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Artikel „Stieler, Johann David“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 187–189, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stieler,_Johann_David&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 08:14 Uhr UTC)
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Stieler: Joh. David St., geboren am 7. September 1707 zu Beresbach (Bernsbach?) im Meißenschen, † um 1770 als Schulcollege und Obercantor zu St. Marien in Zwickau. – Uebersieht man die beängstigende Fluth musikalischer Druckwerke, die heute täglich auf den Markt geworfen werden, beachtet man das bedenkliche Anschwellen der von Jahr zu Jahr an Umfang zunehmenden Musikkataloge, so muß man eigentlich froh sein, daß dies nur eine krankhafte Erscheinung seit unfernen Jahren ist; wir würden sonst längst von solcher Ueberproduction erstickt worden sein. Kaum äußert sich irgend ein Bedürfniß, so werfen sich zahlreiche mitleidige, hilfsbereite Musiker auf ein Gebiet, das noch einige Aussicht auf Absatz und Beachtung hat. Nicht immer war es so. Im vorigen Jahrhundert wurde in den protestantischen Kirchen mehr musicirt, als gegenwärtig. Jede Stadt, jedes Städtchen besaß seinen Cantor, Kirchenchor und mehr oder weniger auch ein Orchester und setzte seinen Stolz darein, allsonntäglich eine gute Kirchenmusik zu hören. Aber ein Jahr hat 52 Sonntage und woher immer passende, für die obwaltenden Verhältnisse brauchbare Musikstücke nehmen? Gedruckt wurde soviel wie nichts; desto eifriger aber [188] componirt und copirt. Weitaus die meisten dieser frommen Cantoren schrieben sich ihre Sonntagsmusiken selbst. So kam es, daß viele derselben zahlreiche Jahrgänge von Kirchencantaten fertig brachten und daß in vielen Kirchen nur Compositionen des betreffenden Cantors, der diese Musiken zu leiten hatte, aufgeführt wurden. Allwöchentlich eine mehr oder minder umfangreiche Cantate zu componiren, gehörte sozusagen zu den Aufgaben des Directors. Geschrieben wurde im Verhältniß kaum weniger wie heute, aber viel weniger veröffentlicht. Von vielen guten und tüchtigen Tonsetzern wissen wir nur, wie sie hießen und daß es außerordentlich geschickte und fleißige Leute waren. Nur wenn man diese Umstände berücksichtigt, kann man sich die staunenerregende Anzahl einschlägiger Werke von Bach, Telemann, Homilius, Rolle, Stölzel u. v. a. erklären, aber auch die Erscheinung, daß die Meister immer so rasch vergessen wurden, wenn sie außer Wirksamkeit traten. Wenn man Jahrzehnte hindurch immer nur die Werke eines Tonsetzers sang, mußte im Chor ein unstillbares Verlangen entstehen, nun auch die anderer Meister zu üben und auszuführen. Wer kann sich in unserer Zeit noch rühmen, eine Composition von St. gehört oder gesehen zu haben? Er ist für uns nur ein Name. Und doch galt er s. Z. als ein trefflicher, einflußreicher Tonsetzer, unermüdlich an seinem Schreibpult (die Cantoren hatten immer auch Chor- und Orchesterstimmen auszuschreiben und es ist ebenso erfreulich ihren schönen Notenschriften zu begegnen, wie die Masse dessen was sie schrieben unglaublich ist). Ob seine Werke dadurch gerettet wurden, daß man sie in einer Bibliothek hinterlegte, ob sie den Weg wie so viele andere in einen Käse- oder Wurstladen fanden, wir vermögen es nicht zu sagen. St. betrieb von frühester Jugend an Musik mit außerordentlicher Begierde und suchte überall, wo er seine gelehrten Studien fortsetzte, in Grünhain und Buttstädt, den Unterricht der besten Lehrer zu erhalten. Um Theologie zu studiren, besuchte er seit 1727 die Universität zu Jena. Bereits mußte er sich gründliche musikalische Kenntnisse und ungewöhnliches Geschick erworben haben, denn er galt hier bald als schätzbarstes Mitglied des damals in großer Blüthe stehenden Collegium musicum und seine Compositionsversuche fanden so vielen und allgemeinen Beifall, daß er der Lieblingscomponist des Publicums wurde und bei jeder Gelegenheit um Producte seiner Kunst: Cantaten, Serenaden, Arien u. s. w. gebeten wurde. Als er 1737 zur Feier der Geburt des Erbprinzen von Weimar, Ernst August II. Constantin, drei große Compositionen: eine Cantate für die Collegienkirche, eine Serenade zur Illumination und eine Festmusik für das Collegium musicum geschrieben hatte, rühmte man diese Werke auch auswärts so sehr, daß der Vater des neugeborenen Prinzen, Herzog Ernst August I. sie auch zu hören wünschte und das ganze Collegium (29 Mitglieder) zu sich nach Weimar einlud, den Componisten, die Sänger und das Orchester fürstlich tractirte und, nach Anhörung der ihn sehr befriedigenden Musik, mit 100 Thalern beschenkt, in Gnaden wieder entließ. Bald nach diesem Vorfall kam St. als Cantor zu St. Catharina und als Schulcollege nach Zwickau. Dort stand an erster Stelle der musikalischen Verhältnisse der verdiente alte Cantor J. M. Steindorf, ein Schüler des durch seine abenteuerlichen Lebensschicksale bekannten D. Funk, der, trotzdem er eins der größten musikalischen Genies war, zuletzt hinter einem Zaun sein verscherztes Dasein elend beschloß. Steindorf war durch Alter und Krankheit unfähig geworden, sein Cantorat an der Marienkirche noch zu versehen. St. trat nun aushülfsweise für ihn ein und besorgte, bis der Tod denselben abrief, in beiden Kirchen die Musiken. Um 1739 trat er dann in dessen Stelle ein und wurde zugleich Lehrer an der vierten Classe der Lateinschule. Ziemlich alle in den Kirchen des so recht im Musikantenwinkel Sachsens gelegenen Zwickau aufgeführten Musiken rührten [189] von ihm her, aber so viel er auch schrieb, die Zeit ließ davon nichts übrig, sie ließ alles entschwinden, vergessen, verderben.