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Artikel „Schmid, Ferdinand“ von Daniel Jacoby in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 77–83, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schmid,_Ferdinand&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 18:04 Uhr UTC)
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Schmid: Ludwig Ferdinand Sch., als Dichter unter dem Namen Dranmor eingeführt, wurde geboren am 22. Juli 1823 auf dem Landgute Mettlen unweit Bern, † in Bern am 17. März 1888. In den siebenziger und im Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts viel gerühmt, wird er heute von nur Wenigen gekannt und genannt, die für diese eigenartige Persönlichkeit Sinn und Verständniß haben. Ein weltbürgerlicher Poet, war er doch für Deutschlands Ruhm, Macht und Wohlfahrt begeistert und nicht bloß im Gedichte dafür thätig. Schon 1858 fordert er in dem Gedichte „Eine Nachtwache“ Frieden für die Welt und sieht das Heil in neuen Handelswegen, Handelsflotten und Colonien:

Eine blüthenvolle Zukunft, Lorbeern, die kein Feldherr fand,
Harren deiner tapfern Söhne, o mein deutsches Vaterland!
Nirgends grünen Paradiese; doch befreit von Hungersnoth,
Wird ein junges Volk gedeihen in der Tropen Morgenroth.

„Schweizerischer Nationalität, aber germanischer Abstammung“, sagt er im Entwurf eines Vorworts zur 4. Auflage seiner Gedichte, „bin ich in meiner ganzen Richtung vielleicht allzusehr in dem Panzerhemde eines ‚Weltbürgers‘ heimisch geworden. Immerhin hat sich der mir hin und wieder vorgeworfene ‚teutonische Anflug‘ in den Kriegsjahren 1870 und 1871 als ein solcher bewährt.“

Sein Vater, ein Württemberger, war als Jüngling nach Bern gekommen und dort Bürger geworden, seine im J. 1800 geborene Mutter Amalie Elisabeth Sprüngli entstammte einer bürgerlichen Familie von Bern. Neben drei Schwestern, die der Dichter innig liebte, blieb er der einzige Sohn. Seine früheste Kindheit verlebte er in großer Natur: die Schneegebirge hatte der träumerische Knabe vor Augen. Einer seiner Lehrer an der Realschule in Bern war der treffliche Poet Ludwig Seeger, von dem er Verse in seinem „Dämonenwalzer“ anführt. Durch des Vaters im J. 1840 erfolgten Tod – er wurde 56 Jahre alt – sah sich der siebzehnjährige Jüngling, da das früher blühende Bankgeschaft zurückgegangen war, genöthigt, bei dem nur ungern ergriffenen Berufe des Geschäftsmanns zu verbleiben. Das schöne, rührende Lied „Ich mochte schlafen gehn Dort auf den grünen Matten“ vom Jahre 1841, das Dranmor der Aufnahme in seine Gedichte u. d. T. „Ein Blatt aus der Knabenzeit“ mit Recht gewürdigt hat, spiegelt seine Stimmung und bezeugt die tief melancholische Anlage des Dichters. In Basel und in Vevey verlebte er seine Lehrlingszeit. Aber im J. 1843 reiste er, von kühnem Thatendrang beseelt, mit einem Segelschiff nach Brasilien. Das Buch des tapfern Captain Trelawney Adventures of a younger son beflügelte seinen Muth und seine Hoffnungen. Arbeit und Mühe ums tägliche Brot stählten seine Kraft: in Santos ward ihm die Leitung eines Exportgeschäfts anvertraut, in Rio de Janeiro trat er als Gesellschafter in ein großes Handelshaus. Als dieses zusammenbrach, richtete er sich durch kaufmännische Begabung und zähen Fleiß wieder empor. Im J. 1847 reiste er um die Welt, vier Jahre später lernte [78] er in Geschäften fast ganz Europa kennen: 1852 ernannte die österreichische Regierung den 29jährigen Schweizer zum österreichisch-ungarischen Generalconsul für Rio. Mit stolzer Freude betrat er drei Jahre später zuerst wieder den Boden seiner Vaterstadt. Im J. 1860 und wieder 1865 erschienen „poetische Fragmente von Dranmor“ bei Brockhaus in Leipzig. Den Dichternamen erklärt er selbst, freilich wenig überzeugend: „der älteren normännischen Volkssprache entnommen, bedeutet er droit à la mer, und ich wollte damit den stürmischen Drang bekunden, der mich hinaustrieb in die weite Welt.