ADB:Rohrer, Joseph
Rohrer: Joseph R., Professor der politischen Wissenschaften und der Statistik in Lemberg, entstammte, wie aus seinen Schriften hervorgeht, einer in der Nikolsburger Gegend Mährens ansässigen und daselbst Weingüter besitzenden Familie. Er selbst wurde im J. 1769 als Sohn eines Beamten in Wien geboren und mit dieser Stellung seines Vaters scheinen auch seine ersten Domicilveränderungen zusammengehangen zu sein. Jedenfalls vollendete er seine Studien nicht, wie angegeben wird, in seiner Vaterstadt, sondern in Innsbruck, der Hauptstadt jenes Landes, welcher seine Erstlingsschrift („Ueber die Tiroler“, Wien 1796) gewidmet ist.
Im J. 1791 begann R. nach seinen eigenen Worten „bei dem Oberamte zu Bregenz am Bodensee seine bürgerliche Laufbahn“. Die Eindrücke, welche er hier, im Lande Vorarlberg empfing, sind tiefgehende gewesen. In allen seinen späteren Schriften tritt das Bild dieses Landes, zumal des Bregenzerwaldes, und seiner Bewohner in lebhaften Farben hervor; die Bodenseegegenden sind es, deren er nie ohne süße Wehmuth zu gedenken erklärt, und die Schilderung des Bregenzerwaldes will er in einer seiner glücklichsten Stimmungen entworfen haben. Um die Mitte der neunziger Jahre befand sich R. wahrscheinlich wieder in Wien, der Inhalt seiner zweiten Schrift („Neuestes Gemälde von Wien“, Wien 1797) deutet wenigstens mehrfach darauf hin. Dieser Aufenthalt ist aber keinesfalls ein lange dauernder gewesen, denn im J. 1797 finden wir R. schon in Galizien, und zwar in Lemberg.
Die Organisirung Galiziens durch die österreichische Regierung nach 1795 hat offenbar wie so viele andere Beamte auch R. in dieses Land geführt und diesem gehörte er nun durch drei Decennien, bis kurz vor seinem Tode an. Zuerst bekleidete er hier eine Commissärstelle in der Polizeiverwaltung. Wenn diese Stelle selbst ihm auch nicht genügt haben mag, so gab sie ihm doch Gelegenheit, Land und Leute kennen zu lernen, und insbesondere scheint sie jener mächtigen Reiselust förderlich gewesen zu sein, welche R. schon in den Jünglingsjahren bethätigt hatte und der er auch später treu blieb. Es ist daher leicht erklärlich, daß die von R. schon vordem auf dem Gebiete der Landeskunde entwickelte schriftstellerische Thätigkeit bei diesem Uebergange in neue, fremdartige Lebensverhältnisse vielfache Anregung fand, und so sehen wir in rascher Folge eine Reihe von Arbeiten [65] entstehen, welche R. nunmehr, mit Ablegung der bisher beobachteten Anonymität, zur Volks- und Landeskunde Oesterreichs, theils selbständig, theils in Liechtenstern’s Archiv für Geographie und Statistik und in anderen Zeitschriften erscheinen ließ. Den Anfang machte der „Versuch über die Bewohner der österreichischen Monarchie“, welcher die Deutschen, Armenier und Juden behandelnd, fast durch den ganzen Jahrgang 1803 des Liechtenstern’schen Archivs hindurchgeht. Von dieser großen Arbeit erschien im nächsten Jahre (1804) der Versuch über die Deutschen selbständig in zwei Theilen; daran schloß sich, zu einem ansehnlichen Bande erweitert, der Abschnitt über die Juden und, ebenfalls noch im J. 1804, in zwei Theilen ein „Versuch über die slavischen Bewohner“. Diesen Schriften zur Völkerbeschreibung der Monarchie, welche R. selbst als ein Ganzes, nämlich als ein „moralisches Gemälde des Staates“ bezeichnete, trat endlich in dem „Abriß der westlichen Provinzen des österreichischen Staates“ (Wien 1804) ein „physischer Abriß“ desselben zur Seite. Diesen großen Schriften und einigen kleineren Arbeiten in Liechtenstern’s Archiv („Ueber Armenwesen und Wohlleben in Beziehung auf die erbländische Industrie“ sowie „Ueber Bevölkerung und Belohnungen“ in gleicher Beziehung) gehen die „Bemerkungen auf einer Reise von der türkischen Grenze über die Bukowina durch Ost- und Westgalizien, Schlesien und Mähren nach Wien“ (Wien 1804) parallel, welche aus 21 Reisebriefen (dd. Suczawa, 20. November 1802 bis Wien, 15. April 1803) bestehen.
