ADB:Ritschl, Georg Karl Benjamin

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Artikel „Ritschl, Georg Karl Benjamin“ von Albrecht Ritschl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 661–664, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ritschl,_Georg_Karl_Benjamin&oldid=- (Version vom 9. Oktober 2024, 07:34 Uhr UTC)
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Ritschl: Georg Karl Benjamin R. wurde zu Erfurt am 1. November 1783 als das zwölfte Kind des Pastors an der Johannis-(Augustiner-)Kirche geboren. Er ging bis 1799 durch die Schulanstalten seiner Vaterstadt, und erwarb daneben eine gründliche musikalische Bildung, welche ihm später nicht nur in gesellschaftlicher Beziehung förderlich, sondern auch für die Zwecke des kirchlichen Cultus brauchbar gewesen ist. Zu Ostern 1799 ging er zum theologischen Studium zunächst in Erfurt, dann in Jena über; indessen hat der rationalistische Unterricht seiner Lehrer einen maßgebenden Einfluß auf ihn nicht geübt. Als Theolog hat er sich immer auf dem Boden der positiven Offenbarung und der lutherischen Ueberlieferung der Frömmigkeit bewegt; und als seit 1817 der Pietismus sein anspruchsvolles Haupt erhob, war er reif und in seiner amtlichen Wirksamkeit selbständig genug geworden, als daß er sich dessen Methode angeschlossen oder sich ihm gebeugt hätte. Nachdem er in seiner Vaterstadt 1802 unter die Predigtamtscandidaten aufgenommen worden war, betrat er 1804 den Ort seiner nächsten öffentlichen Wirksamkeit, indem er dem als Director des Gymnasiums zum grauen Kloster berufenen Bellermann nach Berlin als Hauslehrer seiner Kinder folgte. Durch Bellermann wurde er zugleich in das Seminar für gelehrte Schulen aufgenommen, mit Unterricht am Gymnasium beschäftigt, und demnächst an der mit demselben combinirten Köllnischen Schule als Collaborator, dann als Subrector angestellt. Das Schulamt hat ihm dazu gedient, seine gelehrte Bildung auszubreiten und zu befestigen; es hat außerdem ihm den Anlaß gegeben, den Singunterricht in dem Gymnasium einzuführen, welcher bis dahin in dem Lehrplan keine Stelle gefunden hatte. Daneben aber machte er auch von der Erlaubniß zu predigen, welche das Oberconsistorium 1807 bestätigt hatte, Gebrauch. Infolge dessen bewarb er sich 1810 um die dritte Predigerstelle an der St. Marienkirche in Berlin, und da die Wahl des [662] Magistrates auf ihn fiel, wurde er am 1. Juli 1810 durch den Propst Hanstein in dieses Amt eingeführt, welches er 18 Jahre lang mit bedeutenden Erfolge und reichem Segen verwaltet hat. Seine Predigten zogen von Anfang an die Gemeinde in allen ihren Schichten an, und seinem Confirmandenunterricht wurden Kinder aus allen Ständen anvertraut. Die Predigtweise Ritschl’s hielt sich an das Evangelium, ohne daß er dessen Kraft und Wirkung durch irgend eine Manier unterstützt hätte, die Darstellung und Beweisführung seiner Predigten hatte nicht Ueberraschendes und Ueberrumpelndes an sich, die sorgfältige Vorbereitung, welche er an sie wendete, diente der Sache ebenso wie die persönliche Ueberzeugtheit und Würde seines Vortrages. Die Meisterschaft, welche er in dem Unterricht bewährte, öffnete in nicht geringem Umfange der Seelsorge den Weg, durch welche er zahlreiche Familien für die Theilnahme an der Kirche gewann, und zugleich durch die lebhafteste Anhänglichkeit mit sich verknüpfte. Außer dieser amtlichen Wirksamkeit fiel ihm noch die kirchenregimentliche Thätigkeit in dem königlichen Consistorium der Provinz Brandenburg zu, in welches er bei dessen Wiederherstellung 1816 als Assessor berufen wurde. 1817 wurde er in demselben Consistorialrath. Seine Wirksamkeit in diesem Amte ist auch von pietistischer Seite anerkannt worden (Witte, Tholuck’s Leben I, S. 90), obgleich er in einer (ebendas. S. 85 angeführten) pietistischen Kundgebung nicht zu den „gläubigen“ Predigern, welche das Wort Gottes rein und lauter verkündigten, gerechnet worden ist. Im Consistorium erwarb er sich besondere Verdienste um die Prüfung der Candidaten, und hauptsächlich in deren Anerkennung verlieh ihm die theologische Facultät in Berlin am 16. November 1822 die Würde des Doctors der Theologie. Endlich fällt in diese Epoche seit 1815 seine Theilnahme an der Zusammenstellung des Berliner Gesangbuchs, welches 1829 erschien, und alsbald die leidenschaftliche