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Artikel „Sievers, Eduard Wilhelm“ von Wilhelm Wetz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 340–343, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sievers,_Eduard_Wilhelm&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 02:13 Uhr UTC)
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Sievers: Eduard Wilhelm S. wurde am 19. März 1820 in Hamburg als der fünfte von sieben Söhnen des Großhändlers C. F. Sievers geboren und erhielt seine Vorbildung auf dem dortigen Johanneum. Seit Ostern 1839 studirte er in Halle, Berlin und Bonn hauptsächlich classische Philologie und promovirte in Erlangen mit einer Dissertation De imperio Odrysarum commentatio (Bonn 1842), die er seinem Vetter, dem Professor am Johanneum G. R. Sievers, dem Verfasser einer Geschichte Griechenlands vom Ende des peloponnesischen Krieges bis zur Schlacht bei Mantineia, widmete. An der gleichen Anstalt unterrichtete er dann auch selber. Bei dem großen Brande, welcher im Mai 1842 in Hamburg wüthete, zog er sich durch seine Theilnahme an den Lösch- und Rettungsarbeiten eine ernste, sich stetig verschlimmernde Krankheit zu, zu deren Heilung er schließlich die Wassercur unter Dr. Piutti in Elgersburg, und zwar mit solchem Erfolg anwandte, daß er nach sechsmonatlichem Aufenthalt im Januar 1845 die Anstalt, die er als ein Krüppel betreten hatte, völlig geheilt verlassen konnte. Dieser Aufenthalt in Elgersburg wurde für seinen weiteren Lebensgang entscheidend. Denn hier wurde er mit dem Oberconsistorialrath Dr. E. Jacobi, dem damaligen interimistischen Director des Realgymnasiums zu Gotha bekannt, der seinen Uebergang an diese Anstalt als Lehrer der neueren Sprachen zu Ostern 1845 bewirkte. S. gab die glänzendere Stellung und größere Wirksamkeit, die ihm in seiner Vaterstadt winkten, auf, weil er in dem schönen thüringischen Städtchen mehr Muße und Sammlung zur Pflege seiner wissenschaftlichen Interessen zu finden hoffte. Er blieb der Stadt und der Schule, für die er sich entschieden hatte, dauernd treu. Bei der Vereinigung der beiden Gothaer Gymnasien (1859) wurde er zum Professor ernannt, 1885 kam er um seine Versetzung in den Ruhestand ein und erhielt sie unter Verleihung des Titels Hofrath. Seine letzten Jahre waren durch quälende Leiden verdüstert, von denen ihn der Tod am 9. December 1894 erlöste. Das Jahr Achtundvierzig regte seinen Geist mächtig an und er wirkte mit Wort und Schrift für die freiheitliche Bewegung, wie er auch mit seinen näheren Bekannten in die Bürgerwehr Gothas eintrat. Das Interesse für politische Fragen hat er sich zeitlebens bewahrt und von seinem tiefen Nachdenken über sie legen fast alle seine Arbeiten Zeugniß ab. Im Herbst 1849 gründete er seinen eigenen Hausstand und widmete sich von der Zeit an außer seinem Amt hauptsächlich seinen Studien, die mehr und mehr ihren Mittelpunkt in Shakespeare gefunden hatten.

S., der als Philologe begonnen hatte, wandte sich bald einer mehr philosophischen Betrachtung der Litteratur zu, die ihr Augenmerk namentlich auf [341] die psychologischen und ethischen Probleme richtete, die den Werken der großen Dichter zu Grunde liegen. Die Abkehr von der Philologie war so vollständig, daß er selbst in den Textausgaben zweier Shakespeare’scher Stücke, des Othello und des Julius Cäsar, sich weniger um die Erklärung des Wortsinns und Beobachtung des Sprachgebrauchs, als um die Erläuterung der Absichten des Dichters bemüht zeigt. Besonders war es Shakespeare, der ihn früh anzog und dauernd fesselte, und dessen dichterischem Schaffen, von einer als Manuscript gedruckten Gelegenheitsrede: Ueber die Tragödie überhaupt und Iphigenie in Aulis insbesondere (Hamburg und Gotha 1847) abgesehen, seine wissenschaftlichen Arbeiten ausschließlich galten.

