzen Schweiz gefeiert wird. Wäre er aber nur Landarzt und Politiker in seiner Heimath geblieben, so würde sein Name kaum in diesem Werke figuriren; aber er hat zugleich seinen Namen mit unvergänglichen Zügen in die Annalen der Wissenschaft eingezeichnet. Längst ehe die Dialektforschung allgemein gewürdigt war, erkannte T. ihren hohen linguistischen und culturgeschichtlichen Werth und gab 1837 den „appenzellischen Sprachschatz“ heraus, ein Werk, dessen Trefflichkeit heute allseitig anerkannt wird. Bis an seines Lebens Ende war er für Verbesserung und Bereicherung dieser seiner Arbeit thätig, doch gelang es ihm nicht, eine zweite Auflage derselben erscheinen zu lassen. Um so mehr freute er sich, seine reiche Sammlung den Autoren des schweizerischen Idiotikons zur Verfügung zu stellen. Immerhin fehlte ihm bei diesen Forschungen die strenge Methode. Manche Partie seines Buches hätte ein geschulter Philologe besser bearbeitet; nur in umsichtiger und gewissenhafter Stoffsammlung kann er nicht leicht übertroffen werden.

Von früher Jugend an empfand T. einen starken Wandertrieb. Aeußerst bescheiden in seinen materiellen Ansprüchen, verstand er in seltenem Maaße die Kunst, mit wenig Geld große Reisen zu machen. Ueber Berg und Thal zu Fuß, die Donau hinunter auf Flößen, auf Meerschiffen dritter Classe, so reiste er ganz wohlgemuth und freute sich, mit den Leuten aus dem Volke sich eingehend zu unterhalten. Im J. 1835 machte er seine erste Reise nach dem Orient, nicht ahnend, daß er 30 Jahre später die vierte Wanderung nach dem heiligen Lande antreten werde. Auf Grund seiner reichlichen Tagebuchnotizen arbeitete er die Eindrücke und Erlebnisse dieser ersten Orientreise zu einem Buche aus, das 1839 unter dem Namen „Lustreise ins Morgenland“ erschien. Schon diesem Buche eignen die Hauptvorzüge der Darstellung Tobler’s, insofern es von scharfer Beobachtung, von unbestechlicher Wahrheitsliebe und frischem Humor zeugt. Damals schon stellte er die Echtheit des heiligen Grabes in Frage. Daheim nahm er seine ärztliche Praxis wieder auf. Teufen zwar hatte er schon 1834 verlassen und einige Jahre in andern Dörfern seines Heimathkantons gewirkt. [397] Er siedelte 1840 nach Horn am Bodensee über, wo er für 31 Jahre ein ihm ganz behagliches Tusculum fand. Hier schuf er in den Pausen einer sehr bedeutenden Praxis die wissenschaftlichen Werke, die seinen Namen weit über die Grenzen seiner Heimath tragen sollten.

Die erste Reise nach dem Orient war, wie er selbst sagte, eine Lustreise gewesen, der die wissenschaftliche Vorbereitung gefehlt hatte. Aber bald erkannte er, als er sein Reisetagebuch ausarbeitete und andere Beschreibungen consultirte, daß viel Irriges über die Gegenden, die er geschaut, war geschrieben worden, daß viele Reisende ihre flüchtigen und ungenügenden Beobachtungen mit der Phantasie zu Hause ergänzt hatten. Das reizte ihn, die Palästinalitteratur möglichst gründlich und systematisch durchzulesen und zu excerpiren. In dieser Arbeit ließ er sich auch durch die Leistungen Ed. Robinson’s, die eine neue Epoche der Palästinakunde begründeten, nicht irre machen. Im Besitze von fast 700 Folioseiten voll Excerpten trat T. im September 1845 die zweite Reise an. Am 30. October grüßte er die heilige Stadt und blieb daselbst bis den 18. März 1846. Auf der Heimreise durchwanderte er auch Samaria und Galiläa. Das Resultat seines Forschens an Ort und Stelle und in litterarischen Quellen veröffentlichte er in acht Schriften, die zu den Standard works der Palästinakunde gehören. Mit größter Genauigkeit schildert er das Selbstgeschaute, wobei er reichlich Gelegenheit hat, die Berichte Anderer zu corrigiren. Er hatte keine Gefahr gescheut, um zu einem möglichst klaren Einblick in die thatsächlichen Verhältnisse zu gelangen. So ward es ihm möglich, um nur einige Beispiele hervorzuheben, über die Gräberanlagen bei Jerusalem, über die Höhle Chareitun, über den complicirten Bau der Grabeskirche ganz neues Licht zu verbreiten. Von wichtigen Einzelheiten der Bodengestaltung Jerusalems, von dem Lauf der Gassen und ihren Namen gab er den ersten ganz zuverlässigen Bericht. Geradezu bahnbrechend war T. für eine systematische, die gesammte Ueberlieferung verarbeitende Ortsgeschichte. Dabei berücksichtigte er