ADB:Steller, Georg Wilhelm
[34] und übernahm unter der Bedingung der freien Ueberfahrt die Verpflichtung, einen Transport kranker und verwundeter Russen nach St. Petersburg zu begleiten. Nach mancherlei Fährlichkeiten lief das Schiff gegen Ende des Jahres 1734 in den Hafen von St. Petersburg ein. Von allen Mitteln entblößt, ohne jede Verbindung, suchte St. nach irgend einer Unterkunft. Durch den deutschen Inspector des botanischen Gartens erhielt er endlich eine Verwendung als Arzt im Hause des ehemaligen Erzbischofs von Nowgorod, Feofan Procopowitsch. Dieser gelehrte und einflußreiche Mann lenkte die Aufmerksamkeit der Akademie der Wissenschaften auf St. und veranlaßte in Berücksichtigung der Kenntnisse, Fähigkeiten und Neigungen Steller’s die Ernennung desselben zum Adjuncten der Akademie am 7. Febr. 1737, mit der Bestimmung, an der sogenannten Kamschatka’schen Expedition theilzunehmen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese großartig geplante Expedition, an der Bering, Spangenberg, Tschirikow, Gmelin, Fischer, Krascheninnikow und andere mitwirkten, näher einzugehen. – Die Reisevorbereitungen schritten langsam vorwärts, die genannten Gelehrten waren längst vorausgeeilt, St. sollte zur Unterstützung nachfolgen. Um nicht allein den Gefahren und Wechselfällen der Reise ausgesetzt zu sein, hatte sich St. mit der Wittwe des Naturforschers Messerschmidt (siehe A. D. B. XXI, 494), Brigitte Helene geb. Böckler, einer lebenslustigen jungen Frau, verheirathet. Allein kurz vor der Abreise erklärte die Frau, sie wolle nicht mit nach Sibirien. St. mußte schweren Herzens abreisen – sehnsuchtsvolle Briefe schreibt er aus Sibirien an seine Frau, und diese, umgeben von Verehrern und Liebhabern, bittet um – Geld. – In Begleitung eines Malers J. Decker bricht St. endlich am Schlusse des Jahres 1737 auf; er reist langsam, und erst im Herbst des nächsten Jahres ist er in Tomsk angelangt. Hier erkrankt er so heftig an einem hitzigen Fieber, daß an seinem Aufkommen gezweifelt wird; sobald er genesen, setzt er seine Fahrt fort und trifft am 20. Jan. 1739 in Jenisseisk ein, woselbst die beiden Mitglieder der Akademie Müller und Gmelin ihn erwarteten. Gmelin, auf dessen besondere Veranlassung und zu dessen besonderer Unterstützung St. nach Sibirien abgefertigt worden war, sollte St. mit einer Instruction zur Untersuchung Kamtschatka’s ausrüsten; deshalb blieb St. eine Zeit lang in Jenisseisk. Hier lernte Gmelin den jugendlichen, frischen St. kennen und schätzen: die Schilderung, die Gmelin entwirft, gibt uns ein lebhaftes Bild des strebsamen, unternehmenden Forschers. Am 5. März 1739 verließ St. die Stadt Jenisseisk, und reiste in Begleitung eines gewissen Gorlanow nach Irkutsk, das am 23. März erreicht wurde. In Irkutsk verweilt St. fast ein Jahr, erforscht die Umgebung der Stadt, den Baikalsee, besucht die chinesische Grenze und sammelt fleißig Naturalien, Thiere und Pflanzen vornehmlich, und schickt dies alles nach St. Petersburg. Nachdem St. am 12. März 1740 Irkutsk verlassen, trifft er in Kirensk an der Lena den Kapitän Spangenberg, der den Auftrag hatte, die japanische Küste zu bereisen. Von Spangenberg zur Theilnahme an dieser Expedition aufgefordert, wendet sich St. sofort an die Akademie mit der Bitte, sich anschließen zu dürfen; da aber nicht so bald eine Antwort zu erwarten ist, setzt St. unterdessen seine eigenen Wege fort. Er gelangt über Jakutsk am 20. August nach Ochotsk, schifft sich hier am 8. September 1740 auf dem neu erbauten Schiffe „Ochotsk“ ein und landet am 21. September an der Westküste von Kamtschatka in Bolscheretzk. Bis zum Juni 1741 – also 8 Monate – bleibt St. in Kamtschatka, Land und Leute erforschend; er bereist das Land, sammelt fleißig; im Umgang mit den Eingeborenen des Landes, Itelmänen, ergreift er offen die Partei derselben gegen die sie bedrückenden russischen Beamten, und zieht sich dadurch verschiedene Unbequemlichkeiten zu. Während des Aufenthaltes in Kamtschatka wurde St. [35] von Bering aufgefordert, an dessen Entdeckungsreise theilzunehmen. Anfangs zögerte St., allein da inbetreff der Reise mit Spangenberg kein Bescheid gekommen war, so nahm er Bering’s Anerbieten an und traf am 20. März 1741 in Petropawlowsk, der von Bering gegründeten Niederlassung, ein. Am 4. Juni segeln die beiden