Zunächst waren es die großen Tragödien, die ihn beschäftigten. Von 1849 ab veröffentlichte er in rascher Folge verschiedene Aufsätze in Herrig’s Archiv für das Studium der neueren Sprache, in Rötscher’s Jahrbüchern für dramatische Kunst und in einem Programm seiner Schule, in denen er eine neue Auffassung des Hamlet, des Othello und Heinrich’s des Vierten begründete, und gab dann heraus: „Shakespeare’s Dramen für weitere Kreise bearbeitet“. 1. Hamlet. 2. Julius Cäsar. 3. König Lear (1851). 4. Romeo und Julie (1852, Leipzig). 5. Othello (1853, Braunschweig). Es war das ein Versuch, durch eine halb erzählende, halb analysirende Wiedergabe des Inhalts das Verständniß dieser Dramen einem größeren Publicum zu erschließen. Schon in diesen ersten Arbeiten erkennen wir die Vorzüge wie auch die Mängel, die diesen Shakespeareforscher kennzeichnen, nur jene schwächer und diese stärker ausgeprägt, als sie sich später zeigen.

S. war ein philosophischer Kopf mit einer stark speculativen und constructiven Anlage, der die philosophische Bewegung der Zeit, in die seine geistige Entwicklung fiel, vielleicht nur allzusehr entgegenkam. Die geschichtsphilosophische und ästhetische Speculation der Hegel’schen Schule hat wenigstens in diesen seinen ersten Arbeiten stark auf ihn gewirkt, und zwar ist es weniger der Meister als die Schüler wie Rötscher und Fr. Th. Vischer, an die er anknüpft. Mit diesen hat er gemein die ganze Art der Betrachtung, die von allgemeinen Begriffen herabsteigt zu den Erscheinungen des Kunstlebens – in seinen Gedanken ist er aber durchaus original und unseres Erachtens tiefer als die genannten beiden Aesthetiker. Manche der Auffassungen von Personen und ganzen Dramen, die er zuerst vortrug, wie die des Hamlet, die er in Einzelheiten später berichtigte, die des Julius Cäsar, des Othello, sind auf dem Wege sich langsam durchzusetzen und dürfen als eine dauernde Bereicherung der Shakespeareforschung gelten. Durch starken Wahrheitssinn und Ernst ausgezeichnet, sucht er gerade die schwierigsten Probleme auf und wird ihrer oft besser Herr als einer seiner Vorgänger. Sievers’ Arbeiten verfehlten ihren Eindruck auf die Zeitgenossen nicht und fanden Beachtung neben dem kurz vorher erschienenen Shakespeare von Gervinus, gegen dessen äußerlich moralische Auffassung des großen Dichters S. wiederholt Stellung nehmen mußte. Ihre Form kann im allgemeinen nicht als glücklich bezeichnet werden. In den Aufsätzen zwingt uns die hegelisirende Art der Darstellung oft, schöne und werthvolle Gedanken aus einem Wust von krauser Gelehrsamkeit und scholastischen Formeln herauszusuchen, in der Bearbeitung der Dramen für weitere Kreise stört das Schwanken zwischen Analyse und Erzählung, besonders da S. die Handlung bisweilen in die Vergangenheit verlegt und gelegentlich sogar die Mittel eines novellistischen Darstellers verwendet. –