“ Die Gedichte zeigte Alfred Teniers, dem wir wichtige Nachrichten über D. verdanken – einige Irrthümer sind stillschweigend berichtigt –, in der Wiener „Neuen Freien Presse“ am 24. März 1865 an. Seine Gedichte, meint er, erinnern an Freiligrath und Lingg, beide aber übertreffe er an Wahrheit, Innerlichkeit und richtigem Verständniß der unabweislichen Forderungen der Zeit. Diese Anzeige brachte ihn mit dem Dichter zunächst in briefliche Berührung. Aus Brasilien erhielt er von ihm im October 1865 u. a. die Nachricht, er befinde sich in glänzenden Verhältnissen und sei glücklich verheirathet. Lise Aglae Marque aus Rouen, geboren 1826, die seine deutschen Verse nicht lesen konnte, hatte trotz ihrer bewegten Vergangenheit sein Herz gewonnen; er enthob sie traurigen Verhältnissen, öffnete ihr sein gastliches Haus und ertrug geduldig ihre quälende Eifersucht, ihre nervöse Kränklichkeit und ihre kindlichen oder vielmehr kindischen Schrullen. Im J. 1868 erst ließ er sich mit ihr in Rio trauen: wer seine Geständnisse im Gedichte „Lise“ (1864) hört, wird die edle Denkart des Dichters wie die Schwächen der Französin leicht erkennen. Als Maximilian von Oesterreich, mit dem D. verkehrt hatte, seinem tragischen Geschick im J. 1867 erlegen war, stimmte D. seine Todtenklage über den „deutschen Hamlet“, den „blonden Caesar an, „der sich als Held erprobt“. Er selbst nennt das im August 1867 in Rio verfaßte längere Gedicht von 20 Strophen eine Improvisation und kennzeichnet es als den „vulkanischen Ausbruch innigster Theilnahme an einem tragischen Schicksal“. Im Feuilleton der „Neuen Freien Presse“ erschien es zuerst, dann ließ er es durch seinen Freund Teniers in Raab drucken (1868). Brieflich theilte er Teniers mit, er beabsichtige seiner leidenden Gattin wegen seine Geschäfte in Brasilien sicheren Händen zu übergeben und nach Europa überzusiedeln. Wirklich übergab er nach großen geschäftlichen Verlusten die Führung des Hauses Ferdinand Schmid, seinem Freunde Groß, für den er die Nachfolge im Generalconsulat erwirkte, und ließ sich dann 1868 in Paris nieder. Dort besuchte ihn Teniers in der Rue Auber und lernte seine Gattin kennen: „eine kleine, zierliche, meist schweigsame Dame, deren Antlitz Spuren großer Schönheit und vielleicht auch großer Stürme zeigt.“ Ihrer großen, ruhigen, dabei sehr traurigen Augen gedenkt Teniers und setzt hinzu: „auch Dranmor hatte so ruhige, aber tief traurige Augen“. Seine Gestalt erschien ihm ehrfurchtgebietend. Ende des Jahres 1868 theilte D. dem Freunde den Plan des „Requiem“ in der Originalhandschrift mit: im ersten Drittel des Jahres sind diese dem Tode gewidmeten Gesänge in Paris, der Stadt des Genusses, entstanden. Als Teniers Schilderungen der Tropen und des Meeres vermißte und ihn an seine Naturbilder in den Gedichten „Die Fischerhütte“ und „Waldleben“ erinnerte, erhielt er nach wenigen Wochen die neu entstandenen Gesänge des „Requiem“ Nr. XX, XXI und XXIII, in denen der Ocean mit aller leidenschaftlichen Gluth eines großen Herzens besungen wird. Da Cotta den Verlag ablehnte, erschien das „Requiem“ in 1000 Exemplaren gedruckt 1869; die 2. Auflage 1870 bei Brockhaus: in französische Prosa hat der Dichter das Werk selbst übersetzt. Von hervorragenden Männern, denen die Schrift zugesendet wurde, sprachen [79] nach Teniers’ Bericht besonders Anastasius Grün, A. Bube, Graf v. Schack, Johannes Scherr, L. A. Frankl ihre Anerkennung aus. Nach einigen Monaten folgte der „Dämonenwalzer“, den D., wenn wir der Erzählung des Schweizer Dichters Ernst Heller glauben wollen, höher als das Requiem schätzte. 