Paketböte, St. Peter unter dem Commando Bering’s, St. Paul unter dem Commando Tschirikow’s aus dem Hafen von Petropawlowsk ab – um schweren Zeiten entgegen zu sehen. Ein von der Hand Steller’s geführtes Tagebuch gibt über die unglücksreiche Reise ausführliche Auskunft. Die beiden Schiffe wurden sehr bald von einander getrennt – das Schiff St. Peter mit St. erreichte am 20. Juli (a. St.) eine kleine an der Westküste Nordamerikas gelegene Insel, die den Namen St. Elias erhält. – Ein Boot wird abgesandt, um frisches Wasser zu holen, – St. geht mit ins Land und benutzt den kurzen Aufenthalt auf amerikanischem Boden zum Sammeln, so gut er kann; am nächsten Tage wird die Rückfahrt angetreten, denn das erstrebte Ziel, Amerikas Küste, ist erreicht worden. St. ist unwillig darüber: dazu hat er die weite Reise unternommen, um einige Stunden in Amerika zu verbringen? Bering aber eilt zurück, um nicht von der hereinbrechenden schlechten Jahreszeit leiden zu müssen. Allein es ist zu spät: Stürme, Unwetter, Ungemach aller Art, Krankheiten, Skorbut, stören und hemmen die Rückfahrt – die Hoffnung, Kamtschatka zu erreichen, wird immer geringer. Endlich am 6. Novbr., nach 3½-monatlicher Irrfahrt, ist Land in Sicht, am 7. Novbr. geht St. ans Land, das Schiff wird vom Sturm ans Ufer geworfen, die Schiffbrüchigen müssen sich zur Ueberwinterung entschließen, denn das Land ist nicht das erhoffte Kamtschatka, sondern die heutige Berings-Insel. Am 8. December 1741 stirbt der Commandeur Bering, und ihm folgen viele der Mannschaft nach: Mangel, Blöße, Frost, Nässe, Ohnmacht, Krankheit, Ungemach sind die täglichen Gäste der Schiffbrüchigen. – Die 46 Ueberlebenden bauen sich endlich aus den Resten des alten Schiffes und aus angeschwemmtem Treibholz ein neues Fahrzeug und verlassen nach zehnmonatlichem Aufenthalt am 14. Aug. 1742 die Insel. Und wie hat St. diese schwere, entbehrungsvolle Zeit ausgenutzt! Er hat seine berühmten Beobachtungen an Meerthieren damals gemacht und niedergeschrieben; er hat die bald darauf gänzlich verschwundene Rhytina borealis (die Steller’sche Seekuh) in vortrefflicher Weise untersucht und beschrieben. Am 27. August langten St. und seine Begleiter im Hafen von Awatscha an; die Seeofficiere fuhren sofort nach Ochotsk. St. dagegen wanderte zu Fuß von Petropawlowsk nach Bolscheretzk, wo er – nach 1½-jähriger Abwesenheit – völlig unerwartet eintraf. Man hatte ihn längst für todt erklärt und in diesem Sinne nach St. Petersburg berichtet. St. blieb ruhig noch zwei Jahre in Kamtschatka, um seine durch die Bering’sche Expedition unterbrochenen Studien wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Während dieser Zeit durchstreifte St. das Land Kamtschatka nach allen Richtungen; er machte sogar noch einmal einen Ausflug nach der Berings-Insel, um länger daselbst zu verweilen; allein er kam auch mit den russischen Verwaltungsbeamten in allerlei Zwistigkeiten, die für ihn später sehr verhängnißvoll werden sollten, denn sie gaben Anlaß, daß man ihn in St. Petersburg verklagte. Am 3. August 1744 verließ St. mit 16 Kisten Naturalien das ihm lieb gewordene Kamtschatka, segelte nach Ochotsk und kam am 21. October in Jakutsk an, blieb ein ganzes Jahr hier, reiste dann nach Irkutsk, wo er sich gegen allerlei Anklagen zu verantworten hatte. Nachdem St. für unschuldig befunden war, konnte er endlich am 25. December 1745 seine Weiterreise antreten. Im März 1746 war er in Tobolsk und weiter über Tjumen und Werchoturje bereits in Solikamsk im Gouvernement Perm angelangt, woselbst er [36] die Flora dieses Gebietes erforschen wollte. Da holt ihn am 16. August 1746 der Courier Lupandin ein und nöthigt ihn nach Jakutsk zurückzukehren, um sich daselbst zu rechtfertigen. Es war damals noch nicht in St. Petersburg bekannt geworden, daß St. unschuldig befunden war. St. muß umkehren, von all seinen Sachen entblößt, – ohne Geld, – denn alles ist schon nach Moskau vorausgeschickt. In Tara am Irtysch, halbwegs zwischen Tobolsk und Tomsk, holt ihn ein zweiter Courier ein, der, aus Petersburg abgesandt, die Meldung der unterdessen daselbst eingetroffenen Freisprechung Steller’s bringt. St. unterbricht die Fahrt nach Osten, kehrt fröhlich und heiter nach Westen um, erreicht Tobolsk, erkrankt daselbst, setzt nichtsdestoweniger seine Fahrt bis Tjumen fort, hier stirbt er am 12. November 1746, 37 Jahre alt. Am hohen Ufer der Tara wird seine Leiche in die Erde gesenkt. –
