ADB:Ringoltingen, Thüring von

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Artikel „Ringoltingen, Thüring von“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 634–635, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ringoltingen,_Th%C3%BCring_von&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 23:05 Uhr UTC)
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Ringoltingen: Thüring v. R., war der letzte männliche Sproß eines Berner Geschlechts, das, ursprünglich Zigerli geheißen, dem Handwerker- und Gewerbestande angehört, dann aber durch Glück, Heirathen und Energie sich in den Adel seiner Vaterstadt heraufgearbeitet hatte. Zumal Thüring’s Vater Rudolf spielte als Diplomat und Feldherr in der Geschichte Berns eine Rolle, war wiederholt Schultheiß gewesen und als Herr von Landshut im Emmenthale gar in die Reihen der Twingherren eingetreten, denen auf berner Gebiet allerlei landesherrliche Vorrechte zustanden. Rang, Ansehen und der größte Theil des Besitzes, vor allem Landshut selbst, gingen vom Vater auf den Sohn über. Dieser muß um 1410 geboren sein, da er schon 1435 Mitglied des großen Raths war. In den Jahren 1458–1467 stand auch er nicht weniger denn viermal als Schultheiß an der Spitze Berns, ein fünftes Mal, bei der bedeutungsvollen Wahl des Jahres 1470, erhob ihn die Twingherrenpartei vergeblich gegen den demokratischen Candidaten, den Fleischer Kistler, auf den Schild. In dem unaufhörlichen kleinstaatlichen Gezänk dieser unruhigen Zeit hat er sich wiederholt an Schiedsgerichten und Gesandtschaften betheiligt, ohne doch entfernt die führende Stellung zu erringen, die sein Vater besaß; von kriegerischen Leistungen Thüring’s wissen wir nichts. Während des Bürgerzwistes, der 1470 der Stadt zum Sieg über die Privilegien der Twingherren verhalf, theilte Th. die Schicksale seiner Partei: ja, als sich während seiner Abwesenheit der Adel durch demonstratives Mißachten der Kleiderordnung ein einmonatliches Exil zugezogen hatte, da ertrotzte sich der gesinnungstüchtige Mann noch nachträglich durch herausfordernde Schnabelschuhe das gleiche Martyrium. Auch ihn machte 1474 französischer Sold der kriegerischen Absage an Karl den Kühnen geneigt; das stattliche Jahrgehalt von 250 Liv., das Frankreich an ihn wandte, beweist immerhin, daß seine Stimme für einflußreich galt. An den Tagen der Eidgenossenschaft nahm er bis 1480, an den Berner Rathssitzungen bis zum 8. März 1483 Theil; bald darauf muß er ziemlich verarmt, selbst seines Herrensitzes Landshut verlustig, gestorben sein.

