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Artikel „Teichmüller, Gustav“ von Rudolf Eucken in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 543–544, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Teichm%C3%BCller,_Gustav&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 16:25 Uhr UTC)
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Band 37 (1894), S. 543–544 (Quelle).
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Teichmüller: Gustav T., Philosoph, geboren am 19. November 1832 in Braunschweig als Sohn des Rentiers August T., † am 22. Mai 1888 in Dorpat. Früh geistig entwickelt und für die Philosophie entschieden, bezog er 1852 die Universität Berlin, wo er sehr umfassende Studien machte und in nähere Beziehungen zu Trendelenburg trat. Nur ein Semester in Tübingen unterbrach den Berliner Aufenthalt. Der Tod seines Vaters und minder günstige äußere Verhältnisse veranlaßten T., im August 1855 eine Erzieherstelle im Hause des Ministers v. Werther anzunehmen. Mit diesem ging er, 1856 in Halle promovirt, nach St. Petersburg. Dort, wo er sich sehr wohl fühlte und in gelehrten wie weiteren Kreisen viel Schätzung fand, übernahm er 1858, nach Ausscheiden aus dem Werther’schen Hause, eine angesehene Stellung an dem Gymnasium der Annenkirche; dort fand er auch seine Frau Anna Cramer, die Tochter eines estländischen Gutsbesitzers. 1860 habilitirte er sich in Göttingen für Philosophie, trat sowohl zu Lotze als zu H. Ritter in ein freundschaftliches Verhältniß und gewann auf die Studirenden namentlich durch sein vortreffliches Aristotelisches Praktikum Einfluß.

Durch den 1862 erfolgten Tod seiner Frau tieferschüttert, unternahm er 1863 eine Reise nach dem Orient, die 1½ Jahre dauerte und ihm mannigfachste Erfrischung und Belehrung brachte. Nach Wiederaufnahme seiner Lehrthätigkeit verheirathete er sich 1866 mit seiner Schwägerin Lina Cramer, wurde 1867 zum Extraordinarius ernannt, 1868 als Ordinarius nach Basel berufen. In Basel fand er eine angenehme Stellung und eine schöne Wirksamkeit. 1871 übernahm er das Ordinariat in Dorpat und blieb dort bis zu seinem Tode in unermüdlicher litterarischer und sehr erfolgreicher akademischer Thätigkeit.

Teichmüller’s schriftstellerisches Wirken zerfällt in drei Hauptabschnitte. Längere Zeit veröffentlichte er fast nur Untersuchungen über Aristoteles, die lebendig geschrieben und reich an Anregungen sind. Hierher gehören namentlich „Aristotelische Forschungen. Bd. I.: Beiträge zur Poetik des Aristoteles“ 1867, Bd. II.: „Aristoteles’ Philosophie der Kunst“ 1869, Bd. III.: „Geschichte des Begriffs der Parusie“ 1873. Das letzte Buch bildet schon den Uebergang zur zweiten Epoche, zu Untersuchungen über die Geschichte der Begriffe. Vornehmlich dem Alterthum zugewandt, wollen sie die Gedankenbewegung nicht von den Persönlichkeiten, sondern von den Ideen aus verfolgen, um dadurch tiefere Einblicke in die inneren Zusammenhänge zu gewinnen. Besonders ist das Augenmerk darauf gerichtet, neue Beziehungen zwischen sonst getrennten Systemen und Gedankenkreisen aufzudecken. Hier sind die Hauptwerke „Studien zur Geschichte der Begriffe“ 1874, „Neue Studien zur Geschichte der Begriffe“ 3 Bände, 1876 bis 1879, „Literarische Fehden im IV. Jahrhundert v. Chr.“ 2 Bände, 1881 und 1884. Diese Untersuchungen zeigen ein sehr ausgedehntes Wissen, viel scharfsinnige Combination und eine große Gewandtheit der Dialektik, aber auch [544] viel Kühnheit und Subjectivität, sie haben im Auslande mehr Zustimmung gefunden als in Deutschland. Mit großer Wärme sind sie anerkannt von Lotze (Gött. gel. Anz. 1876 Stück 15).

Den Abschluß und Höhepunkt des Ganzen bilden systematische Arbeiten. Hierher gehören „Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik“ 1882, „Religionsphilosophie“ 1886, „Neue Grundlegung der Psychologie und Logik“ (nach Teichmüller’s Tode herausgegeben von Ohse 1889). – Der Philosophie Teichmüller’s ist besonders eigenthümlich das Streben, einerseits Sein und Schein, wirkliche und scheinbare Welt schärfer zu scheiden, andererseits den eingewurzelten Intellektualismus zu überwinden unter voller Anerkennung der berechtigten Ansprüche des Intellekts. Als die einzige ursprüngliche Quelle unseres Begriffs vom Sein gilt ihm das Selbstbewußtsein, den größten Werth legt er auf ein deutliches Auseinanderhalten des auch das Fühlen und das Handeln umfassenden Bewußtseins und des theoretischen Wissens, der specifischen Erkenntniß. Raum, Zeit, Bewegung sind ihm nur Formen, in denen wir innere Vorgänge zu Anschauungen zusammenfassen, sie nach außen projiciren; der Wirklichkeit selbst sind jene Formen fremd. Diese Gedanken sind mit zähem Scharfsinn und reichem Wissen in die einzelnen näher behandelten Gebiete hineingearbeitet.

Vgl. Filippo Masci, Un metafisico antievoluzionista Gustavo Teichmüller, Neapel 1887. – W. Lutoslawski in Bursian’s „Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Alterthumswissenschaft“ 1888, wo sich auch ein vollständiges Verzeichniß der von Teichmüller verfaßten Werke, Abhandlungen, Artikel und Recensionen findet.