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Artikel „Rüling, Louis Bernhard“ von Georg Müller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 593–595, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:R%C3%BCling,_Bernhard&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 10:35 Uhr UTC)
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Rüling: Bernhard R., angesehener sächsischer Prediger, † 1896. – Bernhard Louis R. wurde am 1. August 1822 zu Oederan am Ostabhange des sächsischen Erzgebirges geboren, wo sein Vater Diakonus war. Als dieser nach Cölln bei Meißen übersiedelte, besuchte der Knabe die Meißener Stadtschule, von seinem 13. Lebensjahre ab die von dem namhaften Philologen Baumgarten-Crusius geleitete Fürstenschule, die er Ostern 1841, mit einer gründlichen Bildung ausgerüstet, verließ, um in Leipzig Theologie zu studieren. Mit besonderem Eifer trieb er hier neutestamentliche Studien unter Winer, alttestamentliche unter Tuch, homiletische unter Krehl; hatte auch Gelegenheit, die erregte kirchliche Bewegung der Zeit zu beobachten. 1842 zu Pfingsten fand die dritte allgemeine Versammlung der Lichtfreunde in Leipzig statt (Hauck, Theolog. Realencyklopädie, 3. Aufl., Bd. II, S. 466, Zeile 28); im September wurde hier die Vereinigung des älteren und jüngeren Gustav-Adolf-Vereins festgesetzt (ebd. Bd. 7, S. 253, Z. 10 ff.), im Jahre darauf die evangelisch-lutherische Pastoralconferenz für das Königreich Sachsen begründet, Ostern 1845 die erste allgemeine Kirchenversammlung der deutsch-katholischen Kirche abgehalten (ebd. Bd. 4, S. 585, Z. 45 ff.).

Im September 1844 bestand R. die erste theologische Prüfung mit der Zensur I. Die Prüfungscommission fügte dem Zeugnisse die Bemerkung bei: „Wir fühlen uns gedrungen, obiger Zensur (I) der Predigt noch ausdrücklich anzufügen, daß die Predigt in hohem Grade diese Auszeichnung verdient hat“.

Der junge Candidat nahm eine Hauslehrerstelle bei dem Rechtsanwalt Tischer an. In dessen schön gelegener Besitzung in der Lößnitz bei Dresden verlebte er eine idyllische Zeit, die nur durch den plötzlichen Tod seines Vaters getrübt wurde. Nachdem er im Oktober 1846 sich in Dresden der zweiten theologischen Prüfung unterzogen hatte, wurde er während der hochgehenden Wogen der Revolutionszeit 1848 zum Diakonus in Oschatz gewählt, wo er als Prediger schnell große Anerkennung fand. Das bewegte Leben einer Großstadtgemeinde mit ihren aufreibenden Pflichten lernte er in Dresden kennen, wo er am Neujahrstage 1852 seine Antrittspredigt an der Neustädter Dreikönigskirche hielt. Namentlich die Casualien nahmen ihn in hohem Grade in Anspruch. Ein Halsleiden war die Folge. Im Herbste 1855 führte ihn ein Ruf als Pastor Primarius nach Bautzen, der Hauptstadt der sächsischen Oberlausitz. Neben der Predigttätigkeit an der Simultankirche zu St. Petri nahm ihn die Verwaltung stark in Anspruch, in deren Eigentümlichkeit er sich bei der Sonderstellung der Lausitzer kirchlichen Verfassung erst hineinarbeiten mußte. Am Appellationsgerichte war er Beisitzer für Ehesachen; auch hatte er die Kirchenbücher der großen Gemeinde zu führen. Als Seelsorger im Gefängnisse war er viel in Anspruch genommen. Im J. 1858 wurde er zu der Oberlausitzer Kirchenvisitation, z. B. in Zittau, abgeordnet und hielt hier eine Visitationspredigt.

Daneben wurde er von Pastoralconferenzen zur Uebernahme von Vorträgen, bei kirchlichen Feiern zum Halten von Festpredigten herangezogen. Sie erschienen zum Teil in Druck und lenkten die Blicke auf ihn hin, sodaß er von der theologischen Fakultät der Universität Leipzig 1860 bei der Gedächtnisfeier des 300jährigen Todestages Melanchthon’s zum Ehrendoctor [594] ernannt wurde, nachdem er eine wissenschaftliche Arbeit: „De catholica ecclesiae evangelicae eiusque Germanicae natura et ratione“ eingesandt hatte.

Bereits hatte er 1865 einen Ruf als Superintendent nach Waldheim angenommen und die übliche Predigt in der Dresdener Hofkirche und am Tage darauf das lateinische Colloquium vor dem Consistorium gehalten, da wurde er 1866 nach Dr. Käuffer’s Tode, der ihn noch eben geprüft hatte, zum zweiten Hofprediger und Consistorialrath in Dresden ernannt und rückte sieben Jahre später in die erste Hofpredigerstelle mit dem Range eines Oberconsistorialraths auf.