Ueberblickt man alle diese im Laufe eines Quinquenniums entstandenen Arbeiten, so muß man über die Fruchtbarkeit Rohrer’s staunen, welcher für seine schriftstellerische Thätigkeit, wie er selbst betont, nur die wenigen, von seinen Amtsgeschäften erübrigten Mußestunden zur Verfügung hatte. Das Ziel all dieser Schriften ist ausgesprochenermaßen ein praktisches, populäres. Nicht „für den kleinen Zwinger der Hörsäle“, sondern für ein ungleich größeres Publicum soll geschrieben sein und, das Interesse für den eigenen Staat zu wecken, ist der angestrebte Zweck. Begreiflicherweise trat bei diesen Darstellungen oft die Aufgabe besonders heran, den unbekannten Osten im Bilde vorzuführen; allein, so wohl bekannt mit dem Lande seines Aufenthalts sich R. immerhin hier erweist, die Absicht dauernden Verweilens in diesem Lande liegt ihm fern. In den oben erwähnten Reisebriefen ruft er sehnsüchtig nach den deutschen Ufern der Donau und drückt den Wunsch aus, es möchten zum Zwecke der Provinzialverwaltung Männer aus den Provinzen nach Wien berufen und ihm auf diese Weise die Heimkehr ermöglicht werden. Der von R. gewünschte Umschwung in seinen Lebensbahnen trat auch bald darauf ein, aber in einer ganz anderen Richtung; er wurde nämlich – Professor an dem Lyceum in Lemberg und damit fester an das Land Galizien geknüpft.
Im J. 1805 ordnete die österreichische Regierung das höhere Studienwesen Galiziens in der Weise, daß die Universität in Krakau constituirt werden und daneben die Hochschule in Lemberg als Lyceum fortbestehen sollte. An diesem Lyceum erhielt nun R. im J. 1806 die vereinigte Lehrkanzel der politischen Wissenschaften und der Statistik. Es war dies ein glänzender, vielleicht gar nicht erwarteter Erfolg des schriftstellerischen Wirkens, denn R., der nicht Doctor war, hatte ja außerhalb des akademischen Wesens gestanden, und dieser Erfolg war daher auch bestimmend für das ganze Leben. Als nach der Erhebung des Lemberger Lyceums zur Universität (1816) die Trennung der Lehrkanzel der Politik von jener der Statistik wie an den übrigen größeren Universitäten Oesterreichs stattfand, behielt R. nach den Regeln der vormärzlichen Studienrangordnung die politische Lehrkanzel und trat in den Jahren 1823 und 1824 (nach Prof. v. Hüttner’s Tode) auch als Ersatzmann auf dem statistischen Gebiete ein. Einen [66] Wechsel des Amtsortes hat er aber nicht mehr vollzogen. Wohl war er 1816 zum Professor an dem Lyceum in Olmütz ernannt worden, als dessen Professor er dann nominell durch drei Jahre erscheint, er trat aber die Stelle niemals an, sondern blieb aus einem uns nicht ganz aufgeklärten Grunde (vielleicht infolge der gleichzeitig erfolgten Erhebung des Lemberger Lyceums zur Universität) in Lemberg.