nicht bloß Jerusalem und dessen nächste Umgebung, sondern mit gleicher Sorgfalt behandelte er die Geschichte von Bethlehem, Jafa, Ain Karim u. s. w. So hat er z. B. seine Monographie über Bethlehem mit 1443 Noten ausgestattet. Wir zählen die acht Werke in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit auf: „Topographie von Jerusalem“, 2 Bücher, erstes Buch: „Die heilige Stadt“, zweites Buch: „Die Umgebungen“ (Berlin 1853), „Denkblätter aus Jerusalem“ (Constanz 1856); „Golgatha, seine Kirchen und Klöster“ (St. Gallen 1852); „Grundriß von Jerusalem mit einem neu eingezeichneten Gassennetze“ (St. Gallen 1849); „Bethlehem in Palästina“ (St. Gallen 1849); „Beitrag zur medicinischen Topographie von Jerusalem und seinen Umgebungen“ (Berlin 1856). Seit den Jahren, da T. diese Werke herausgab, ist die Palästinaforschung unausgesetzt thätig gewesen und hat namentlich durch Nachgrabungen und Vermessungen sehr viel Neues zu Tage gefördert; aber in Beziehung auf systematische Bearbeitung der Ortsgeschichte hat T. keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden, und es scheint, daß wir noch für längere Zeit einzig auf die diesfälligen Werke des Appenzeller Arztes angewiesen bleiben. Es bedurfte einer großen selbstlosen Liebe zur Wissenschaft, um den Hunderten von Pilgerschriften nachzugehen, um Tausenden von an sich kleinen unbedeutenden Fragen die peinlichste Sorgfalt zu widmen. Aus zwölf verschiedenen Sprachen und Dialekten strömten ihm die Quellen für seine Wissenschaft. Welch gewaltiger Aufwand von Arbeit nur für die hierzu erforderliche Sprachenkenntniß! Auf solcher Grundlage gewinnt seine Ortsgeschichte nicht bloß ein unmittelbares Interesse mit Rücksicht auf das historische Ansehen der betreffenden Ortschaften, sondern zugleich auch eine allgemeine psychologische und culturhistorische Bedeutung. Wie ungleich [398] haben die Reisenden die gleichen Erscheinungen im Laufe der Jahrhunderte aufgefaßt, wie oft haben sie einfache Allegorien zu Legenden verdichtet, wie oft die geschichtliche Wirklichkeit mit einem Kranz von Sagen und Mythen umwunden! Man begegnet hier jeder Form von Sagen- und Mythenbildung. Den Grundstock lieferte schon das vierte Jahrhundert, als nach den Siegen Constantin’s die Pilger zu Tausenden nach dem heiligen Lande wallfahrteten und man inbrünstig nach den physischen Spuren derer suchte, deren Herrlichkeit doch ganz dem Reiche des Geistes angehört. In geradezu rührender Weise hat ein zarter, tiefpoetischer Sinn im Bunde mit kindlicher Frömmigkeit die heiligen Stätten, zumal Golgatha, bisweilen umrankt; aber neben anmuthender Kindlichkeit ging auch viel kindischer Aberglaube einher, neben überschwenglicher Begeisterung für die Heiligthümer des eigenen Glaubens eine schreckliche Herzenshärte gegen Andersgläubige. Wie oft ließ man den Gegner durch derbe Faustschläge die Stärke des eigenen Glaubens spüren! Die einmal geschaffenen Legenden wurden mit vollem Vertrauen Jahrhunderte lang nachgesprochen, wie denn überhaupt die Pilger im Abschreiben gar nicht bedenklich waren. In der Kreuzfahrerzeit muß es ein kleines Reisebüchlein gegeben haben, das offenbar die Pilger bei sich trugen und dem sie in ihren eigenen Beschreibungen eine Menge Stellen wörtlich enthoben. Alle diese Thatsachen führt T. seinen Lesern sehr anschaulich vor die Augen. Was er schreibt, ist wegen der Fülle kleiner und kleinster Notizen oft mühsam zu lesen; aber seine Schriften zeichnen sich aus durch körnigen, oft pikanten Stil. Der ernste Forscher bleibt ein Kind seines Volksstammes, der durch seinen scharfen Witz vor allen Stämmen des Schweizervolkes sich hervorthut. Auf gehobenen Stellen liegt etwas wie frischer Bergeshauch, und überall spiegelt sich in der Darstellung ein kerngesunder, edler Charakter. Als im J. 1856 der Schluß des Riesenwerkes, der „Beitrag zur medicinischen Topographie von Jerusalem“, erschienen war, bemerkte T. im Hinblick auf die ungeheure Arbeit, die dasselbe ihn gekostet: „Aehnliches möchte ich nicht mehr schreiben; aber leicht ließe ich mich dazu bereden, noch einmal nach Palästina zu reisen und von Fremden unbetretene oder unbeschriebene Gegenden aufzusuchen und zu beschreiben, aber ohne gerade den Maßstab einer durchgreifenden historischen Kritik anzulegen“.