Als Prediger wie als Casualredner genoß er großes Ansehen. Als sein Ziel bezeichnete er die freimütige und erweckliche Buß- und Glaubenspredigt; ein ander Mal erklärte er: „Danken würde ich Gott, wenn man darin etwas von der homiletischen Tugend fände, der einzigen, nach welcher der Verfasser strebt, freilich eben nur strebt, der Erbaulichkeit“. Diesem Ziele diente sorgfältigste Vorbereitung, gründliches Studium des Textes, Ausbeutung der Schrift nach Seite der Mahnung und des Trostes, Ausnutzung der Bibelforschung, scharfe Beobachtung des praktischen Lebens, Eingehen auf die Erfahrungen in der Seelsorge. Dazu kam die künstlerische Form, die wirkungsvolle Verwendung des religiösen Liedes, klarer Aufbau der Gedanken, sorgfältigste Durcharbeitung von der Einleitung bis zum Schlusse. Namentlich an kirchlichen und nationalen Festtagen zeichnete sich Rüling’s Predigt durch packenden Ernst und reiche Gedankenfülle aus. Mit genialem Griffe wurde der Text in die festliche Beleuchtung gerückt, so, wenn an einem Sonntage, der der Mitfeier des Sedantages galt, aus Röm. 3, 23–28 der Hauptgedanke abgeleitet wurde: Kreuz und Schwert, zwei Zeugen für die Ehre Gottes! Wie sich Gott bekannt hat zu unserem Schwert, so wollen wir uns bekennen zu seinem Kreuz.

Als Seelsorger der Hof- und zahlreichen persönlichen Gemeinde war er hoch geschätzt. Alljährlich sammelten sich um ihn zahlreiche Confirmanden, deren Unterricht er mit dem größtem Ernste und der sorgfältigsten Vorbereitung nach neuen Hauptgesichtspunkten behandelte. Als Kirchenmann war er im Landesconsistorium tätig, namentlich, nachdem dieses durch die Gesetzgebung größere Selbständigkeit und neue Aufgaben erhalten hatte. Zur Mitarbeit an der Agende, dem Landesgesangbuche und dem Perikopenbuche wurde er herangezogen, auch alljährlich zwei Mal durch die Candidatenprüfungen in Anspruch genommen. Nachdem ihn die in Evangelicis beauftragten Minister 1871 als Mitglied der ersten Landessynode berufen hatten, nahm er an der außerordentlichen Tagung 1874, sowie an den ordentlichen Synoden 1875, 1881 und 1886 Theil. Die Arbeiten des Vereins für innere Mission, des Gustav-Adolf-Vereins und des Sächsischen Hauptmissionsvereins förderte er als Vorstandsmitglied durch Wort und Tat.

Wie er schon in Bautzen einen Candidatenverein geleitet hatte, übernahm er in Dresden 1873 den von Dr. Langbein gegründeten, den er bis zum Jahre 1885 weiter führte. Neutestamentliche, exegetische Uebungen, Besprechungen von Schriften über kirchliche Tagesfragen, Einführung in die Seelsorge und das praktische Amtsleben, Predigten und Katechesen bildeten den Gegenstand dieser anregenden Sitzungen. Die erteilten Winke und Ratschläge trugen oft sehr persönlichen Charakter und gestatteten den Einblick in die individuelle Arbeitsweise. So empfahl R. die Anlegung eines Zettelkastens nach alphabetisch geordneten Stichworten für die Lectüre von Büchern und Zeitungen zum Zwecke der Ausnutzung für die Predigt, betonte die Notwendigkeit genauesten Memorirens zur Sicherung und Förderung des Sprachreichtums, [595] peinliches Studium des Schrifttextes für die Vorlesung usw. Anweisungen, die um so mehr wirkten, je mehr der Präses in der nächsten Predigt ihre Bedeutung praktisch darthat.

Mit wissenschaftlichen Arbeiten hätte er sich gern mehr beschäftigt; hatte er darin ja ein Vorbild in seinem Vater, der zum 300jährigen Reformationsjubiläum 1839 ein auf gründlichen Studien beruhendes Buch über die Reformation in Meißen geschrieben hatte. Aber die Zeit schien ihm dazu nicht auszulangen. Trotzdem hielt er es für seine Pflicht, sich mit der wissenschaftlich-theologischen Bewegung auf dem Laufenden zu erhalten, gab in Conferenzen, auch im Candidatenvereine selbständige Berichte, z. B. bei Gelegenheit des 300jährigen Jubiläums des Concordienbuches. So sehr er sich durch das Bekenntniß der Kirche gebunden fühlte, so war er bei Beurteilung der einschlagenden Tagesfragen und Personen gerecht und mild und bezeichnete als seinen Grundsatz: „Ein enges Gewissen und ein weites Herz!“

Er war Comthur des kgl. sächsischen Verdienstordens und des mecklenburgischen Comthurkreuzes des Hausordens der wendischen Krone.

Zunehmende Gedächtnißschwäche veranlaßte R. im J. 1888 in den Ruhestand zu treten. Doch folgte er noch bisweilen der Bitte, eine Festpredigt zu übernehmen, war auch einen Monat lang 1890 Curprediger in St. Blasien, 1891 in Scheveningen und im Winter 1892 und 1893 in Nervi. Gerade der letztere Aufenthalt im Süden hatte ihm reiche Stärkung und Anregung geboten. Aber in den nächsten Jahren machten sich allerlei Zeichen der Krankheit geltend, der er am 12. November 1896 erlag.

(J. Rüling), Lebenslauf des Verfassers (L. B. Rüling), zugleich als Vorwort zu seiner letzten Predigtsammlung, von seinem Sohne dargestellt, in B. Rüling, Abendglocken. Leipzig 1897, S. III–XVII (wo auf S. VII bis XI die Schriften und Predigten verzeichnet sind). – O. Kohlschmidt in A. Bettelheim, Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, 1. Band. Berlin, G. Reimer 1897, S. 445. – F. Blanckmeister, Sächsische Kirchengeschichte, 2. Aufl., Dresden 1906, S. 419, 443, 448. – G. Müller, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der sächsischen Landeskirche in den Beiträgen zur sächsischen Kirchengeschichte, Heft 9, S. 209 f. und Heft 10, S. 153. – Die Angabe über die Teilnahme an der Zittauer Visitation verdanke ich Herrn Pfarrer i. R. Pescheck in Zittau.