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Artikel „Okeghem, Johannes“ von Wilhelm Bäumker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 210–216, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Okeghem,_Johannes&oldid=- (Version vom 7. Oktober 2024, 19:34 Uhr UTC)
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Okeghem: Johannes O. (Ockegen, Okgekhem, Okegam, Ogheghen, Ocheghen, Ockeghem, Ockenheim, Okenheim, Olreghem, Opeghem, Octinghem, Ochinghem [Haberl S. 524], Oqueghem, de Okeghem [Fétis, Biogr. VI, 358] Okeeghem, Okekem, Okhenhemius [[[Robert Eitner|Eitner]], Bibliogr. 757], Orreguen [van der Straeten VII, 474]), einer der bedeutendsten niederländischen Tonsetzer des 15. Jahrhunderts, wurde, wie Fétis [211] u. A. combiniren, um das Jahr 1430 geboren. Der Geburtsort ist mit Sicherheit nicht festzustellen; indessen hat M. de Burbure aus den Rechnungen der Stadt Termonde in Flandern nachgewiesen, daß dort in den Jahren 1381 bis 1430 eine Familie „van Okeghem“ ansässig war, und schließt daraus, daß der große Componist dieser Familie entstamme. Da der Name „de Okeghem“ auch in den Ueberschriften zu den Compositionen dieses Meisters vorkommt, so ist seine Vermuthung aller Wahrscheinlichkeit nach zutreffend (vgl. Fétis VI, 357). In den Rechnungen der Kathedrale von Antwerpen aus den Jahren 1443 bis 1444 figurirt der Name O. unter den Chorsängern. Daraus läßt sich wohl der Schluß ziehen, daß unser Meister als Knabe in die Singschule der Kathedrale, welche schon seit dem 13. Jahrhundert existirte (van der Straeten VI, 72) eintrat und später, als seine Stimme brach, unter die Zahl der besoldeten Sänger aufgenommen wurde. Vom Jahre 1444 an verschwindet sein Name aus den Listen. Fétis glaubt nun, daß O. im J. 1445 nach Bruges gegangen sei und dort unter Binchois in der Capelle Philipps des Guten[WS 1] weiteren Studien in der Composition obgelegen habe, im J. 1450 möge er dann als einfacher Sänger in die Capelle des Königs von Frankreich eingetreten sein. Im J. 1461 ist O. wie urkundlich nachgewiesen werden kann, erster Sänger (proto-capellanus) in der Capelle des französischen Königs Karl VII. Auch unter dessen Nachfolger Ludwig XI. bekleidete unser Meister dieses Amt, denn im J. 1476 dedicirte Tinctoris[WS 2] sein Buch: „De natura et proprietate tonorum“, den „praestantissimis ac celeberrimis artis musicae professoribus Joanni Okeghem, christianissimi Ludovici XI. regis Francorum protho-Capellano ac magistro Antonio Busnois illustr. Burgundorum regis cantori“. Auffallend ist daß, wie Fétis sagt, in den Rechnungen der Hofcapelle vom J. 1461 an der Name O. nicht mehr vorkommt, dagegen ein gewisser Gourdin als Protocapellanus angeführt wird. Ludwig XI. hatte unterdessen seinen ersten Sänger zum Schatzmeister an der Capitelkirche des h. Martin in Tours ernannt und ihm damit ein Ehrenamt wie auch eine einträgliche Präbende[WS 3] zugewiesen. Wir erfahren dieses aus den Urkunden der Städte Damme und Bruges, welche O. im J. 1484 mit seinen Sängern (cum suis) besuchte: „Item, den VIIIen dach vander zelver maendt (oust), ghepresenteirt mijnen heere de provost van Tours, eerste capellaen vanden Coninc van Vanckerijcke, hier commende met zijnen gheselcepe, IIII kannen wijns van VI grots den stoop; comt II liv. VIII. s. paris“ (van der Straeten I, 100). Unter dem 15. August desselben Jahres berichten die Acta cap. S. Donati in Bruges: „Sex cannae vini, pro subsidio sociorum de musica, in coena facta domino thesaurario Turonensi, domino Johanni Okeghem, primo capellano regis Franciae, musico excellentissimo cum suis“ (das. S. 101). Im J. 1491 wird in den Acten (Bibl. in Paris) ein gewisser Erars als Sänger und Orgelspieler der königlichen Capelle angeführt, der im J. 1499 auch das Amt eines thesaurarius S. Martini in Tours bekleidet. Daraus läßt sich wohl schließen, daß O. während dieser Zeit unter Beibehaltung seiner Titel in den Ruhestand trat. Er starb in Tours; in welchem Jahre ist unbekannt. Nach einer Aeußerung Jean Lemaire’s lebte er noch im J. 1512. Kiesewetter u. A. nehmen deshalb 1513 als das Todesjahr an (Fétis VI, 360).