Aber den unbedeutenden Staatsmann vergessen wir gern über dem thätigen Interesse, das Th. in seiner Jugend, bei Lebzeiten des Vaters († 1456), für Kunst und Litteratur bewährt hat. Für ihn zeugt das Zehntausend-Ritter-Fenster, der kostbare Schmuck des St. Vincenzmünsters, mit dessen Baugeschichte sein Name rühmlich verbunden ist; für ihn zeugt lauter seine weit und breit vielgelesene Prosaübersetzung eines französischen Melusinengedichts, die in zahllosen Handschriften und Drucken wiederholt, 1578 in die berühmte Romansammlung, das Buch der Liebe, überging und die Grundlage des noch heute wohlbekannten Volksbuchs bildet; auf Thüring’s Arbeit ruht nicht nur die Melusine des Hans Sachs, sondern trotz der Quellenangabe „auß einer frantzösischen schrifft“ auch die Doppeltragödie Jak. Ayrer’s. Thüring’s Quelle war eine gereimte Fassung der Sage, die der Trouvere Couldrette im Auftrage der Herren Guillaume VII. und Jean von Parthenay begonnen und nach dem 17. Mai 1401 vollendet hatte (Ausgabe von F. Michel 1854): der Kern des Ganzen, die unglückliche Ehe des Sterblichen mit der Undine, wird hier wie schon in Couldrette’s Quellen überwuchert von wüsten Aventiuren und genealogisch-localem [635] Beiwerk, durch welches die Sage zur Familiengeschichte bestehender Geschlechter gestempelt wurde. In dem unbezweifelten Zusammenhang mit lebendiger Wirklichkeit lag auch für Th. der Hauptreiz des Werkes, das er zu Ehren des Markgrafen Rudolf’s von Hochberg, nachmaligen Grafen von Neuenburg, übertrug: am 29. Januar 1456 wurde es fertig. Er selbst erkennt, daß er „zu transferiren nicht ein Meister“ ist; in seinen synonymenreichen, schwerfälligen und breitspurigen Perioden geht die stilistische Eleganz des Originals rettungslos unter, zumal in den bewegten Monologen; eine leidliche Ausnahme bilden die Abschiedsreden Melusinens und Raymond’s; hier ahmt Th. gar die anaphorischen Satzreihen Couldrette’s steif, aber mit guter Wirkung nach, was späterhin Sachs und Ayrer ihm ihrerseits nachthun. Der Vorlage folgt Th. so eng und treu, wie es das scrupulöseste Uebersetzergewissen des 15. Jahrhunderts irgend verlangen konnte: doch übt er zahllose kleine Auslassungen, namentlich im Selbstgespräch und Dialog; die Gebete der Einleitung und des Schlusses fehlen ganz; auch Umstellungen kommen vor und unerhebliche, meist didaktische Zusätze. So warnt uns bei Th. Boethius vor der Undankbarkeit, Seneca vor dem Zorn; von dem heil. Augustin wird eine Anekdote eingeflochten, die vom Uebermuth im Glücke abmahnt; die zur Ehe gedrängte Prinzessin Christine bittet schamhaft um Bedenkzeit; in den Kämpfen zwischen Lützelburg und Elsaß bringt der Schweizer den Rhein an. Auch die überaus ungeschickte Capiteleintheilung kommt wohl auf Thüring’s Rechnung. Irrthümer und Versehen entstellen die verständige Arbeit selten; nur an der Klippe der Namen scheitert Th. gelegentlich: aus der fontaine de soif, der Heckenquelle, wird ihm ein „Durstbrunnen“; der vin de Dijon ist ihm Wein „von teutschen Landen“; aus den destrois d’Ardenne macht er „Dardanien“ u. s. w. Jedesfalls ist auch dies Büchlein, von einem niedern Adligen für ein Mitglied des hohen Adels mit Liebe und Bescheidenheit angefertigt, ein erfreuliches Symptom der wachsenden litterarischen Theilnahme vornehmer Kreise, wie sie so verheißungsvoll damals in Oberdeutschland sich regt.

Auch ein kleines Fragment eines deutschen Clamades, in einer Berner Handschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts erhalten, hat man Th. zugeschrieben. Schon die Namensform des Helden erweist, daß nicht der unsäglich breit ausgesponnene Cleomades-Roman des Minstrels Adenet le Roi selbst zu Grunde liegt, sondern eine knappere Prosafassung des 15. Jahrhunderts, die vielleicht über Spanien wieder nach Frankreich kam, dort zu Lyon 1480 zuerst gedruckt und noch im 18. Jahrhundert neu bearbeitet wurde. Sprachliche Beobachtungen, die bei der Kürze des erhaltenen Bruchstücks freilich trügen können, machen es mir sehr unwahrscheinlich, daß Th. auch dieses Romans Uebersetzer sei.

G. Tobler in der Sammlung Bernischer Biographien II, 186 ff. – Bächtold, Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, S. 240 ff., Anm. S. 56. – Marie Nowack, Die Melusinensage, Zürcher Dissertat. 1886, S. 14 ff. – Archiv des historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. IV, Heft 3, S. 93 ff.