Nach diesem kräftigen Anlauf zur Bewältigung einiger der wichtigsten Probleme, die Shakespeare dem Forscher stellt, folgte eine Periode der Sammlung, in der S. besonders ein neues Problem in seine Betrachtung hereinzog [342] die Frage nach der Natur des Dichters, der hinter diesen Werken steht. In großen Zügen skizzirte er die gewonnenen Resultate in der Gelegenheitsrede: „Shakespeare’s Geistesleben, in seinen Grundzügen dargestellt (Herrig’s Archiv 1859, Band 25, S. 311–366), die zum Schönsten gehört, was S. geschrieben hat und eine weitere Bedeutung noch dadurch erhält, daß er hier auch die Werke aus der letzten Schaffensperiode des Dichters berücksichtigt, über die er später nicht mehr gehandelt hat. Die weitere Ausführung und Begründung sollte ein größeres auf zwei Bände berechnetes Werk bringen. Im J. 1866, durch eine Krankheit des Verfassers um ein Jahr verzögert, erschien: „William Shakespeare, sein Leben und Dichten“. 1. Band. (Gotha, später Berlin.) „Ich will versuchen,“ erklärt S. in der Vorrede, „ein Bild zu entwerfen von dem weltgeschichtlichen Menschen Shakespeare, von seinem Ringen und Streben und von seiner Weltanschauung; ich will zeigen, welche großen allgemein menschlichen und doch wieder tief persönlichen Interessen ihn zum Dichten antrieben und begeisterten und welches die ewigen Wahrheiten sind, das „weltliche Evangelium“, das er als echter Dichter der Menschheit verkündigt und in dem er selbst sein Glück oder doch seinen Frieden gefunden hat. Ich will also von seinen Werken vordringen zu ihm selber.“

Die Aufgabe, die S. sich hier stellt, war vorher und ist seitdem von Männern der verschiedensten Richtungen wie Kreyssig, Rümelin, Lewes, Elze u. A. wegen der Objectivität des Dichters als unlösbar bezeichnet worden. Glanzstücke sind nun die Ausführungen von S. in dem Capitel: „Charakter der Dichtung Shakespeare’s. Methode seines künstlerischen Schaffens“, in denen er nachweist, daß die Objectivität für den dramatischen Dichter, wie S. an einem anderen Orte bemerkt, nichts anderes ist als die Form, in der er sein Inneres aus sich herausstellt. S. geht noch einen Schritt weiter und ist hier weniger glücklich: er glaubt aus der Beschäftigung mit einem bestimmten Stoff nicht nur das augenblickliche Interesse des Dichters für das darin enthaltene Problem entnehmen, sondern auch den Zeitpunkt bestimmen zu können, wo die in dem betreffenden Werk niedergelegte Erkenntniß dem Dichter aufgegangen ist. Jene vorhin erwähnte Aufgabe hat aber S. nicht nur klar erkannt, man kann sagen, daß er sie zuerst in wissenschaftlichem Geist in Angriff nahm und fast der Einzige ist, der überhaupt brauchbare Beiträge zu ihrer Lösung geliefert hat. Nie sind die leitenden Ideen, die sich durch alle Werke Shakespeare’s als gemeinsames Band hindurchziehen, so klar erkannt, niemals seine Stellung zu politischen und religiösen Fragen so richtig dargelegt und beurtheilt worden. Die Bedeutung von Sievers’ Buch beschränkt sich nicht darauf, daß es die Anschauungen Shakespeare’s und ihr Werden darzulegen versucht – auch in der Betrachtung der einzelnen Stücke bietet es sehr viel des Neuen, Eigenthümlichen und Treffenden und die Analysen einzelner Werke, wie des Kaufmanns von Venedig, von Romeo und Julie und des Hamlet gehören zum Werthvollsten, was überhaupt über Shakespeare’sche Stücke geschrieben wurde. Namentlich verdient die des Hamlet Hervorhebung, in der sich schon alles findet, wodurch später Hamlettheorien wie die von H. Türck und Kuno Fischer ihr Glück gemacht haben. Die Schwächen, die Sievers’ früheren Arbeiten anhaften, sind hier großentheils überwunden, und namentlich erstrebt und erreicht die Sprache eine edle Popularität.