O. wird von seiner Zeit und seinen Kunstgenossen als bedeutender Tonsetzer gepriesen. Die aus Anlaß seines Todes erschienenen Déplorations oder Complaintes sind des Lobes voll. Josquin de Près componirte ein solches Gedicht zu 5 Stimmen:

„Nymphes des bois, déesses des fontaines,
Chantres experts de toutes nations

[212] Changez vos voix fort claires et hautaines
en cris tranchants et lamentations“ etc,

worin der Cantus firmus im Tenor, die Melodie des kirchlichen „Requiem aeternam dona eis Domine“ etc. singt. – Joh. Lupi componirte Naenia in Johannem Okegi Musicorum Principem mit den Anfangsworten: „Ergo ne conticuit vox“ zu 4 Stimmen. Am meisten citirt wird das 420 Verse lange Gedicht von W. Crétin, welches im J. 1864 von J. Thoinan aufs neue veröffentlicht wurde (Paris, A. Claudin). Vers 107 heißt es:

„C’est Okergan quon doibt plorer et plaindre,
C’est luy qui bien sceut choisir et attaindre,
Tous les secretz de la subtilité
Du nouveaux chants par son habileté.
Sans un seul poinct des ses regles en fraindre,
Trente-six voix note, escriper et paindre
en ung motet; est ce pas pour complaindre
Celluy trouvant telle novalité?
 C’est Okergan.“

A. Fröhlich hat in den Monatsschriften für Musikgeschichte XI, 3 eine ausführliche Beschreibung und Uebersetzung dieses altfranzösischen Gedichtes geliefert. Burney und Ambros führen noch einen Trauergesang von Guilleaume Crespel an:

„Agricola, Verbonnet, Prioris,
Josquin Desprez, Gaspas, Brunel, Compère.
Ne parlez plus de joyeux chantz ne ris,
Mais composez ung „Ne recorderis“
Pour lamenter nostre maistre et bon père
Prevost, Ver-Just, tant que Piscis Prospère.“

Den Text bilden die Verse 397–411 des Cretin’schen Gedichtes. Van der Straeten theilt (I, 101) ein Lobgedicht des Erasmus mit:

Joanni Okego, Musico summo.
„Ergo ne conticuit
Vox illa quondam nobilis
Aurea vox Okegi?“ etc.

(Delitiae poetarum belgicorum … collectore Ranutio Gero. Francofurti 1614. p. 276.)

O. hat viele Messen, Motetten und Lieder componirt, von denen aber nur eine kleine Anzahl später gedruckt wurde; auch das bis heute entdeckte handschriftliche Material ist nicht bedeutend. Ich habe den Versuch gemacht, in dem folgenden Verzeichniß die Compositionen Okeghem’s zusammenzustellen, weil bis heute noch keiner sich der Mühe unterzogen hat, das zerstreute Material zu sammeln.