Steller: Georg Wilhelm St. (eigentlich Stoeller), Naturforscher und Reisender, wurde am 10. März 1709 in der damals k. freien Reichsstadt Windsheim a. d. Aisch geboren. Ueber seine Eltern und Vorfahren ist nichts bekannt; sein Bruder Ferdinand Christian St. war Arzt in Sangerhausen. Schon während der Schulzeit zeichnete sich Georg Wilhelm durch seine bedeutenden Anlagen, durch außerordentlichen Fleiß und durch Interesse für die Naturwissenschaften aus. Als Abiturient hielt er eine Rede über den Nutzen der Physik nebst Bemerkungen über Donner und Blitz. Dann bezog er die Universität zu Wittenberg, um sich der Theologie zu widmen, allein neben seinen theologischen Studien beschäftigte er sich mit Botanik, mit Anatomie, überhaupt mit den Naturwissenschaften. Später setzte er seine Studien in Leipzig und Jena fort, und ging zuletzt nach Halle, wo er Lehrer an der lateinischen Schule des Waisenhauses wurde und außerdem Vorlesungen über Botanik hielt. Auf den Rath des Professors Hofmann wandte er sich nach Berlin (1734) und ließ sich in dem Collegium medico-chirurgicum prüfen, bekam ein glänzendes Zeugniß, aber keine feste Anstellung. Mittel hatte St. keine, aber Kenntnisse, Muth, Selbstvertrauen und den dringenden Wunsch, fremde Länder zu sehen. Er begab sich nach Danzig, das unterdessen in die Hände der Russen gefallen war,Steller’s Lebensschicksale sind tragisch: ein begabter, kenntnißreicher, geistig regsamer Forscher, ein liebenswürdiger, heiterer, genügsamer, bescheidener Mensch, zieht er in die Ferne, weil die Heimath ihm keine geeignete Stellung zu bieten vermag. Vielfach von Krankheit heimgesucht, von seiner Frau verlassen, von Ungemach und Noth verfolgt, von Schiffbruch betroffen, verliert er niemals den Muth, arbeitet mit Eifer und Erfolg auf dem Gebiete der Naturkunde – und als er endlich alle Klippen umschifft zu haben scheint, da geht sein Lebensschifflein unter.
St. hat sehr viele Abhandlungen, Untersuchungen und Beobachtungen niedergeschrieben, aber von allen diesen Sachen ist doch nur wenig gedruckt. Das Wenige, was bei seinen Lebzeiten gedruckt worden ist, hat St. nicht zu Gesicht bekommen. In Vol. I Musei imperialis Petropolitani (pars 2) St. Petersburg 1745 ist ein von Steller angefertigter Katalog der Herbarien Ruysch und Amman’s enthalten. Andere Abhandlungen sind in dem III. und IV. Band der Nov. Comment. zu finden. Die berühmteste Abhandlung Steller’s ist die „De bestiis marinis“, abgedruckt in den Novi Commentarii Academiae Petropolitanae II, 289–398. St. Petersburg 1751. Ein Auszug daraus ist in deutscher Sprache erschienen, der Uebersetzer ist unbekannt: „G. W. Steller’s ausführliche Beschreibung von sonderbaren Meerthieren, mit Erläuterungen und nöthigen Kupfern versehen“ (Halle 1753, 218 S., 8°). Ferner ist gedruckt: „G. W. Steller’s Beschreibung von dem Lande Kamtschatka, herausgegeben von J. B. S. [Scherer]“ (Frankfurt und Leipzig 1774). In Pallas’ neuen nordischen Beiträgen II, 285–301 ist abgedruckt: „Topographische und physikalische Beschreibung der Bering-Insel“, und im V. und VI. Band „Steller’s Reisen von Kamtschatka nach Amerika mit dem Commando-Capitain Bering“. Damit sind aber keineswegs alle litterarischen Arbeiten Steller’s genannt. Krascheninnikow hat ein 62 Nummern zählendes Verzeichniß der Handschriften Steller’s zusammengestellt. –
Eine ausführliche Lebensgeschichte Steller’s ist noch nicht geschrieben, obwohl viel Material dazu vorhanden ist, das größtentheils in dem Archiv der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften liegt. Auf Grund dieser Documente hat P. Pekarski in seiner (russischen) Geschichte der k. Akademie der Wissenschaften zu St. Peterburg I. Bd. (St. Petersburg 1870, S. 587–616) eine kurze, aber authentische Biographie Steller’s geliefert. Die in deutschen zeitgenössischen Berichten enthaltenen Mittheilungen über St. sind vielfach unrichtig und ungenau; sie sind meistens auf die Biographie Steller’s zurückzuführen, die Scherer als Einleitung der Beschreibung Kamtschatka’s vorausgeschickt hat; diese Lebensbeschreibung enthält aber viele Unrichtigkeiten, die bereits damals zum Theil unmittelbar nach dem Erscheinen jenes Buches zurückgewiesen wurden.