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Artikel „Oertzen, Jasper von“ von Wilhelm Sillem in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 715–718, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Oertzen,_Jasper_von&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 23:33 Uhr UTC)
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Oertzen: Jasper von Oe., einer der thätigsten Männer der Innern Mission, geboren in Rostock am 10. August 1833, † in Hamburg am 11. November 1893, war der Sohn des J. J. B. W. v. Oertzen[WS 1], einstmaligen, mecklenburgischen Bundesgesandten und von 1858–1869 Ministerpräsidenten in Schwerin († 1874). Die Mutter war die Tochter des Hamburger Kaufmanns Joh. Schuback († 1822, vgl. über die Familie A. D. B. XXXII, 585/7), eine lebhafte und energische Frau. Von den dreizehn Kindern, denen sie das Leben geschenkt hat, war Jasper das dritte und dasjenige, das ihr in seinem jugendlichen Uebermuthe viel Sorge bereitet hat, da er keine Gefahren kannte. Weder der Aufenthalt im Cadettenhaus zu Potsdam noch einige Jahre auf dem Gymnasium zu Ratzeburg hatten den gewünschten Erfolg. Tiefere religiöse Eindrücke gewann Oe. in dem Eilers’schen Institut bei Halle, an welchem Pastor Ahlfeld den Religionsunterricht ertheilte. Ihm hat Oe. stets ein liebevolles Andenken bewahrt. Mit achtzehn Jahren trat Oe. in die österreichische Cavallerie ein und zwar in das Dragonerregiment Kaiser Franz Joseph, hernach als Lieutenant bei den Clam-Gallas-Ulanen. Die Quartiere wechselten häufig in kleinen Orten; so lernte Oe. sie kennen von Wien und Pest bis nach Siebenbürgen und in der Bukowina. Er war ein stattlicher Officier, guter Reiter, ein beliebter Kamerad, freundlich und liebenswürdig, mit Witz und Humor begabt. Ein hartnäckiges Lungenleiden machte aber der Soldatenlaufbahn ein Ende, als er den Winter 1858/59 zu seiner Genesung in Venedig zubringen mußte. „Und dies Leiden wurde nun in Gottes Hand das Mittel, den großen Umschwung in seinem Leben herbeizuführen und die Jahrzehnte hindurch zu Gott gesandten Gebete seiner Eltern endlich zu erhören. In einer Nacht, in der er schon von kalten Schweißen, den sicheren Begleitern der Schwindsucht, geplagt wurde, fühlte er sich vor das große Entweder-Oder gestellt, vor die Entscheidungsfrage: Tod oder Leben?“ Mit Bewilligung seines Vaters begab er sich zu einem Landwirth in Mecklenburg, um die Landwirthschaft zu erlernen und übernahm im J. 1861 das Gut Sassen in Ostpreußen, das der Vater für ihn erworben hatte. In der Schwierigkeit des praktischen Berufes lernte Oe. allerlei Nöthe des täglichen Lebens kennen. Er nahm sich der Gutsinsassen an, gründete für sie einen Mäßigkeitsverein und eine Sparcasse, suchte die Schule zu heben und arbeitete mit im Kirchencolleg. Die Landwirthschaft leitete er selbst; aber da der nöthige Erfolg ausblieb, verpachtete er später das Hauptgut und hernach die Nebengüter. Dies erlaubte ihm, den Winter in Berlin zuzubringen. Wie sein Vater einst hier sich den Predigern Jänicke (s. A. D. B. XIII, 699) und O. v. Gerlach (ebd. IX, 19) angeschlossen hatte, so führte der Berliner Aufenthalt den Sohn u. A. auch zu Wichern, der [716] damals dort die einflußreichste Stellung für die Werke der Innern Mission einnahm. Es reifte in Oe. der Entschluß, nachdem seine Angehörigen eingewilligt hatten, sein Landgut aufzugeben, seine Kraft ganz in den Dienst der Innern Mission zu stellen. Etwa seit 1868 trat Oe. in ein näheres Verhältniß zu Wichern, der sich bald mit dem Gedanken vertraut machte, aus dem preußischen Staatsdienste