Das Buch erschien zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Sievers’ Shakespeare fand zwar eifrige Lobredner, die seine großen Vorzüge nachdrücklich hervorhoben; dennoch wurde es anfangs beinahe übersehen und später fast vergessen. Leider blieb auch der zweite Band aus, der die Aufmerksamkeit vielleicht von neuem darauf gelenkt hätte.

[343] Das Ausbleiben des zweiten Bandes wurde nach Sievers’ eigener Erklärung nicht in erster Linie durch die ungünstige Aufnahme des ersten, sondern mehr noch durch überkritische Strenge gegen sich selbst, zum Theil auch dadurch bewirkt, daß neue Auffassungen, die ihm bei der Beschäftigung mit früheren Dramen im Fortgang der Arbeit gekommen waren, ihn zu eingehenden Studien auf abgelegenem Gebiet veranlaßten. Auch nach seinem Rücktritt von der Schule ging er zunächst nicht an die Ausarbeitung seiner Ansichten, sondern begann diese erst im Jahre 1892, von jüngeren Freunden gedrängt, die nachdrücklich auf die Bedeutung seines Shakespeare’s hingewiesen und dessen Nichtvollendung bedauert hatten. Trotz eines schweren Kopfleidens, das ihm anhaltendes Arbeiten, ja oft Arbeiten überhaupt unmöglich machte, begann er die noch folgenden Historien zu behandeln, die den zweiten Band hatten eröffnen sollen, und führte ihre Betrachtung mit Aufbietung seiner letzten Kräfte zu Ende. Es sind selbständige, aber in enger Beziehung zu einander stehende Studien, deren Veröffentlichung er nicht mehr erlebte. Die eine, dem König Johann gewidmet, erschien in Kölbing’s „Englischen Studien“ (1894. Band 20, S. 220–265) unter dem Titel: „Shakespeare und der Gang nach Canossa“, die andere behandelt Richard II., Heinrich IV. und Heinrich V. und erschien in Buchform: „Shakespeare’s zweiter mittelalterlicher Dramen-Cyklus“. Mit einer Einleitung von W. Wetz. (Berlin 1896.) Auch in diesen Arbeiten ist die Tiefe und der Gedankenreichthum von S. nicht zu verkennen und sie zeigen sich besonders in der Behandlung des politischen Problems: die viel umstrittene Frage nach Shakespeare’s Stellung zum Legitimitätsprincip hat durch S. ihre endgültige Antwort gefunden. Ebenso stellen auch die Ausführungen über das Drama Richard II., über den Charakter des Königs und über das Gottesgnadenthum bei Shakespeare das früher hierüber Gesagte in den Schatten. Auch über andere Charaktere, wie namentlich die der Personen des Königs Johann, erhalten wir eine Fülle des Neuen und Ueberzeugenden. In der größeren Schrift fordert jedoch auch Vieles zum Widerspruch heraus, wie namentlich die Hereinziehung der Johanneischen Logosidee: der Entwicklungsgang des Königthums, wie er sich in der verschiedenen Stellung der Könige zum Staat in den vier Theilen dieses Cyclus nach S. darstellt, soll ihm gleichzeitig auch den Entwicklungsgang der Menschheit und die Fleischwerdung des Wortes versinnbildlichen.

Vgl. meine Einleitung zu dem Zweiten mittelalterlichen Cyclus (1896), ferner die Nekrologe von Oberschulrath Dr. A. v. Bamberg (Programm des Herzogl. Gymnasium Ernestinum zu Gotha 1895) und von Dr. Walter Bormann (Shakesp.-Jahrb. XXXII, 1896); von dems. auch Ed. W. Sievers und seine letzten Shakespeare-Forschungen (Beil. d. Allgem. Ztschr. 1896, Nr. 85 u. 86).