Wie in diesem Punkte, so erscheint aber auch in einem anderen, bedeutsameren der Lebensgang Rohrer’s von seiner Ernennung zum Professor an als ein wenigstens auf den ersten Blick auffälliger; die große schriftstellerische Rührigkeit Rohrer’s versiegt nunmehr nach wenigen Jahren. Die Jahrgänge 1808, 1809 und 1810 der „Vaterländischen Blätter“ hatten noch eine ganze Reihe von Aufsätzen aus seiner Feder gebracht („Ueberblick der Bauerschaft im österreichischen Kaiserstaate“, „Hochzeitsgebräuche der Rußniaken in Galizien“, „Beiträge zur Sittenkunde der Slaven im österreichischen Kaiserstaate“, „Notizen über den Przemysler Kreis in Ostgalizien“, „Statistische Skizze des Samborer Kreises im österreichischen Galizien“, „Die wallachischen Bewohner der österreichischen Monarchie“, „Uebersicht der Hutweiden im österreichischen Kaiserstaate“, „Territorial- und National-Größe des österreichischen Kaiserstaates“), desgleichen bringen die Jahrgänge 1810 und 1811 von Hormayr’s „Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst“ vier Arbeiten (eine akademische Rede „über die Wohlthätigkeit des Einflusses der österrreichischen Regierung auf das Königreich Galizien“, ein „Bruchstück einer Reise in die Marmaroser Gespanschaft“, eine „Prüfung des so benannten Bevölkerungsprincips in der Politik“ und eine Skizze über „Die Deutschen in Ungarn“); mit dem „politisch-arithmetischen Versuch über die Bukowina“ im Jahrgange 1812 der Vaterländischen Blätter brechen diese Publicationen aber ganz ab. Erst im letzten Jahre seiner öffentlichen Wirksamkeit tritt R. wieder als Schriftsteller vor die Oeffentlichkeit, und zwar mit einer groß angelegten „Statistik des österreichischen Kaiserthums“ (Wien 1827); dieses Werk ist aber, wohl infolge des vorzeitigen Todes des Autors, über den ersten Band nicht hinausgelangt. Die Vorarbeiten für dieses Werk mögen den Stillstand der litterarischen Veröffentlichungen während der vorausgegangenen Jahre zum Theil verursacht haben; zum Theil mag dieser Stillstand auch in dem Zwiespalt begründet sein, in dem sich Rohrer’s Lehrmission seit der Beschränkung derselben auf das Fach der Politik mit seinen schriftstellerischen, der Statistik zugewendeten Neigungen befand. Ausreichend erscheinen uns aber alle diese Erklärungsgründe nicht; wahrscheinlich sind noch andere Ursachen mit im Spiele gewesen.
Ueberblickt man Rohrer’s litterarische Thätigkeit im Ganzen, so tritt als charakteristische Eigenschaft vor allem die Beschränkung auf den Heimathsstaat hervor. Die Wahl des Studiengebietes ist sichtlich von dem alle anderen Gegenstände zurückdrängenden Interesse für den österreichischen Staat beherrscht, d. i. für jenen Staat, „welchem mit unwandelbarer Ergebenheit in seinen abwechselnden Schicksalen gedient zu haben“ R. zu seinem genossenen Lebensglück rechnet. Daß mit der Verehrung für Oesterreichs Regenten jene für Joseph II. vielfach zu besonderem Ausdruck gelangt, entspricht den Nachwirkungen von Rohrer’s Jugendzeit; die Schärfen des Josephinismus sind übrigens auch bei R. schon überwunden. Parallel mit dieser Staatsgesinnung geht die warme Empfindung für das deutsche Volksthum, zu dem sich R. stets mit Lebhaftigkeit bekennt. Die Erstlingsschrift über die Tiroler war aus diesem landsmannschaftlichen Geiste hervorgegangen, die größeren ethnographischen Arbeiten waren bezeichnender Weise durch die Untersuchungen über den deutschen Stamm eingeleitet worden, und auch in den späteren auf galizischem Boden entstandenen Schriften kommt [67] dies Stammesgefühl zu kräftigem Ausdruck. Mit der Liebe zu dem eigenen Volksthum verbindet sich aber bei R. in hervorragendem Maße das Streben und die Fähigkeit, sich in das Wesen fremden Volksthums zu versenken. Ja, er spricht es geradezu als seine Absicht aus, das Vorurtheil zurückzudrängen, welches die Bande bürgerlicher Eintracht wegen der Verschiedenheit der Geburtssprache zerstört. Mit diesem Bestreben tritt er zunächst an die Volksbeschreibung der Slaven heran und das Verständniß für die Eigenthümlichkeiten der Volksnatur begleitet ihn auch bei der Schilderung der schwächeren Volkselemente des Ostens, der Juden, der Armenier und Rumänen. Nach mündlicher Ueberlieferung soll R. selbst gerade das Werk über die Juden für die bedeutendste seiner Arbeiten gehalten haben; in der Vorrede hat er wenigstens ausdrücklich die Absicht betont, ein treues Gemälde des Judenvolkes zu liefern, und sich für schuldlos erklärt, wenn der lichten Partien weniger seien als der dunkleren.