1870 war er wieder auf Geschäftsreisen in Ungarn und zwei Jahre später sah ihn Teniers zum letzten Male in der nicht lange nachher versunkenen, dann wieder neuerbauten Stadt Szegedin. Im J. 1873 erschienen „Dranmor’s gesammelte Dichtungen“ in schöner Ausstattung bei Paetel in Berlin, mit den Worten Jean Paul’s als Motto: „Die Dichtkunst ist eine lange Liebe“. Die dritte, durch einige „herbstliche Blätter“ vermehrte Auflage 1879 enthalt das bedeutsame Vorwort; die vierte durchgesehene und durch 7 Gedichte vermehrte Auflage ist 1900, erst nach Dranmor’s Tod, bei Huber in Frauenfeld erschienen. Durch erneute Arbeit in der Fremde hoffte er sein Vermögen wiederzugewinnen, aber die Handelskrisis der siebenziger Jahre und Mißgeschicke aller Art zerstörten seine Hoffnung; 1879 schrieb er Teniers, der damals in Prag lebte, aus Brasilien, er betreibe ein kleines Kaffeeexportgeschäft, und im letzten Briefe an ihn vom 22. October 1881 aus Paris heißt es: „Unter dem Druck geistiger Leiden, Tag und Nacht heimgesucht von Zukunftssorgen, will ich Ihr gestern empfangenes, nach Rio gerichtetes Schreiben vom 30. August beantworten.“ Nach einem Citat Schopenhauer’s fährt er fort: „Ich bin 58 Jahre alt, innerlich gänzlich gebrochen, materiell von Grund aus ruinirt, aber ich arbeite ohne Unterlaß, nicht allein, weil mich die Nothwendigkeit dazu zwingt, sondern weil ich ohne anstrengendste Arbeit zu einem haltlosen Geschöpfe werde.“ Zwei schöne Nachdichtungen, die er übersendet, „Excelsior“ nach Longfellow und „Lied aus der Verbannung“ nach Gonçalves Dias finden sich jetzt in der genannten vierten Auflage S. 173 und 175. Im November desselben Jahres sahen ihn seine Verwandten in Bern wieder, aber da er dort keine Stellung erlangte, trieb es ihn wieder über das Meer. In Brasilien neue Arbeit ohne entscheidenden Erfolg; aber sein Ruhm als Dichter wuchs, so daß er am 1. November 1882 den Seinigen schreiben konnte: „Aus verschiedenen Ländern kommen Beweise der Anerkennung und des Verständnisses. Meine Dichtungen oder wenigstens einige davon sind ins Russische und Ungarische übersetzt … Trotz pecuniärer und commerzieller Schwierigkeiten bemächtigt sich meiner oft eine innere Freudigkeit, die umso sonderbarer ist, als sie jeder raison d’être entbehrt.“ In Rio als Mitarbeiter an der „Allgemeinen deutschen Zeitung“ für Brasilien thätig, trat er für eine des Deutschen Reiches würdige Colonisation in Brasilien ein. Am 11. Mai des folgenden Jahres klagt er, daß der pecuniäre Erfolg ausbleibe, aber „mein Muth, zu Zeiten unter Null, flammt immer wieder neu empor“. Schon 1885 faßt er den Entschlus zur Heimkehr: „Arm bin ich ausgezogen, arm kehre ich nach 42jährigem Exil zurück.