Gegenwirkung Hengstenberg’s und seiner Genossenschaft auf sich zog (Schleiermacher, Sendschreiben an Ritschl über das neue Berliner Gesangbuch, 1830; Werke zur Theol. Bd. V). – Im J. 1828 trat R. gemäß der am 27. August 1827 erfolgten Berufung in die Aemter des Generalsuperintendenten von Pommern und des Directors des Consistoriums dieser Provinz mit dem Titel eines evangelischen Bischofs ein. Seine mehr als 26jährige Wirksamkeit in diesem Beruf erfuhr eine Unterbrechung nur dadurch, daß er vom September 1829 bis Mai 1830 in Petersburg an der Ausarbeitung der Kirchenordnung für die evangelische Kirche im russischen Reiche theilnahm. Die Stellung, welche R. als Generalsuperintendent von Pommern einnahm, bot ihm eine Selbständigkeit des Wirkens dar, in welcher er nur dem Ministerium verantwortlich war. Die Führung dieses Amtes hat ihm durchgehends zu hoher Befriedigung gereicht. Seine Visitationen erhielten ihn in steter und inniger Beziehung zu allen Geistlichen der Provinz, welche für die nachwachsenden Generationen schon durch die Candiatenprüfungen geknüpft wurde. In den einzelnen Diöcesen regte er die Beschäftigung der Synodalconvente mit theologischen und praktischen Aufgaben an. Mit scharfem Gedächtniß und durchdringender Würdigung der Eigenthümlichkeiten verfolgte er möglichst Jeden in seiner Laufbahn, um ihm durch persönlichen Zuspruch oder Ermunterung oder, wenn nöthig, durch leidenschaftslose und humane Rüge nahe zu treten. Durch diese Thätigkeit hat sich R. die Anhänglichkeit seiner Untergebenen zu erwerben vermocht, welche auch nicht durchaus versagte, als sich späterhin ein großer Theil des Clerus durch eine Agitation hinreißen ließ, die sich gegen die von R. vertretene Union der evangelischen Kirchen richtete. Ehe aber diese Gegenwirkungen seit 1847 sich erhoben, hatte R. als Mitglied des Consistoriums mit der bureaukratischen Behandlung der kirchlichen Aufgaben durch die den Vorsitz führenden Oberpräsidenten zu ringen. Nur von 1831–34 [663] erfuhr er durch den Oberpräsidenten v. Schönberg einsichtsvolle Unterstützung auf dem von ihm eingehaltenen Wege der Kirchenleitung. Jedoch die Krisis seines öffentlichen Lebens und Wirkens, welche seit 1847 acut wurde, entsprang aus den inneren und äußeren Schwierigkeiten der von Friedrich Wilhelm III. declarirten und von R. in temperativem Sinne anerkannten Union der beiden evangelischen Kirchen. Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, wie die Annahme der Union durch die freie Entscheidung der Gemeinden mit der Einführung der Agende unter dem liturgischen Gesetzgebungsrechte des Königs in einander gewirrt worden sind. Denn in Pommern sind zunächst daraus keine Schwierigkeiten entstanden. Bis 1831 sind fast alle Gemeinden Pommerns der Union beigetreten unter Annahme der in der Agende vorgeschriebenen referirenden Formel bei der Spendung des Abendmahls; die welche nicht beitraten, sind unangefochten geblieben. Allein zur Befestigung der Union war es erforderlich, daß die beiden Confessionen in den preußischen Provinzen in einem annährend gleichen numerischen Bestande nebeneinander vertreten waren. Das aber fand sich nur in der Rheinprovinz und einem Theile Westfalens. In den östlichen Provinzen begründeten die spärlichen reformirten Gemeinden neben der Masse der Lutheraner kein für diese einleuchtendes Bedürfniß der Union. Dieser Umstand liegt nun auch der jetzt an den Tag getretenen Thatsache zu Grunde, daß in den östlichen Provinzen die Union die reformirten Gemeinden in das Lutherthum absorbirt hat. Der Widerstand gegen jene kirchliche Unternehmung, welcher in Pommern zwischen 1830 und 1840 begann, fußte aber nicht auf solcher Ueberlegung, sondern entsprang aus der pietitstischen Bekehrungspredigt mehrerer Prediger in ländlichen Gemeinden. Schon im 18. Jahrhundert zeigt es sich, daß die Bekehrungsprediger aus der Halle’schen pietistischen Schule die niederen Stände in Land wie Stadt zum Separatismus angeleitet haben, während sie selbst und die von ihnen beeinflußten Mitglieder des Adels und des höheren Bürgerstandes an der lutherischen Kirche festzuhalten vermochten (A. Ritschl, Gesch. des Pietismus II, S. 499 ff.). Diese Thatsache war unbekannt, als sich nach 100 Jahren die gleiche Erscheinung wiederholte. Dieselbe trat aber jetzt in größerer Schärfe auf, weil die Separatisten