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Artikel „Pietscher, August“ von Franz Kindscher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 26 (1888), S. 808–810, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Pietscher,_August&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 23:46 Uhr UTC)
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Pietscher *): Joh. Friedr. August P., geboren in Bernburg am 10. August 1824, † in Dessau als herzogl. anhaltischer Landgerichtspräsident am 25. Sept. 1887. Er war der älteste Sohn des gleichnamigen Justizamtsactuars in Bernburg, der nach sechsjähriger Leitung des Justizamts Ballenstedt 1836 als Justizrath nach der Residenz Bernburg zurückkehrte und daselbst 1866 starb. Mit tüchtiger Vorbildung ausgerüstet studirte der talentvolle Jüngling 1842/45 die Rechtswissenschaft in Berlin, wo er neben eifrigen Studien unter R. Gneist, L. Michelet etc. eine Fülle von Anregungen auf dem Gebiete der dramatischen Kunst, der Musik und der Politik genoß. In Bernburg ward er 1846 Auscultator beim Justizamt, dem späteren Stadt- und Landgericht unter seinem Vater, daneben 1847 Regierungsadvocat. Das Frühjahr 1848 entfesselte in [809] Bernburg die politische Leidenschaft in hohem Grade. Seine gemäßigt liberale Gesinnung und sein Rednertalent drängten den jungen Advocaten zu lebhafter Betheiligung an den Kämpfen gegen den wüsten Radicalismus, der am 16. März 1849 zu blutigem Aufruhr und zum Belagerungszustand führte, wie gegen jede Reaction. Der geheime Conferenzrath, die oberste Landesbehörde seit 1833, der namens des schwachsinnigen Herzogs Alexander Karl seit 1834 das Land regierte, ward durch das Staatsministerium von Krosigk-Hempel ersetzt, die Verfassung von 1848 durch die von 1850. Die Liberalen forderten schnelle Durchführung der zagend 1849 bewilligten Reformen. P. gab seit Januar 1850 ein „constitutionelles Bürgerblatt“ heraus, das freilich nicht lange lebte. In Nr. 28 vom 23. April drängte er in dem Leitartikel „Trübe Aussichten“ auf schleunige Belebung und festen Ausbau des neuen Staatsorganismus und verwickelte sich dadurch in einen Preßproeeß, der erst April 1852 mit Freisprechung endete. Am 25. Mai 1852 vermählte er sich mit Anna Günther, der Tochter eines Arztes. Nach von Krosigk’s Tode hatte 1851 Geheimrath Hempel den Vorsitz im Staatsministerium übernommen, Regierungsrath v. Schätzell aus Danzig ward zweites Mitglied. Hempel ward 1853 zur Disposition gestellt. Seitdem war Geheimrath v. Schätzell bis 1863 alleiniger Leiter des Staatsministeriums. Mit Ausnahme der Justiz vereinigte er bald die oberste Leitung aller Landes- und Hofbehörden in seiner Hand. Die Herzogin Friederike, geborne Prinzeß von Schleswig-Holstein-Glücksburg, war seit 1855 Mitregentin. P. ward 1853 erster Actuar und Hilfsrichter, alsbald Assessor beim Appellationsgericht in Bernburg. 1854 wählten ihn seine Mitbürger als ihren Abgeordneten in den Bernburger Landtag, wo er in richtiger Erkenntniß der dringlichen Nothwendigkeit in Verfassungsfragen mit Dessau und Köthen Hand in Hand zu gehen die gemeinsame anhaltische Landschaftsordnung von 1859 durchzusetzen verstand. Er war 1857 zum Landrath in Ballenstedt befördert worden, dankte es aber dem Minister nicht, dadurch der hauptstädtischen Bewegung entrückt zu werden. So wenig es ihm jedoch als Richter genehm war, sich für die Verwaltung des Kreises interessiren zu sollen, so schnell fand er sich doch in die Obliegenheiten seines Amtes hinein. Freilich war er aber mit den streng conservativen Grundsätzen nicht einverstanden, die der Minister als einzig maßgebend und zulässig in jeweilig drückender Form von ihm verlangte. P. war von seinen Ballenstedtern 1860 in den Landtag entsandt worden. Ein heftiger Streit mit dem Minister im Landtage veranlaßte ihn jedoch schon im Januar 1861 zur Mandatsniederlegung. Da er dem Minister wegen seines Liberalismus verdächtigt worden war, wurde er vom 1. Juli 1862 seines Landrathsamts enthoben. Er behielt zwar Rang, Titel und Gehalt als Landrath, ward aber dem Ballenstedter Kreisgericht als Hilfsarbeiter überwiesen. Im Frühjahr 1863 entfernte