auszuscheiden (s. A. D. B. XLII, 779). Durch manche Gemüthsbewegungen, die dies und anderes mit sich brachten, war Wichern in seinem reizbaren Zustande nicht leicht zu behandeln. Da war es Oe., der sich seiner besonders annahm zur Freude von Wichern’s Familie, wie auch Wichern sich des jungen Freundes angenommen und ihn durch einen förmlichen Cursus in das Verständniß der heiligen Schrift und in die Aufgaben der Innern Mission eingeführt hatte. Wichern’s Freunde nahmen den günstigen Einfluß des jungen Mannes auf den älteren, gereifteren Mann wahr, sodaß v. Bethmann-Hollweg einst zu Oe. sagte: „Es wäre schön, daß Sie zu dem Gefühl und Bewußtsein kämen, daß dies vor der Hand die Stelle ist, wo Gott Sie hinstellen will, denn Wichern hält unendlich viel von Ihnen, und ich halte es für ein Glück, daß er Sie in seiner Nähe hat.“ Besonders war Oe. ihm eine Stütze, als zwei Söhne Wichern’s 1870 im Felde standen und Oe. ihn begleitete, den schwerverwundeten Sohn im Lazareth bei Orléans zu besuchen, der aber schon seinen Wunden erlegen war, als Beide nach langem Suchen das Lazareth gefunden hatten. Um diese Zeit schrieb Wichern an Oe.: „Bleiben Sie uns ein solcher Freund, wie wir sonst keinen haben, der uns solch ein Trost und solche Erquickung ist in der Noth, in der wir stehen.“ Schriftlich hatten sie ihre Gedanken ausgetauscht, denn seit dem Anfang des Jahres 1870 war Oe. in die Brüderschaft des Rauhen Hauses eingetreten und Wichern hatte ihm die Leitung des „Pensionats“ für schwer erziehbare und gefährdete Söhne wohlhabender Eltern übergeben. Es mag Wunder nehmen, daß ihm gerade dieser Posten übertragen worden war, da er selbst keineswegs einen regelmäßigen Bildungsgang durchgemacht hatte. Allein außer den bereits erwähnten Studien unter Wichern hatte Oe. die Landeinsamkeit in Sassen benutzt, die Lücken in seiner Bildung durch geschichtliche und socialpolitische Studien auszufüllen. Im Rauhen Hause hatte er das Griechische wieder aufgenommen, um das Neue Testament in der Ursprache lesen zu können. Weil Oe. nichts anderes wollte als dienen, „so heiligte ihm Gott die Gabe des Regierens, daß alles sich ihm freudig unterordnete“; manche seiner Rauhhäusler Pensionäre haben ihm noch in späteren Lebensjahren bezeugt, daß sie ihm ihr Bestes für Zeit und Ewigkeit verdankten“. Nicht etwa nothgedrungen fügte sich der ehemalige Officier und Gutsbesitzer in das ganze Anstaltsleben des Rauhen Hauses, wo, „was man Comfort nennt, eine „terra incognita ist“, wie er einstmals schrieb, „sondern fand für seine Person einen Ersatz für alle vergänglichen Freuden und Genüsse in reichem Maaße in den persönlichen Beziehungen zu den vortrefflichen Rauhhäusler Brüdern und den lieben unglücklichen Kindern, die ihm täglich mehr ans Herz wuchsen“. Es konnte nicht ausbleiben, daß Oe. zu den Freunden des Rauhen Hauses und der Innern Mission in Hamburg auch in Beziehung trat. Seit 1872 gehörte er dem Verwaltungsausschuß für Innere Mission an, und als er 1875 zum Vorsteher der Stadtmission in Hamburg erwählt wurde, schied er aus dem Rauhen Hause. Von 1875 bis zu seinem Tode wohnte er im Mittelpunkt Hamburgs neben der Anscharcapelle, deren Prediger, besonders Ninck (s. A. D. B. LII, 634), einen Mittelpunkt für die Arbeiten der Innern Mission bildeten. Neun Jahre lang, bis 1884, stand Oe. der Hamburger Stadtmission vor. Wöchentlich einmal versammelte er in seiner Wohnung die Stadtmissionare, Brüder des [717] Rauhen Hauses, um sich, wo alsdann die Arbeit derselben besprochen wurde nach Betrachtung eines Schriftabschnittes. Im Spätherbst fand