“ Seine Bemühungen, zwischen dem Norden und seiner neuen Heimath eine geistige Verbindung herbeizuführen, bezeugen zwei kleine Schriften: die Pensées recueillies par Dranmor (Fernando Schmid) mit dem Motto des Augustinus „esse, vivere, intelligere“ ließ er 1886 zu Rio drucken (72 Seiten). In dieser Collection cosmopolite mit der Widmung an seinen Freund Karl v. Koseritz in Porto Allegre finden sich fast 300 ins Französische übersetzte Aussprüche von Schriftstellern aller Zeiten, besonders aber des 18. und 19. Jahrhunderts, auch weit über hundert von D. selbst. Einige von ihnen, in ihrer fast epigrammatisch zugespitzten Schärfe, sind als Niederschläge eigenster Erfahrungen anzusehen. Aehnliche Forderungen wie in seinen Gedichten vertritt er auch hier: er ist für die Leichenverbrennung, für den Schutz der Thiere. Die andere Schrift „Cosmos littéraire“, première livraison offerte à la [80] jeunesse Brésilienne mit der Genehmigung des Kaisers Dom Pedro II., erschien in Rio 1886 (93 Seiten); in ganz freier Bearbeitung sind Gedichte Longfellows, brasilianischer Dichter, Lenau’s, wie auch eigener („Eine Nachtwache“, Stücke aus dem „Requiem“, „Mercedes“) in treffliche französische Prosa übersetzt. Im Vorwort hält er die Werke Goncourt’s, Zola’s, Daudet’s zwar wenig geeignet für die brasilianische Jugend, bezeugt aber seine Sympathie für das sociale Mitgefühl dieser prophètes d’une nouvelle ère sociale et littéraire. Da auch sein letztes Unternehmen, die „Deutsch-Brasilianische Warte für freien Blick auf Land und See“ keinen Erfolg hatte, kehrte er 1887 gebeugt und gealtert in die Schweiz zurück. Was er im „Requiem“ (XX) gesungen, es war nun Wahrheit geworden:

Nach kurzen Tagen ist es Nacht geworden,
Mir sind besonnte Pfade abgeschnitten,
Ich bin gekommen, um im rauhen Norden,
Im Schneegestöber um ein Grab zu bitten.

Er lebte in Bern vereinsamt und zurückgezogen, von Wenigen verstanden. In dem von J. v. Widmann geleiteten Sonntagsblatt des „Bund“ erschien seine letzte Dichtung „Securitati perpetuae“: die drei, die Gedanken des „Requiem“ mit eindringlicher Wucht erneuenden Sonette finden sich jetzt in der 4. Ausgabe S. 215–217. Am 17. März 1888 machte ein Schlagfluß seinem Leben ein Ende. Im Berner Münster bereitete die Vaterstadt ihm eine würdige Todtenfeier: auf dem Ostermundiger Friedhof ruht der Dichter, der, ein Feind des Begräbnisses, im „Requiem“ gewünscht hatte, „himmelan zu lodern …, Statt eingesperrt in eines Sarges Wände In feuchter Erde langsam zu vermodern“.

D. ist ein durchaus moderner Dichter. Der Zeit, in der er lebte, gehörte er ganz. Seine Vorzüge wie seine Schwächen treten klar vor Augen, weil er sich gibt, wie er ist, und jede Maske verschmäht. Bei aller Verehrung der Classiker ist er sich der Berechtigung voll bewußt, neuen Anschauungen und Gedanken, die sein Innerstes bewegen, die Bahn zu brechen. Die jungen deutschen Dichter der achtziger Jahre hoben ihn auf ihren Schild. Im J. 1885 erschien ein interessantes Buch „Moderne Dichter-Charaktere“ mit Beiträgen junger Schriftsteller, von denen später Einige berühmt geworden sind. Für sie nahm H. Conradi einleitend das Wort, und nach ihm Karl Henckell. Sie wollten eine Erneuerung unserer Poesie: alles „Philosophisch-Problematische“ gehe ihr ab, aber auch alles „hartkantig Sociale“. „Unsere Lyrik spielt, tändelt“. Zu den Ausnahmen rechnet Conradi vor allen Dranmor. „Er ist eigentlich der einzige, der in seinen Dichtungen einen prophetischen, einen confessionellen Klang anschlägt …“ „Uns jüngeren Stürmern und Drängern, die wir alles epigonenhafte Schablonenthum über den Haufen werfen wollen, könnte D. wohl Meister und Führer sein, aber wir brauchen nicht blindlings seiner Spur zu folgen“ u. s. w. Erscheint auch dieses Lob zu überschwenglich, so kann ich doch Dranmor’s Bedeutung nicht treffender kennzeichnen als durch diese Anerkennung einer hochgestimmten Jugend, die dem Vielgeprüften, falls er sie zu Gesicht bekam, gewiß