I. Messen. 1. „Au traveil suis“. 1490 (die Zahl 1490 bezeichnet, daß die Composition auf einem Pergamentblatte aus dieser Zeit notirt ist. Van der Straeten VI, 33, 36), von Crétin Vers 218 erwähnt, Ambros III, 179. 2. „Cujusvis toni“. 4 voc. (von Glarean ad omnem tonum genannt), 1490; erwähnt von Crétin Vers 218. Handschrift der Proske’schen Bibliothek in Regensburg (Kornmüller, Lexikon der kirchl. Tonkunst 1870, S. 334). Gedruckt 1539 in Nürnberg. Petrejus (Eitner, Bibliogr. 758). Proben daraus in Glarean’s Dodekachordon, in den Musikgeschichten von Forkel, Kiesewetter und Ambros V. Band. 3. „De plus en plus“ 4 voc. (motto enigmatico) 1490. Index Salvati. (Indice dei libri di musica manoscritti e stampati esistente nell’ antico Archivio dei Cappellani Cantori pontificii, compilato per ordine del sommo pontifice-re Pio Papa IX, felicemente regnante, cura del maestro pro tempore Vincenzo avv°. Salvati di Anagni e della commissione, nell’ anno 1863. Salvator Fondi Arcis, Papae scriptor fecit an. Dn. 1863.) (Van der [213] Straeten VI, 465). Päpstliches Sängerarchiv (Haberl 470; Ambros III, 179). 4. „Ecce ancilla Domini“, 4 voc. 1490. Hdschr. 5557 der k. Bibl. in Brüssel (Fétis, Biogr. VI, 364; Ambros III, 179). 5. „Fors (seulement)“, 1490. 6. „Gaudeamus“. 4 voc. Hdschr. 11778 der Hofbibl. in Wien (Fétis, Biogr. VI, 364). Von Ambros wird diese Messe dem Josquin de Près zugeschrieben (III, 179). Proben daraus nach Stadler in den Werken Kiesewetter’s. 7. „La belle se siet“, von Tinctoris angeführt (Ambros III, 179). 8. „Le serviteur“, cod. 88 in Trient (Haberl 486). 9. „L’homme armé“, 1490; von Aaron im Toscanello angeführt (Ambros III, 179). 10. „Maistresse“. 1490. 11. „Mi-Mi“, 1490. Von Crétin erwähnt Vers 217 (vgl. Ambros III, 179). 12. „Missa 4 toni“. Index Salvati (van der Straeten VI, 473). 13. „Missa 5 toni“, 1490. 14. „Missa prolationum“, 4 voc. 1490. Bruchstück in S. Heyden’s Ars canendi, S. 70 (Ambros III, 179) und in Praecepta Musicae practicae. Inspruck 1544 (Fétis VI, 364). Daraus bei Bellermann, die Mensuralnoten und Tactzeichen des 15. und 16. Jahrh., 1858. S. 84 ff. 15. Missa ohne nähere Bezeichnung, 1490. 16. Dito 1490. 17. Dito. Index Salvati (van der Straeten VI, 471). 18, 19. 20. Drei Messen ohne Titel. Collection Chigi (van der Straeten VI, 49). 21. Messa, ohne Titel. Index Salvati (van der Straeten VI, 476). 22. Messa a 4. Daselbst. 23. Messe, 1472 (Haberl 440). 24. Messe, cod. 88 in Trient (Haberl 486). 25. „Nuntiavit suis“. Index Salvati (van der Straeten VI, 473). 26. „Patrem“. Index Salvati (van der Straeten VI, 470). 27. „Pour quelque peine“, 4 voc. Hdschr. 5557 der königl. Bibliothek in Brüssel (Fétis VI, 364). 28. „Requiem“, 1490. Von Crétin erwähnt Vers 220 (Ambros III, 179). 29. „Village“. Handschrift der Collegiatkirche S. Donatian in Bruges (Fétis VI, 364).