in einer der Stadtkirchen das Jahresfest statt, bei welchem Oe, den von ihm verfaßten Bericht vortrug, der mit schonungsloser Offenheit die Schäden des Volkslebens darlegte und Hoch und Niedrig zur Umkehr aufforderte. Oe. entwickelte erfolgreich eine bedeutende organisatorische Thätigkeit, zu der er besonders befähigt war. Vorzüglich bethätigte er sie in den christlichen Männer- und Jünglingsvereinen. Einer derselben, der „Norddeutsche Verein“, der sich über Schleswig-Holstein, Hamburg, Lübeck, Mecklenburg in 27 Vereinen erstreckte, wählte 1880 Oe. zum Vorsitzenden. Im Todesjahre Oertzen’s (1893) bestand er aus 135 Vereinen. Ebenso erweiterte sich der Hamburger Jünglingsverein, der 1870 auf sieben Mitglieder zusammengeschrumpft war, bis 1879 auf sechs und bis 1893 auf 16 Vereine mit etwa 800 Mitgliedern. Oe. war vor allem bestrebt, daß denselben das Christenthum weder als eine langweilige noch als eine finstere Sache erscheine. Er war kein weltlicher Mensch, aber ebensowenig ein weltfremder. Von den Thematas, die in den Vorträgen des Vereins junger Männer in Hamburg behandelt wurden, waren weder geschichtliche noch litterarische, weder Politik noch sociale Fragen ausgeschlossen. Aber sowol in den Versammlungen als im Einzelgespräch drang er auf Entscheidung und Entschiedenheit bei seinen Freunden, denn das waren ihm die Mitglieder. Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Liberale und Socialdemokraten fanden sich bei diesen Versammlungen ein. Je offener er vor den letzteren das Berechtigte ihrer Forderungen anerkannte, desto deutlicher konnte er auch ihnen die Wahrheit sagen auf solchen Gebieten, auf denen sie in schweren Irrthümern befangen sind. Es war wohl berechtigt, solche Verhandlungen als „Evangelisation“ im besten Sinne zu bezeichnen. Durch die Leitung des oben erwähnten Norddeutschen Bundes war Oe. auch in Schleswig-Holstein und den benachbarten Gebieten vielfach organisatorisch thätig. Der holsteinische Generalsuperintendent Jensen veranlaßte den Schleswig-Holsteinischen Verein für Innere Mission 1873 Oe. zum Leiter zu wählen. Oe. schlug zwar eine ihm geeigneter erscheinende Persönlichkeit dazu vor, allein da Jensen darauf nicht einging, so folgte Oe. diesem Rufe. Er sah sich nun auch als kirchlich berufen an. Darauf legte er besonderes Gewicht für seine Aufgabe daselbst. Denn der genannte Verein, 1850 gegründet, hatte anfangs manche Mitglieder unter den „Stillen im Lande“ und stand dadurch unter herrnhutischem Einfluß und später durch den Hamburger Prediger, Doctor Craig, unter dem der Schottischen Freikirche, so daß die Gefahr nahe lag, daß die Vereinsmitglieder in sogenannten „Gemeinschaften“ mehr und mehr von der Landeskirche entfremdet würden. Vielleicht deshalb hatte Jensen sich Oe. zum Vereinsleiter ausersehen, da Oe. grundsätzlich dafür wirkte, die Bestrebungen der Inneren Mission in Verbindung mit der Landeskirche zu bethätigen. Nachdem er 1884 die Leitung der Hamburger Stadtmission abgegeben hatte, konnte er sich dem Ausbau des Schleswig-Holsteinischen Vereins noch mehr widmen. Neben anderen Einrichtungen, die durch ihn ins Leben gerufen wurden, ist vor allem die Arbeitercolonie in Ricklingen zu nennen, in welcher heruntergekommene Menschen Arbeit und Beschäftigung fanden. Von landeskirchlicher Seite fand die segensreiche Wirksamkeit der sogenannten Evangelisten Anerkennung. Oe. ließ sich die Ausbildung derselben angelegen sein. Auf den Gnadauer Conferenzen fanden sich die Freunde der Gemeinschaftsarbeit aus ganz Deutschland zusammen, und waren daselbst Bewegungen und