ein stolzer Trost war. Als einen Mann der That hat er sich gern betrachtet. Ohne rastlose Arbeit erschien ihm das Leben werthlos. Die „reichgeborenen Müsiggänger“ verachtet er, deren Welt „Weiber, Pferde, Histrionen“ sind. Die Geldgier, die des Denkers Schätze verschmäht, den Weisen verspottet, des Geistes Schwingen lähmt, Mannesehre und Manneswerth vernichtet, war diesem kühnen Kaufmann fremd, der ins Große zu wirken immer glühte, der Millionen besaß und wieder verlor. Aber angeborener Trübsinn und tiefes Gefühl der Unbefriedigung raubten ihm die [81] Lebensfreudigkeit. In der Jugend wie im Mannesalter eignen ihm eine Unruhe und Unzufriedenheit, die jede harmonische Klärung unmöglich machten. „Glückliche Tage“, sagt er selbst, „dürfen wir nicht beanspruchen, nur glückliche Stunden und Bruchtheile von Stunden. Harmonisch läßt sich kein Menschenleben gestalten.“ Mit Lenau verbindet ihn Schwermuth und große Reizbarkeit des Gefühls; mit einem anderen Oesterreicher, mit Anastasius Grün hat er die Neigung zu rhetorischem Pathos gemeinsam, dem die plastische Gestaltungskraft nicht selten fehlt. An Lenau erinnert jedoch am meisten seine dichterische Eigenart. Er ist zartfühlend, hochgestimmt, leidenschaftlich und freiheitliebend wie Lenau, auch er zählt sich zu den Auserwählten, die durch den Schmerz geweiht sind: „die Mehrzahl ist zu flüchtig und begehrlich“; wie Lenau schwebt auch ihm das Bild des Todes immer vor Augen; aber wenn auch nicht so mannichfaltig und farbenreich, so anschaulich und phantasievoll, er ist männlicher und kräftiger. Sein Trübsinn bohrt um so tiefer, als ihm die humoristische Stimmung ganz fremd ist, die in Lenau doch vorübergehend aufblitzt und ihn von dunkler Seelenqual und Grübelei befreit. Ein religiöser Denker in rhythmischen Formen, huldigt er, seinen eigenen Worten gemäß, „dem wahren Pantheismus, dem kein überirdisches Glück vorschwebt“. Von Schopenhauer nachhaltig beeinflußt, ist er dennoch kein Pessimist im gewöhnlichen Sinne. Trotz aller Leiden des Lebens, trotz der Angst, der Grundempfindung jedes lebenden Geschöpfes, wie er mit Schelling sagt, erscheint ihm diese Welt doch schön, „ihre Freuden sind selbst als Phantasiegebilde nicht zu verschmähen“. Die uns mit Entzücken und Rührung erfüllenden Wunder der Natur, die Erhabenheit des flammenden Firmaments „kann keine Philosophie in bloße Vorstellung auflösen“. Verzweiflung und Menschenhaß weist er trotz aller bitteren Erfahrungen von sich: „es lohnt sich nur zu lieben, nicht zu hassen“. Seine Religion ist die des Erbarmens; voll Liebe für die Armen, Heimathlosen und Verlassenen, verehrt er Goethe’s, „des Meisters“, Wort: „Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zum Himmel empor“ (Requiem XIV). „Glücklich sein ist glücklich machen, geben, was man selbst nicht hat“, ruft er im Gedicht „Eine Nachtwache“. Wenn das Schicksal es ihm gegönnt hätte, sagt er im Vorwort 1878, er würde menschliches Elend nicht mit zärtlichen Worten beklagt, sondern mit ersprießlichen Thaten gemildert haben. Jeder Frivolität fern, verehrt er Christus, den Glaubenshelden (Requiem IV und „Dämonenwalzer“ im Beginn), verwirft aber alle kirchlichen Tröstungen und Stützen und verzichtet ohne Schmerz auf den Glauben an eine individuelle Fortdauer jenseits des Grabes. Mit dem Muthe der Erkenntniß soll der Mensch trügerischen Hoffnungen entsagen, wirken und klaglos dahingehen:

Der Drang des Schaffens, der sich selbst genügt,
Die Selbstverleugnung, die uns selten trügt,
Das sind die Zeichen wahrer Gottesliebe.