In seiner eifrigen Hingebung an die Erforschung des heiligen Landes blieb er sich gleich bis an seines Lebens Ende. Mit größter Sorgfalt folgte er dem Gang der Wissenschaft. Kein irgendwie belangreiches Buch über Palästina, das er nicht einläßlich studirt und nicht für den eigenen Gebrauch mit Noten versehen hätte. Mit unsäglicher Mühe sammelte er sich eine Palästinabibliothek, die schließlich mehrere tausend Bände zählte und ihresgleichen in Beziehung auf Vollständigkeit nirgends fand. Hinter seinen Büchern tröstete sich der einsame Mann darüber, daß er des Familienlebens entbehrte. Wenn er ausruhen wollte von einer ärztlichen Praxis, die zeitweise Tag um Tag auf 50 Audienzen und Besuche sich belief, versenkte er sich in die Palästinaforschung. Anderweitige Erholung gönnte er sich nur, wenn die Rücksicht auf die Gesundheit gebieterisch es verlangte. Er blieb zeitlebens ein rüstiger Fußgänger und ein ausgezeichneter Schwimmer. Immer hielt er an der Ueberzeugung fest, der sei der weiseste, der möglichst wenig leibliche Bedürfnisse habe. Er fand, daß die Menschen im allgemeinen zu viel essen und zu viel trinken. Freunden war er ein sehr liebenswürdiger Gastgeber; aber sie mußten mit einfacher Kost vorlieb nehmen. Zwischen 1846 und 1877 machte er viele Reisen im westlichen Europa, überall beflissen seltenen Drucken und unedirten Handschriften von alten Reisebeschreibungen über Palästina nachzuspüren. Es war ihm denn auch manche sehr erfreuliche Entdeckung beschieden. Drei seiner Funde erwiesen sich als besonders wichtig: 1. Das Buch des Theodosius über die Lage des heiligen Landes ums [399] Jahr 530, von dem bis dahin nur einzelne Fragmente bekannt waren, 2. Das Büchlein des Theodoricus über die heiligen Orte ums Jahr 1172, 3. Beschreibung des heiligen Landes von Johannes Poloner vom Jahr 1422. Doch nicht bloß diese, sondern auch längst bekannte alte Pilgerschriften gab T. neu heraus. Wenn nun auch seine Ausgaben nicht allen Anforderungen der modernen Paläographie und Linguistik entsprechen, so behalten sie doch wegen ihrer vielen sachlichen Anmerkungen ihren bleibenden Werth. Theodosius ist der einzige, der uns mittheilt, wie es in Palästina im Anfang des 6. Jahrhunderts aussah. Theodoricus erweist sich als ein treuer und zuverlässiger Zeuge aus der Kreuzfahrerzeit, während Poloner uns darüber belehrt, was man im Anfang des 15. Jahrhunderts im Abendland von Palästina und seinen heiligen Orten wußte.