II. Motetten. 1. „Alma redemptoris“, 4 voc. Hdschr. 2794 der Riccardiana in Florenz (Ambros III, 180). 2. „Ave Maria“, 1490. 3. „Erubescat Judaeus“, V voc. Proske’sche Bibl. (Kornmüller, Lexikon 334). 4. „Gabrielem Archangelum“, V voc. Daselbst. 5. „Gaude Maria virgo“, V voc. Daselbst. 6. „Intemerata Dei mater“, 1490. 7. „Miles mirae probitatis“. Ambros III, 175, 179. 8. Motette zu 36 Stimmen von Crétin erwähnt Vers 112, von Ornithoparchus Micrologus 1517. IV, 1 bestätigt. Vgl. auch Glarean’s Dodekachordon lib. III. p. 454. Vielleicht ist dies die Motette Deo gratia, welche 1542 in Nürnberg bei Petrejus gedruckt wurde (Eitner 758). 9. 10. Zwei Motetten ohne Titel. Collection Chigi (van der Straeten VI, 49). 11. „Salve regina“. Index Salvati (van der Straeten VI, 474). 12. „Ut heremita solus“. Von Crétin Vers 222 genannt (Ambros III, 72, 177, 179). 13. „Uterum tuum“, V voc. Proske’sche Bibliothek (Kornmüller’s Lexikon 334). 14. „Vivit dominus“, gedruckt 1549 (Eitner 758).

III. Lieder. 1. „Aultre Venus“. Hdschr. 2794 der Riccardiana in Florenz (Ambros III, 180). 2. „Baisiez moy“. Hdschr. Basevi in Florenz (Ambros III, 175, 180). 3. „Dun aultre amer mon coeur. Hdschr. 295 der Bibl. in Dijon (Fétis VI, 365), Hdschr. 2794 der Riccardiana in Florenz (Ambros III, 180), Hdschr. O. v. 208 der Casanatensis in Rom (Ambros III, 180). 4. „Fors seulement“, 3 voc. und 4 voc. Hdschr. der Bibl. in Dijon (Fétis VI, 865, van der Straeten VI, 36), Hdschr. Basevi in Florenz (Ambros III, 175, 180). Abgedruckt in Ambros V. Band. 5. „Je n’ay deul“, 4 voc. Hdschr. Basevi in Florenz (Ambros III, 175, 180). Gedruckt 1503. Petrucci (Eitner 758). Abgedruckt im V. Bd. von Ambros. 6. „L’autre dantan l’autrier“, 3 voc. Hdschr. 295 der Bibliothek in Dijon (Fétis VI, 365), Hdschr. O. v. 208 der Bibl. Casanatensis in Rom (Ambros III, 180). Abgedruckt im V. Bd. zu Ambros. 7. „Le desléaulx ont la raison“. Hdschr. 295 der Bibl. in [214] Dijon (Fétis VI, 365). 8. „Ma bouche rit“, 3 voc. Hdschr. 295 der Bibl. in Dijon. Mus. Mr. 3232 der königl. Bibl. in München; Hdschr. O. v. 208 der Bibl. Casanatensis in Rom. Gedruckt 1501. Petrucci (Eitner 758). Abgedruckt in den Monatsheften für Musikgeschichte VI, S. 16 (Ambros III, 175, 180). 9. „Malheur me bat“, 3 voc. Gedruckt 1501. Petrucci (Eitner 758, Ambros III, 175, 180). 10. „Ma maistresse“. Von Tinctoris angeführt (Ambros III, 180). 11. „Petite camusette“, 4 voc. Hdschr. Basevi in Florenz (Ambros III, 180), gedruckt 1501. Petrucci (Eitner 758). 12. „Prennes sur moy fuga“, 3 voc., gedruckt 1503. Petrucci (Eitner 758), in Glarean’s Dodekachordon S. 454 in Seb. Heyden’s De arte canendi S. 34, in Faber’s Erotemata S. 152, in Wilphingseder Erotemata S. 57, in den Musikgeschichten von Hawkins, Burney, Forkel, Kiesewetter falsch reproducirt. Richtig bei Fétis VI. 363 und im V. Bande zu Ambros S. 18. 13. „Presque transi“. Hdschr. 295 in Dijon (Fétis VI, 365). 14. „Quant de vous seul je pers la veue“. Daselbst. 15. „Rondo royal“. Hdschr. 2794 der Riccardiana in Florenz (Ambros III, 175, 180). 16. „Se ne pas jeulx“ 3 voc. Hdschr. O. v. 208 der Bibl. Casanatensis in Rom (Ambros III, 180). Abgedruckt im V. Bande zu Ambros, S. 14. 17. „Se vostre coeur“, 3 voc. Hdschr. O. v. 208 der Bibl. Casanatensis in Rom (Ambros III, 180). Abgedruckt im V. Bande zu Ambros, S. 16.