Am kraftvollsten hat er in seinem „Requiem“ diese entsagungsvolle Lebensanschauung dargestellt, den Tod als Befreier, als die beste Zuflucht für den Denker gefeiert. Per laborem ad torporem war sein Wahlspruch; und wie G. Kinkel in seinem Gedicht „Nirwâna“ sehnt er sich, aber mit ergreifenderen Worten und in immer neuen Wendungen des Gedankens, aus der unruhigen Hast des Eigenlebens nach traumlos ewigem Schlummer. Auch wen in den 28 Nummern des „Requiem“ eine gewisse Eintönigkeit ermüdet, weil er fortschreitende Handlung vermißt, auch wem zuweilen Dunkelheit und Gedankensprünge auffallen, wen endlich auch seine rücksichtslosen Bekenntnisse [82] etwa verletzen, wird die Geschlossenheit seiner männlichen und edlen Persönlichkeit so wenig wie die Ehrlichkeit seiner Ueberzeugung verkennen und dem berückenden Zauber der Naturbilder, dem melodischen Fluß der gedankenvollen Verse nicht widerstehen. So dankt er „den großen Wassern“ für die Befreiung von Trübsal und Zerrissenheit, von Zweifeln und von Todesqualen in einem Hymnus, in dem die wohllautenden Sätze fluthend sich drängen, so wie der Ocean in langen Wogen dahinrollt.

Ein einsamer Schwärmer, wie er sich selbst nennt, ist D. trotz Lebenserfahrung und Menschenkenntniß immer geblieben. Er gab mehr, als er von den Menschen empfing. Von der Blutwärme seiner Kunst zeugen Gedichte wie „Heimweh“ und „Gebet“. Der Denker hat Heimweh die Krankheit einer schwachen oder erschöpften Seele genannt, der Dichter aber verlangt sehnsuchtsvoll aus dem sonnentrunkenen Süden nach den Bergen und den stillen Thälern des Vaterlandes, nach der heiligen Schwelle des Vaterhauses, die er mit seinen letzten Thränen benetzen möchte. Und im „Gebet“ ist der Freidenker Dichter genug, um im Nothschrei eines gequälten Herzens zu dem Allmächtigen zu beten, der seinen Stolz gebrochen und zu seinem Heil ihn erniedrigt hat. Auch die Liebesgedichte haben nichts Gemachtes, sind frei von dem „Gefühlsschwindel läppischer Minne“, über den er spottet. D. hat wirklich immer nur gedichtet, was er gefühlt hat. Die „Fischerhütte“, „An Helena“, „Auf dem Verdeck“ und andere Gedichte, die die Erinnerung an Mädchen der Schweizerheimath adelt, fesseln, außer durch den großen Wohllaut, durch den Reiz der Stimmung. Im Gedichte „Lise“ denkt man nicht bloß bei den Worten „Kind und Gattin bist du mir“ an Heine’s Verhältniß zu seiner Frau. Auch das vortreffliche Gedicht „Perdita“, dem er Heine’s Worte als Motto vorgesetzt hat: „das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst“, entsprang der Neigung zu der seiner unwerthen Frau. Und wie Heine seiner Mathilde ein dauerndes Denkmal gesetzt hat, so D. seiner Liebe im Liede „Ein Wunsch“. Der Schluß der fünfzeiligen Strophe wiederholt mit großer Kunst und doch ohne Künstelei den Anfang; nur die äußere Form hat er Charles Beaudelaire nachgebildet. Charakteristisch für seine Liebesgedichte ist das Fehlen der Sinnlichkeit. Selbst in dem kecken „Dämonenwalzer“, wo das Thema einen anderen Dichter zu ausschweifender Sinnlichkeit gedrängt hätte, tritt diese nicht vordringlich und absichtlich auf. Das Werk ist in lebhaften freien Rhythmen verfaßt und trotz formeller Anlehnung an Goethe und Heine durchaus eigenartig. D. ist hier anschaulicher und plastischer als sonst. Handlung steigert die Spannung: störend ist nur eine zu große Breite, besonders in Rede und Gegenrede der Liebenden. Einen