Im October 1857 trat T. seine dritte Wanderung nach Palästina an, um anfangs Februar 1858 die alte Heimath wieder zu begrüßen. Er war diesmal noch vollständiger wissenschaftlich ausgerüstet als im J. 1845, um Allem, was sich auf die Landeskunde bezieht, verständnißvolle Beachtung schenken zu können, namentlich auch nach Seite der Kartographie und der physischen Geographie hin. Besser wie einst wußte er sich mit dem Landvolk zu unterhalten, vertrauter war er mit den Fachausdrücken der verschiedenen Wissenschaften. Man erkennt beim Lesen seiner Schrift über die dritte Wanderung, wie er auf Alles, was irgendwie für Natur und Geschichte des Landes belehrend sein konnte, sorgfältig Acht gab. Er verbreitete denn auch über unsere Kenntniß von Judäa sehr viel neues Licht. Schade, daß er nicht auch andere Landestheile in den Bereich seiner Forschung ziehen konnte und namentlich von Umwanderung des Tiberiassees absehen mußte. Jerusalem betrat er wie eine zweite Heimath. Hier galt es nur eine Aehrenlese zu halten, nachdem die große Ernte schon vor Jahren eingeheimst war. Dankbar benutzte er diesmal die Forschungen von Konrad Schick, dieses ausgezeichneten Württembergers, der mit größter Sorgfalt decennienlang den Spuren des alten Stadtterrains nachgegangen ist und dem allein wir ein ziemlich vollständiges und zuverlässiges Bild der alten Terraingestalt verdanken. Wie er Tobler’s Werk unterstützte, so empfing er hinwieder von diesem mannichfache Anregung und Belehrung. Ja ohne den medicinischen Topographen hätte Schick wol kaum den Antrieb bekommen, mehr als 40 Jahre lang mit systematischer Genauigkeit alle Spuren des antiken Bodens zu vermessen. Leicht könnte man meinen, das sei doch eine recht unfruchtbare Detailarbeit gewesen, und T. hätte den trefflichen Baumeister dazu nicht veranlassen sollen. Aber an diese kleinen Dinge heften sich größere Interessen. Nur durch Tobler’s und Schick’s Arbeiten, denen später die englischen Vermessungen sich beigesellten, ist es möglich geworden, die topographischen Angaben der Bibel zu verstehn und aus vereinzelten biblischen Notizen sich ein ganzes Bild zu gestalten. Schick’s Verdienst ist es, nachgewiesen zu haben, daß die zweite Mauer, welche im Norden Jerusalem umschloß, das Terrain des traditionellen Golgatha nicht mitumfaßte. Die ungleiche Dichtigkeit der Schuttlagen liefert ein stummes und doch beredtes Zeugniß für die innere Geschichte der Stadt.

T. zeigte sich der Tradition gegenüber sehr kritisch, konnte er doch so oft mit unwiderleglichen Gründen beweisen, daß dieselbe viele Irrungen und Wandlungen durchgemacht hatte. So hielt er auch die Echtheit des heiligen Grabes und die von Golgatha, wenn auch nicht für absolut unmöglich, so doch für sehr problematisch. T. nöthigte auch die conservativeren Forscher ihre Anschauungen besser zu begründen und Wissenschaft mit Wissenschaft zu bekämpfen. Noch ein viertes Mal drängte es den Wanderer nach dem heiligen Lande zu ziehen. Wiederum trat er im October die Reise an im J. 1868, als er schon im 60. Altersjahre sich befand. Er hatte gleichwie einst für Bethlehem so jetzt für [400] Nazareth die eingehendsten topographischen und geschichtlichen Vorstudien gemacht, um als Schlußstein seiner Topographien heiliger Stätten die von Nazareth einzufügen. Glücklich gelangte er nach Jerusalem, aber nicht nach dem eigentlichen Ziele seiner Reise, weil dort die Cholera ausgebrochen war. Was er an Ort und Stelle nicht erforschen konnte, ersetzten ihm die Antworten auf mehr denn 200 Fragen, die er an den ortskundigen und scharf beobachtenden Missionar Zeller richtete. Am 9. September traf er gesund und frisch in der alten Heimath ein.