Den Schriften Rohrer’s ist ferner eigenthümlich, daß sie das Resultat aus dem Leben selbst geschöpfter Beobachtung sind. R. war Autodidakt und der Apparat wissenschaftlicher Forschung war ihm infolge dessen vielleicht weniger geläufig; dafür besaß er aber die Lust und die Fähigkeit, mit einem auf das Praktische gerichteten Blicke autoptisch zu erkennen, und beherrschte er die Kunst, auch spröde Stoffe fesselnd darzustellen, in ausgezeichneter Weise. Was den ersteren Punkt insbesondere betrifft, so haben wir auf Rohrer’s vielfache Reisen, welche er nach seiner Ansicht pflichtgemäß durch die ganze Länge der Monarchie gemacht hatte, schon verwiesen. Mehrere seiner Schriften gehören ausgesprochenermaßen zur Reiselitteratur, aber auch in den übrigen waltet Wiedergabe subjectiver Eindrücke vor und gibt ihnen dadurch ihren eigenthümlichen Reiz. Es ist ein unmittelbar dem gegenwärtigen Leben zugewendetes Auge, welches die Beobachtungen aufnimmt; allem, was das Gemeinwohl direct zu fördern scheint, wird liebevolle Aufmerksamkeit geschenkt und in vielen Belangen des öffentlichen Lebens, so vor allem für die technischen Seiten der Wirthschaft, offenbart sich nicht nur ein eindringendes Verständniß, sondern auch eine reiche Erfahrung. Aus dem Rahmen der Universitätsstatistik seiner Zeit fallen nach dem Gesagten Rohrer’s Schriften selbstverständlich heraus; es fehlt die hergebrachte Systematik sowie die damit zusammenhängende Form der Darstellung. Schon der Umstand, daß R. bis zu seinem letzten Werke, welches doch sichtlich Unterrichtszwecken dienen soll, nicht nur von der Bevölkerung den Ausgang nimmt, sondern diese vielfach geradezu zum eigentlichen Darstellungsobjecte macht, steht mit der Schulüberlieferung im Widerspruche. Es mag auch zugegeben werden, daß der Charakter strenger Wissenschaftlichkeit vielen der Schriften Rohrer’s fehlt. Allein trotzdem ist der Werth derselben ein unbestreitbarer und heute noch müßte ein Wiederabdruck einzelner Theile lebhaftem Interesse begegnen.
In den Ruhestand übergetreten (1827) zog sich R. nach Wien zurück und hier raffte ihn am 21. September 1828 der Tod hinweg; er starb, wie die Todtenliste sagt, an Entkräftung und dies deutet, andere Wahrnehmungen unterstützend, auf frühere Krankheit hin.
R. hinterließ keine Nachkommenschaft; sein Name wurde aber durch die Söhne seines (1811 in Lemberg als Gubernialrath und Polizeidirector verstorbenen) Bruders fortgepflanzt. Dr. Moriz Karl R. war der Arzt, welcher 1831 über die epidemische Brechruhr in Lemberg berichtete, Rudolf R. der Gründer der Buchdrucker- und Buchhandlungsfirma R. in Brünn (1832).
- Quellen: Die bei Wurzbach angezeigten Schriften. Ferner: Ficker, Der Unterricht in der Statistik an den österreichischen Universitäten und Lyceen (Statistische Monatsschrift, II. Jahrgang, Wien 1876, S. 64–66). – Die Vorlesungsverzeichnisse der Lemberger Universität. – Die Protokolle über die Hofkanzlei [68] – Akten im Archiv des k. k. Ministeriums des Innern. – Mündliche Mittheilungen des Großneffen Rohrer’s, Herrn Julius Rohrer, k. k. Notar in Wien.