bedeutenden modernen Tondichter könnte dieser „Dämonenwalzer“ zu einer großen Schöpfung reizen. Auch in ihm findet sich die seltsame Eigenheit Dranmor’s, daß er Verse anderer Dichter einflicht, hier Verse von Goethe, Heine und Seeger. Während alle Dichter sonst gegen jeden, auch berechtigten Nachweis von An- und Nachklängen so empfindlich sind, ist D. ursprünglich und kunstreich genug, um fremde Anregung ganz in sein Eigenthum zu wandeln und in aller Ehrlichkeit sogar selbst die Dichter zu nennen, die eine Stimmung in ihm erweckt oder sein Gefühl stärker entflammt haben. „Die häufigen Citate“, äußert er liebenswürdig, „sind Grüße aus der Ferne und aus geistiger Abgeschiedenheit: als Zeichen der Verehrung und Bewunderung an Lebende und Todte gerichtet.“ Wer aber die Geschmeidigkeit seiner Verse bewundert und sich ihres musikalischen Klanges erfreut, darf seine gewissenhafte Arbeit nicht übersehen. Denn mit heißem Bemühen hat der rastlose Kaufmann nach dem Kranze des Dichters gestrebt. „Ich wollte nichts übereilen“ hat er selbst gesagt. Und obwohl er [83] bescheiden das Ganze seines dichterischen Schaffens fragmentarisch nennt, er hat doch durch nimmermüden Fleiß und sorgfältigste Feile seine Sprachgewalt zu so hoher Kunst gesteigert. Das eingehende Studium der fremdländischen Dichter in ihrer eigenen Sprache erkennt der schärfer Blickende und wird ihm gern glauben, daß er „mit der Marter seines Gehirns der Natur einen mehr als gewöhnlichen Tribut gezahlt hat.“ Die hohe Begabung für die Form macht ihn zu einem unserer trefflichsten Uebersetzer oder besser Nachdichter. Nur die „Idylle“ frei nach A. Barbier, und die schönen „Strophen“ nach Tennyson: „Komm nicht, wenn ich gestorben bin“ brauche ich zu nennen, und wie empfindungswarm und klangvoll hat er das irische Volkslied „Robin Adair“, das er in R. Burn’s Gestaltung kennen gelernt hatte, nachgedichtet! Weniger glücklich ist er als epischer Dichter; nur einige Erzählungen, wie „Aus Peru“ in leicht dahingleitenden Terzinen und „Januario Garcia“, eine Novelle in Versen, die Garcia’s schreckliche Rache für einen gemordeten Knaben berichtet, erwecken größere Theilname. Die Beobachtung der äußeren Welt ist nicht die starke Seite dieses hervorragenden lyrischen Dichters. Mit seinem inneren Leide kämpfend, verstrickt in seines Herzens Trauerspiele, wie es im Gedichte „Trelawney“ heißt, hat er zu wenig das Verlangen gehabt, die bunte Mannichfaltigkeit der Dinge in sich aufzunehmen und mit anschaulicher Greifbarkeit darzustellen. Nach akademischen Schablonen darf man diesen einseitigen, aber tiefen Dichter nicht werthen. Zwar wird der Verfasser des „Requiem“ nie populär werden, aber auch in Zukunft für das geistige Ringen der neuen Zeit bedeutsam bleiben, und Freunde ernster Poesie werden seiner nicht vergessen.

Das für die 4. Auflage der Gedichte veränderte Vorwort ist wiederholt benutzt worden. – A. Terniers, „Einiges über Dranmor“: Die Gesellschaft, hg. von M. G. Conrad und K. Bleibtreu 1888, S. 326–333 und S. 397–412. – Moderne Dichter-Charaktere, hg. von W. Arent mit Einleitung von H. Conradi und K. Henckell. Berlin 1885. – R. Saitschick, Meister der schweizerischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Frauenfeld 1894. – F. Vetter, Ferdinand Schmid (Dranmor). Bern 1897. – Ueber die Gattin hat mir die (nun verstorbene) Schwester des Dichters, Marie Schmid, freundlich Bericht gegeben.