Mit 60 Jahren sagte er dem Oriente Lebewohl; aber in unermüdlicher Emsigkeit setzte er daheim die litterarische Thätigkeit für die Palästinakunde fort. Sein letztes Hauptwerk griff er gleich nach der Rückkehr an, nämlich eine „Kritische Uebersicht der geographischen Litteratur von Palästina in chronologischer Ordnung“. Schon im Spätsommer 1867 erschien dasselbe und fand bei allen Fachmännern volle und rückhaltlose Anerkennung. Es besteht aus drei Abtheilungen: 1. aus Werken, die gewiß oder höchst wahrscheinlich von Augenzeugen herrühren, 2. aus Werken, deren Verfasser Palästina gewiß oder höchst wahrscheinlich nicht aus eigener Anschauung kennen, 3. aus Ansichten und Karten. Durch dieses Werk erfuhren wir erst, wie riesig die Zahl der Schriften ist, die im Laufe der Jahrhunderte über Palästina geschrieben worden sind. T. begnügte sich nicht damit, als sorgfältiger Bibliophile alle Handschriften, Drucke, Auflagen u. s. w. zu notiren, sondern gab als competentester Richter zugleich sein Urtheil ab über den wissenschaftlichen Werth der einzelnen Leistungen. Meisterlich hat er es verstanden in äußerst präcisen wohlabgewogenen Ausdrücken ein Werk zu charakterisiren. Das eigentlich Bibliographische an seinem Werk ist durch Röhricht’s großartige Leistung überholt worden, aber die Charakteristiken machen die Tobler’sche Bibliographie zu einem monumentum aere perennius. Gegen 1500 Reisende, Gelehrte, Künstler u. s. w. hat er in diesem Werke vorgeführt. Es mußte dem schlichten einsamen Gelehrten wohlthun zu erfahren, mit welcher Wärme die Kritik vom In- und Ausland das hohe Verdienst seiner Schrift anerkannte. Ja jetzt war er facile princeps unter allen Palästinakundigen, und willig anerkannte man ihn überall als eine Autorität ersten Ranges. So wurde denn auch die letzte seiner Topographien aus Palästina, die über Nazareth, von der gesammten Kritik wohlwollend aufgenommen. Goldne Herbsttage waren für T. gekommen. Er hatte durch Fleiß und Sparsamkeit, die aber niemals seiner großen Herzensgüte gegen arme Patienten Eintrag that, so viel erworben, daß er den ärztlichen Beruf aufgeben und ganz nur seinen stillen Palästinastudien leben konnte. Um diesen langgenährten Wunsch zu verwirklichen verließ er seine idyllische Heimath am Bodensee und siedelte im J. 1877 nach München über, wo gelehrte Freunde ihn willkommen hießen und eine reiche Staatsbibliothek seiner wartete. Auch in der bairischen Residenzstadt verstand T. das vivere in otio cum dignitate nicht als bloßes Genießen. Nulla dies sine linea blieb sein Wahlspruch. Unausgesetzt studirte er alle Novitäten der Fachlitteratur, arbeitete an der Verbesserung und Erweiterung seiner bisherigen gelehrten Schriften, namentlich auch seiner Palästina-Bibliographie. Noch ließ er sich am späten Abend seines Lebens in ein großes Unternehmen ein. Es hatte sich eine gelehrte französische Gesellschaft unter dem Namen Orient latin gebildet zum Zwecke die gesammte ältere Palästinalitteratur in mustergültiger Form herauszugeben. Man gedachte dabei alle Handschriften und Drucke zu berücksichtigen, um einen möglichst correcten Text zu gewinnen. Da nun T. auf diesem Gebiete schon sehr Bedeutendes geleistet, ja für verbesserte Herausgabe alter Pilgerschriften mehr als irgend ein Anderer gethan hatte, so wünschte die Gesellschaft sehr lebhaft seine Mitwirkung. Er sagte zu und half bei Herausgabe des ersten Bandes der Itinera hierosolymitana [401] et descriptiones Terrae sanctae bellis sacris anteriora nach Kräften mit. Doch schon war er körperlich nicht mehr der alte. Ein rüstiger Fußgänger hatte er einst einen großen Marsch durch den Wald gemacht und war dabei von einem Gewitter überfallen worden. Kein Hinderniß fürchtend durchwatete er mit vieler Anstrengung einen hochgeschwollenen Bach. Das Wagniß gelang; aber daheim packte ihn das Fieber, denn er hatte sich gründlich erkältet. Das Fieber schwand wieder, doch es blieb eine starke Heiserkeit zurück, die sich nie mehr heben wollte. Von hier aus begannen die Mächte des Todes an dem lebenskräftigen Manne zu arbeiten. Jahrelang hielt er stand, doch mit immer