sich der durch die Union veränderten Kirche gegenüber fanden. Die Verwerfung der Welt, in welcher die Separatisten sich gefielen, umfaßte auch die Geringschätzung des Staates überhaupt, insbesondere seine rechtliche Leitung der Kirche. Da ferner die leiblichen Erschütterungen durch die Bekehrungspredigten von ihnen mit der Erwartung leiblicher Wirkungen des Abendmahls in Beziehung gesetzt wurden, welche sie durch Luther’s Deutung desselben fälschlich für gesichert hielten, so declarirten sie sich gegenüber der vom Staat eingeführten Union mit den Reformirten als die echten Lutheraner. Und es gab Geistliche und Candidaten, welche angelehnt an gleiche Erscheinungen in Schlesien, sich ein Geschäft daraus machten, die Separatisten zu sammeln und bei dem vorgeblich lutherischen Programm fest zu halten. Bekanntlich hat Friedrich Wilhelm IV. durch die Concession von 1845 diese sogenannten „altlutherischen“, im Grunde aber separatistisch-pietistschen Gruppen für die Landeskirche unschädlich gemacht. Aber unter seinem Vorgänger wurde das territorialistische Programm der Einheit der Landeskirche aufrecht erhalten und demgemäß der Versuch gemacht, die Separatisten, wenn möglich, der Kirche wieder zu gewinnen. Zu diesem Zweck studirten sich die Geistlichen mehr, als es bisher der Fall war, in die gangbare als lutherisch prädicirte Dogmatik hinein. Aus dieser Beschäftigung aber erwuchs unter der Bedingung theologischer Beschränktheit und hierarchischen Gelüstes nach Unabhängigkeit von den Behörden die Agitation einer stets zunehmenden Zahl von Geistlichen gegen die Union. Gefördert wurde diese Parteiverbindung durch die unsichere und ungleiche Haltung [664] Friedrich Wilhelm’s IV. zur Unionssache, insbesondere dadurch, daß der König die Vorschläge der Majorität der Generalssynode von 1846 unausgeführt ließ, und anstatt ihrer die Consistorialverfassung in den Dienst der pietistischen Richtung stellte, welche der reformirte Hengstenberg für lutherisch erklärte. Dieser verhängnißvolle Umschwung traf Ritschl’s Wirksamkeit in der empfindlichsten Weise, als 1847 ein Herr v. M. an die Spitze des Consistoriums gestellt wurde, welcher seit Jahren sich zur französisch-reformirten Gemeinde gehalten hatte, jetzt aber keine Sitzung vorübergehen ließ, ohne sich als den Vertreter der lutherischen Kirche gegen die Union geltend zu machen. Die allgemeine politische und kirchliche Reaction seit 1850 eröffnete den Bestrebungen des Agitationsvereins der Geistlichen ein noch bequemeres Fahrwasser, und der Leiter desselben suchte zugleich sich die Unterstützung des seit 1848 „kirchlich“ gewordenen Adels durch die neue Theorie zu sichern, daß der Patronat Kirchenamt sei. Gegen Ende 1853 gelang es dem Präsidenten des Consistoriums im Verein mit dem Oberpräsidenten, den Minister v. Raumer dazu zu bewegen, daß er den Consistorialrath Mehring, das einzige mit R. eng verbundene Mitglied des Consistoriums, als Provinzialschulrath nach Posen versetzte. Zugleich war die Absicht, den Leiter des antiunionistischen Vereins an dessen Stelle zu bringen. Das hat R. zwar zu vereiteln vermocht; er hat aber aus den dargestellten Umständen die Folgerung gezogen, daß er beim Ablauf seiner 50jährigen Dienstzeit im Herbst 1854 berechtigt sei, in den Ruhestand zu treten. In Berlin, wo er von da an seinen Wohnsitz nahm, fand er manche Beziehungen zu alten Freunden noch lebendig. Der Plagen, welche in den letzten sieben Jahren seiner Amtsführung ihn beschieden gewesen sind, hat er mit Gleichmuth gedacht, und keine besonderen Ansprüche mehr gemacht, als er als Ehrenmitglied des evangelischen Oberkirchenraths, wozu er August 1855 ernannt wurde, seine amtlichen Erfahrungen dieser Behörde zu Dienste stellte. Er starb nach kurzer Krankheit am 18. Juni 1858. R. war, als er aus seinen Aemtern schied, der Besiegte. Um was er direct gekämpft und gelitten hat, ist jetzt, nach dem Ablauf eines Menschenalters so gut wie gegenstandslos. Der Sohn aber, welcher hiermit die Erinnerung an seinen Vater zu befestigen die Ehre hat, ist der gegründeten Ueberzeugung, daß trotz jenes Unterliegens die segensreiche Wirkung des geschilderten Lebens auf die öffentlichen und allgemeinen Angelegenheiten der evangelischen Kirche nicht verloren ist.

Vgl. die etwas ausführlichere Biographie in Herzog’s Real-Encyklopädie.