Mehrere Bände mit Messen von O. finden sich verzeichnet im Inventaire des livres de la Reine douariére Marie de Hongrie (1565?), van der Straeten VII, 474, 480 ff.

Gedruckte Chansons in Le septiesme livre contenant vingt et quatre Chansons a cincq et a six parties etc. Imprimé en Anvers par Tylman Susato 1545.

Wie aus dieser Zusammenstellung zu ersehen ist, componirte O. eine ganze Anzahl Messen, Motetten und weltliche Lieder (Chansons). Die Melodien zu seinen Messen entnahm er dem lateinischen Chorgesang, oder seiner eigenen Phantasie, oder auch weltlichen Liedern. An eine beabsichtigte Profanation darf man hierbei nicht denken. „Mochten auch die Namen der Messen zuweilen noch so wunderlich klingen, das Alltagleben hatte einen poetischen Zug, darum büßte das ideale Leben der Kunst und Frömmigkeit nichts ein, wenn es jenes andere abspiegelte und zugleich verklärte; das Heilige wurde dadurch dem Niederländer nicht entweiht, wol aber umgekehrt das Alltägliche geheiligt“ (Ambros III, 25).

O. war ein Meister des künstlichen Contrapunktes, der alle feinen Kunstgriffe (secrets) und Spitzfindigkeiten der neuen Art (mehrstimmig) zu singen geschickt anzuwenden wußte. Dieses Zeugniß gibt ihm Crétin in den oben angeführten Versen. Die neue Art mehrstimmig zu singen, welche er auch an dem Vorgänger unseres Meisters Dufay rühmte, war die contrapunktische, ein besonderer Kunstgriff dabei war die Nachahmung d. h. die Wiederholung der Hauptmelodie (cantus firmus) in den andern Stimmen im Umfange einer Octav, Quint, Quart etc. Aus dem cantus firmus ließ sich durch die verschiedenen Nachahmungsformen[WS 4] ein ganzer mehrstimmiger Tonsatz entwickeln. Daher kamen die Tonsetzer auf den Gedanken, diese Einheit in der Mannigfaltigkeit auch äußerlich darzustellen, indem sie die Nachahmungen mit ihren Veränderungen nicht in Noten niederschrieben, sondern in eine Notenreihe (cantus firmus) den ganzen mehrstimmigen Satz einschlossen und durch daneben stehende Zeichen und Sprüche angaben, in welcher Weise sich die zweite, dritte etc. Stimme der ersten anzuschließen habe. Solche Sprüche hießen „Canones“, d. i. Regeln. Diese waren nicht immer klar und deutlich ausgesprochen, sondern vielfach in eine Art Rebus gefaßt, welchen der Sänger erst entziffern mußte, um die Regel herauszufinden [215] (Räthselcanones). Zu diesen gehört jedenfalls die Messe „De plus en plus“. In der vierstimmigen sog. Prolationsmesse ergeben sich aus zwei geschriebenen Stimmen, blos durch den Unterschied des Tempus und der Prolation die beiden anderen Stimmen. Auch die Missa cuiusvis toni gehört zu den künstlichen. Hier sind gar keine Schlüssel vorgezeichnet. Sie kann mit den nothwendigen Aenderungen in jedem Kirchenton gesungen werden.