mehr sinkenden Kräften. Seine letzten Wünsche waren, den ersten Band der Itinera zu vollenden und dann zur vollen Ruhe ins Vaterland zurückzukehren. Ihre Erfüllung winkte in nicht allzuweiter Ferne, doch noch näher war der Tod. Eine Woche vor seinem Heimgang wollte der die scheidende Sonne noch einmal sehen. Als man ihm sagte, sie sei untergegangen, bemerkte er: „Mir geht bald ein schöner Morgenstern auf“. Aber es rang in den letzten Tagen das Leben noch heftig mit dem Tode. Als es diesen Kampf aufgab, da ging ein verklärender Strahl der Freude und des Friedens über den Sterbenden, als ob sich noch in Einem Augenblick alle Seligkeit wohlverdienter, schwererrungener Ruhe concentriren wollte. T. starb in der Morgenfrühe des 21. Januar 1877. Noch wenige Jahre vorher hatte man ihm das Alter eines Alex. v. Humboldt prophezeit; nun war es ihm beschieden, ein mannhaftes, tüchtiges und gesegnetes Leben im Alter von 70 Jahren zu vollenden. Testamentarisch hatte er verordnet, daß seine Leiche in seiner Heimathgemeinde Wolfhalden (Kanton Appenzell) beigesetzt wurde. Aus dem schwungvollen Nachruf, den sein langjähriger treuer Freund Dr. G. Thomas im Namen der Münchener Gelehrten ihm widmete, entnehmen wir folgende Stelle: „Wen führt man da hinaus so stille und prunklos, nur den grünen Zweig der Friedenspalme auf dem schwarzen Gehänge? Wen trägt man hin zur letzten beflügelten Fahrt nach der lieben Heimath, wo er zur ewigen Ruhe gebettet sein will? Ein viel und weit Gewanderter hat den Stab niedergelegt, ein lange rüstiger Arbeiter ist abgetreten für immer, ein echter Schweizer, ein guter Deutscher, ein heilbereiter Arzt, ein freier Gelehrter, ein wahrer Menschenfreund, Mann vom Scheitel bis zur Sohle – es ist die Leiche von Dr. Titus Tobler, welche zur Stätte der Väter gebracht wird“. Während T. mit dem Tode rang, hatte die theologische Facultät von Zürich den Beschluß gefaßt ihn zum Doctor theologiae honoris causa zu ernennen. Doch die Ausführung des Beschlusses verzögerte sich einige Wochen, sonst hätte sie wol noch einen hellen Strahl der Freude in seine späte Abenddämmerung geworfen.

T. hatte sich in der That um Kirche und kirchliche Wissenschaft verdient gemacht. Der Charfreitag, der durch seine Anregung in der Schweiz zum hohen Festtag erhoben worden ist, ist für das reformirte Schweizervolk der höchste und feierlichst begangene Festtag geworden. Die gelehrten Werke Tobler’s kommen vielfach auch der Bibelerklärung zu Gute, und seine Geschichte des Pilgerwesens ist ein sehr werthvoller Beitrag zur christlichen Culturgeschichte. Wer, wie der Verfasser dieses Lebensbildes der engeren Freundschaft von T. gewürdigt war, wird den wohlthuenden Eindruck niemals vergessen, den dieser Mann auf ihn gemacht. Man mußte mit Verehrung zu dem schlichten Landarzte aufschauen, der ein ungewöhnlich hohes Maaß geistiger und leiblicher Kraft in den interesselosen Dienst der Erkenntniß der Wahrheit stellte, der große Opfer an Zeit und Geld, viele Gefahren zu Wasser und zu Land nicht scheute, um auf einem bescheidenen Gebiet das Reich der Wahrheit zu fördern. Er hat als getreuer Knecht mit reinem Herzen dem Ewigen gedient, allem bloßen Schein, allem [402] unreinem und unlauteren Wesen abhold, ein herber Mann mit kindlich zartem und tiefem Gemüth, ein ruhlos Strebender und doch einer, der als innig dankbarer Gast aufstund von der Tafel des Lebens, ein frischer und froher Erdenbürger, der ohne viel Worte doch den Tod willkommen hieß, weil am letzten Horizont hinter allen Wanderungen und Wandlungen der goldene Schein eines höheren Tages sich ihm ankündete.

Ueber die Palästina betreffenden Schriften Tobler’s gibt R. Röhricht’s Bibliotheca geographica Palaestinae, Berlin 1890, S. 379–382 die genaueste Auskunft. Die einzige größere Biographie von T. danken wir H. J. Heim, Dr. T. Tobler, der Palästinafahrer, ein appenzellisches Lebensbild, Zürich 1879. Eine kürzere Skizze hat der Unterzeichnete in der Zeitschrift des deutschen Palästinavereins I, 49–60 veröffentlicht und überaus herzliche Nachrufe haben ihm Ph. Wolff, Dr. G. Thomas, Graf P. Riant gewidmet.