Arbeiten, wie sie in England und Amerika betrieben wurden, von manchen Kreisen übermäßig hoch eingeschätzt worden, so war Oe. unter den Versammelten der, welcher am nüchternsten [718] diese Erscheinungen beurtheilte. Er wollte seine Vereinsleute nicht, wie ihm vorgeworfen wurde, als eine Elite der vermeintlichen Frömmsten sammeln, sondern zu gegenseitiger Stärkung, gemeinsamer Erbauung, selbstverleugnender Arbeit. Diese Grundsätze geltend zu machen bot sich auch in seiner alten Heimath, Ostpreußen, Gelegenheit, als dort eine „wilde“ Gemeinschaftsbewegung sich ausgebreitet hatte. Verständige Laien daselbst wandten sich an Oe. um Rath. Er reiste hin und brachte Ordnung in die Sache. Unter jenen „wilden Evangelisten“ fand er solche, die in Schleswig-Holstein wegen Unlauterkeit beseitigt worden waren. Oe. genoß in seinen Kreisen unbedingtes Vertrauen, auch in nichtkirchlichen und manchen weltlichen Angelegenheiten, bei denen es oft auf Tact und Urtheil ankam. An einem Beispiel möge es gezeigt werden. Ein etwas pietistisch angehauchter Herr in Hamburg bat Oe., ihm ein Testament aufzusetzen, durch welches er sein ganzes Vermögen mit Uebergehung seiner Verwandten, milden Stiftungen vermachen wollte. Oe. stellte ihm vor, daß er über sein ihm vererbtes Vermögen nicht verfügen dürfe, gegen die Ansprüche der Verwandten, die er dadurch kränken würde. Evangelische dürften solche Mittel zu frommen Zwecken nicht anwenden. Es gelang Oe., den Herrn zu überzeugen und das Vermögen den Verwandten zu erhalten.

Oe. hatte bis zum Jahre 1893 rüstig in seiner sich stetig erweiternden Arbeit gestanden. Doch sah er sich nach Männern um, „die“, wie er schrieb, „auch meine Arbeit übernehmen können, wenn der Herr der Arbeit auch mir Feierabend gebietet“. Im Frühjahr 1893 bemerkten seine Verwandten einen Ausdruck der Müdigkeit in seinen Zügen. Wie schon öfter, suchte er Kräftigung in Kissingen zu erlangen, allein diesmal vergeblich, so daß er die Cur wiederholte. Am Ende dieses zweiten Aufenthaltes erklärte ihm der Arzt, daß das Magenleiden unheilbar sei. Ohne zu klagen, setzte er in Hamburg seine Arbeit fort. Noch vierzehn Tage vor seinem Hinscheiden hatte er die große Freude, einen Vereinssaal für christliche Zwecke mit einer Ansprache zu eröffnen. Seit Jahren hatte er sich von Gott einen solchen Versammlungssaal erbeten, der für 2000 Zuhörer groß genug war. Mit dem Erwerb desselben, zu dem eine Gönnerin der Mission mehr als 100 000 Mark gegeben hatte, war ein sehnlicher Wunsch erfüllt. Selbst am Tage vor seinen Abscheiden entließ er einen Freund, mit dem er Arbeiten besprochen hatte, mit den Worten: „Auf Wiedersehen in der Arbeit“. Am 11. November endete Oertzen’s reich gesegnetes Leben durch einen sanften, kampflosen Tod. Nach einer Trauerfeier in der Anscharcapelle erfolgte dem Wunsche des Verewigten gemäß die Bestattung auf dem väterlichen Gute Leppin. Ein Kreuz mit der Inschrift, die er sich selbst gewählt hatte: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“ bezeichnet seine Ruhestätte. In Hamburg aber wurde zu seinem Andenken durch freiwillige Gaben seiner zahlreichen Freunde das „Oertzenhaus“ erbaut, bestimmt zur Aufnahme der Agenten und Bureaus des Norddeutschen Männer- und Jünglingsbundes.

Vgl. J. v. Oertzen. Ein Lebensbild von D. v. Oertzen (Hagen in Westfalen, 168 S.).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jasper Joachim Bernhard Wilhelm von Oertzen (1801–1874); deutscher Verwaltungsjurist, Diplomat und von 1858 bis 1869 Präsident des Staatsministeriums (Ministerpräsident) von Mecklenburg-Schwerin