Die Stellung Okeghem’s in der Musikgeschichte läßt sich namentlich seinen Vorgängern gegenüber nicht fixiren, weil von Dufay noch zu wenig bekannt ist. „So lange die Detailforschung ihre Arbeit nicht vollendet hat, kann die Musikgeschichte über Dufay noch kein Generalurtheil abgeben“ sagt Haberl (Bausteine 430). Gewöhnlich beginnt man mit O. die zweite Periode der niederländischen Musik. Haberl meint, man solle das nicht thun, da die sog. erste Periode Dunstable, Binchois, Dufay, Dussart, Busnois, Caron ganz nahe bei O. und seinen Schülern liege. Diese Meister der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts haben Dufay gekannt, seine Lehren und Compositionen studirt, ihn als „Stammvater“ verehrt (daselbst 474).

Fétis sagt über O.: „Wenn man die Compositionen, welche uns erhalten geblieben sind, mit den Arbeiten seiner unmittelbaren Vorgänger, besonders Dufay’s vergleicht, so ersieht man daraus, daß O. besser als jener es verstand, die einzelnen Stimmen in ihren natürlichen Grenzen zu halten, Kreuzungen derselben zu vermeiden und die Harmonie reicher zu gestalten“. Glarean schreibt ihm nächst Josquin eine besondere Fertigkeit in der canonischen Satzweise zu, deren erste Anfänge man bei den Componisten aus der letzten Zeit des 14. Jahrhunderts findet (VI, 362).

Ambros (III, 174) gibt folgendes Urtheil ab: „O. wurzelt im Boden seiner Zeit, er hat die Ueberlieferungen seiner Vorgänger übernommen und sie eifrig und treulich weiter ausgebildet. Aber eben das, was er hierin geleistet hat, wendete ihm die Bewunderung der Zeitgenossen zu und dieser Ruf führte ihm die besten Talente als Schüler zu, unter ihnen Josquin und Pierre de la Rue etc.“

Was nun aber O. über seine Vorgänger erhebt, ist nicht die in der That erstaunliche Zuspitzung der canonischen und anderweitigen Satzkünste, der wir bei ihm begegnen. Kraft des ihm innewohnenden musikalischen Geistes haucht O. seiner Musik die singende Seele ein, er formt ihr einen tüchtig harmonisch gegliederten Leib und kleidet diesen in das feine Kunstgewebe sinnreicher thematischer Führungen, engerer und weiterer Nachahmungen etc.“ – Eine ästhetische Würdigung einzelner Compositionen findet man bei Ambros III, S. 174 ff.

Aug. Wilh. Ambros, Geschichte der Musik, 4 Bde. Leipzig. 2. Aufl. 1880 ff. Beispielband von Kade. 1882. Das. – K. F. Becker, Die Tonwerke des 16. und 17. Jahrhundsrts. Leipzig 1847. – Heinr. Bellermann, Die Mensuralnoten und Tactzeichen im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1858. – Rob. Eitner, Monatshefte für Musikgeschichte. 17 Jahrgänge, Berlin 1869 und Leipzig 1884–1886. – Derselbe, Bibliographie der Musik-Sammelwerke des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1877. – F. J. Fétis, Biographie universelle des Musiciens. 2ème Edit. Paris 1873–1875 und Suppl. p. A. Pougin. 2 Vols. 1878, 1880. – Derselbe, Mémoire sur cette question: Quels ont été les mérites des Néerlandais dans la musique, principalement aux 14. 15. et 16. siècles etc. Amsterdam 1829. – J. N. Forkel, Allg. Gesch. d. Musik, 2 Bde., 1788 u. 1801. – F. X. Haberl, Wilhelm du Fay. Monographische Studie über dessen Leben und Werke in der Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft, Leipzig 1885. – R. G. Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik, 1834. 2. Aufl. 1846. [216] – Derselbe, Die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst, Amsterdam 1829. – Edmond van der Straeten, La Musique aux Pays-bas avant le XIX siècle. Bruxelles. 7 Vols. 1867–1885.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Philipp der Gute (1396–1467), Herzog von Burgund
  2. Johannes Tinctoris (um 1435–1511), franco-flämischer Komponist und Musiktheoretiker der Renaissance
  3. Präbende = Pfründe, meist in kirchlichem Umfeld benutzt.
  4. Vorlage: Nachahmunsformen