ihn der Minister ganz aus der Heimath. Er kam mit dem Landrathstitel als richterliches anhaltisches Mitglied in die königlich preußische Generalcommission zu Merseburg, welche die bernburgischen Separationssachen mit zu behandeln hatte. Der Minister hatte aber angeordnet, daß er gerade bernburgische Sachen nicht bearbeiten durfte! Er bekam dafür dort das Decernat für einen Theil des Eichsfeldes. Als pflichttreuer und tüchtiger Arbeiter anerkannt, blieb er bis zum 1. October 1864 dort, wo nach dem 1863 erfolgten Aussterben der Bernburger Herzogslinie das Vertragsverhältniß zu Preußen, bezüglich der gemeinsamen Commission seitens des nunmehrigen Herzogs von ganz Anhalt, Friedrich Leopold, gelöst ward. Zur Disposition gestellt, blieb P. jetzt ein Jahr lang ohne Amt in Bernburg. Mit dem 1. October 1865 trat er unter dem Minister Sintenis als Rath in das Kreisgericht Zerbst ein. Er fühlte sich bald hier heimisch. Eine tiefgreifende [810] Thätigkeit entfaltete er, schon 1853 zu Bernburg in den Orden eingetreten, in der Zerbster Freimaurerloge als Meister vom Stuhle. Von den Ansprachen und Reden, die er als Bruder in Ballenstedt etc. gehalten hat, ließ er von 1865 bis 1876 viele in Moriz Zille’s Leipziger Freimaurerzeitung abdrucken. Von seiner Thätigkeit in der litterarischen Gesellschaft für wissenschaftliche Abendunterhaltung in Zerbst zeugt ein Vortrag „Jurist und Dichter“ (1881), in dem er seine Studien über Shakespeare’s „Kaufmann von Venedig“ und Ihering’s „Kampf ums Recht“ geistvoll verwerthete. Ebenso interessant schrieb er über „Entstehung und Inhalt des Rechts“ (1881), über den Eid etc. Trefflich sprach er über Luther (1883), über Bismarck (Anhaltischer Staatsanzeiger 1885 Nr. 79). In Marquardsen’s Handbuch des öffentlichen Rechts III, 2. 1 behandelte er 1884 das Staatsrecht des Herzogthums Anhalt. Bei den Reichstagswahlen wirkte er als Führer der Partei kräftig im nationalliberalen Sinne. In Zerbst ward er 1871 zum Abgeordneten in den anhaltischen Landtag gewählt. Diesem hat er bis Mitte 1887 angehört, sogleich als ausgezeichneter Präsident, gerecht und unparteiisch, Schwung in die Verhandlungen bringend, Verwickeltes mit Scharfblick sichtend, prompt die Geschäfte erledigend, schroffe Gegensätze liebenswürdig ausgleichend. Der Minister von Larisch konnte 1872 seinem Landesherrn Herzog Friedrich von Anhalt keinen Bessern zum herzoglichen Commissar vorschlagen als ihn, zur Vorbereitung der anhaltischen Domanialauseinandersetzung, um deren Durchführung, die erst unter dem Minister von Krosigk zu erreichen war, er sich wesentliche Verdienste erwarb. Als Kreisgerichtsdirector 1872 nach Dessau versetzt ward er dort 1879 Präsident des Landgerichts und bewährte sich in den vielseitigen Geschäften, welche die neue Justizorganisation mit sich brachte, durch ernste Pflichttreue, regen Diensteifer, Umsicht und Tüchtigkeit zur Hebung des Ansehns der ihm zugewiesenen Beamtenkreise. Gleiche Anerkennung fand er als Kirchenrathsmitglied zu St. Johannis in Dessau und als Abgeordneter in den durch eine Vorsynode 1876 vorbereiteten für 1880–86 einberufenen ordentlichen Landessynoden, denen er ebenso vortrefflich zu allseitiger Zufriedenheit vorstand; nicht bloß daß er als Synodalpräses die Verhandlungen geschickt leitete, scharfe Gegensätze milderte und vermittelte, er wußte besonders auch die kirchlichen Interessen als Landtagspräsident mannhaft und erfolgreich zu vertreten, so daß ihm die evangelische Landeskirche dauernd dafür dankbar bleibt. Die Einweihung des neuen Gerichtsgebäudes in Dessau (16. September 1886) war seine letzte Amtshandlung. Es gelang nicht, ein langwieriges schmerzhaftes Nierenleiden zu bewältigen. Er sollte am 1. October 1887 in den Ruhestand treten. Kurz vorher entschlief er. P. war ein edler hochherziger Mensch, für alles Schöne und Erhabene begeistert, geistvoll und liebenswürdig im Verkehr, mit seltner Fülle von Wissen ausgestattet.

Vgl. „Zum Gedächtniß des Herrn Johann Friedrich August Pietscher“. Dessau 1887. Mit Photographie und Facsimile. – „Präsident Pietscher“ Leitartikel der Cöthen’schen Zeitung 1887 Nr. 224.

[808] *) Zu S. 124.