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Artikel „Nagiller, Matthäus“ von Hyacinth Holland in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 227–228, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nagiller,_Matth%C3%A4us&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 11:57 Uhr UTC)
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Nagiller: Matthäus N., Tondichter. Geb. am 24. October 1815 zu Münster im Unterinnthal, that nach Landessitte in der Jugend Hirtendienste auf den Bergen, saß dann, von seinen armen Eltern zum Geistlichen bestimmt, eine Zeitlang auf den Schulbänken, wobei das Talent zur Tonkunst sich früher entwickelte, als dem begabten Knaben die nöthigste Hülfe und Unterweisung zutheil geworden wäre. Vorerst unterrichtete ihn der Chordirector Pichler in Schwaz, dann kam N. 1834 in die Harmonielehre zu Martin Goller nach Innsbruck und endlich 1837 an das Conservatorium nach Wien; dort studirte er nach der Sechter’schen Methode unter Professor Preyer die Composition mit solchem Erfolge, daß ihm 1840 der erste Preis zuerkannt wurde. Nachdem N. noch zwei weitere Jahre in das Partiturenstudium der wichtigsten Tonwerke sich vertieft hatte, machte er sich mit muthigem Herzen, leichtem Gepäck und noch leichterem Säckel auf nach Paris. Ohne Mittel, ohne weitere Empfehlung, kaum mit der nothdürftigsten Sprachkenntniß ausgestattet, stand ihm die Gefahr nahe genug, untergetaucht zu werden. Die Wasser der bittersten Noth mögen Anfangs oft über ihm zusammengeschlagen sein. Aber mit unverwüstlichem Muth und rastloser Begeisterung rang er sich durch, obwohl „ausgestöbert bis ins Herz vom Föhn“, wie der Dichter Scherenberg später von ihm sang. Glücklicherweise machte er die Bekanntschaft des edlen Heinrich von Orelli, welcher den strebsamen jungen Mann ganz zu sich nahm, Alles mit ihm theilte, ihn mit den höheren Bedürfnissen des Geistes bekannt machte, mit der Poesie des Alterthums und der Neuzeit, der zuerst Homer und Goethe mit ihm las. So wurde N., welcher übrigens den Tirolercharakter nie verläugnete, möglichst geplättet und weltläufig gemacht. Nun componirte er jene schönen Goethe-Lieder und Quartette (von denen leider die Mehrzahl Manuscript blieb), darunter das treffliche Mignonlied. N. schuf sich eine ehrenvolle, theoretische Wirksamkeit und gute Namen rühmten sich, seine Lehre genossen zu haben. H. von Orelli nahm Unterricht im Generalbaß und in der Compositionslehre, ohne jedoch bei seiner vorwiegend philosophisch-speculativen Richtung von der erlernten Technik einen mehr als theoretischen Gebrauch zu machen. Kalkbrenner übergab ihm seinen Sohn; E. Silas, der Sänger Stockhausen, der berühmte Clarinettist Iwan Müller und viele andere Künstler und Schülerinnen suchten Nagiller’s Unterricht. So gelang es ihm mit der Hülfe seiner zahlreicher werdenden Freunde einen „Mozartverein“ in Paris zu gründen, an dessen Spitze N. stand, welcher [228] seine unterdessen componirte erste große „Symphonie in Cmoll“, nebst anderen eigenen Schöpfungen mit dem glücklichsten Erfolge zur Aufführung brachte. Dadurch ermuthigt, wagte N. mehrere Kunstfahrten nach Köln und von dem inzwischen nach Berlin übergesiedelten H. v. Orelli eingeladen, auch nach dieser Stadt, wo er die Freundschaft der Dichter Dr. Adolf Widmann und Christian Friedrich Scherenberg gewann. Nachdem das Jahr 1848 auch den „Mozartverein“ zu Paris gesprengt hatte, ging N. auf einer musikalischen Odyssee durch halb Deutschland, bis er endlich auf dem Gute des kunstsinnigen Freiherrn v. Goldegg bei Botzen ein stilles Eiland fand und daselbst seine „Missa solemnis“ componirte, welche zuerst 1854 in der Ludwigskirche zu München aufgeführt wurde. Ein Jahr darauf veranstaltete N. in München ein großes Concert von eigenen Compositionen, dann schuf er seine melodiöse Oper „Friedrich mit der leeren Tasche“ (Text von Eduard Ille) und die Chöre und Ouvertüre zu A. Widmann’s classischer Tragödie „Nausikaa“, zwei Werke, welche allmählich zu Coburg, Wiesbaden, Innsbruck und Botzen mit der ehrenvollsten Anerkennung über die Bretter gingen und den Localpatriotismus Tirols entzündeten, ohne jedoch an einer größeren auswärtigen Bühne Annahme zu finden. Ausgezeichnet durch den kunstliebenden Herzog Ernst von Coburg, übernahm N. 1865 die Leitung des Musikvereins zu Botzen, nachdem er kurz zuvor in Hamburg mit Frl. Pauline Cruse eine sein Leben beglückende Verbindung geschlossen hatte. In einer, seinen innigsten Wünschen entsprechenden Thätigkeit arbeitete N. mit neuer Energie an der Bildung und Veredelung des Geschmacks, indem er Meisterwerke der größten Tondichter in historischer Reihenfolge zur Aufführung brachte – ein sehr dankbar aufgenommenes Beginnen, welches N. mit demselben Feuereifer bald darauf auch zu Innsbruck, wo er zugleich die Leitung des Conservatoriums führte, fortsetzte; unermüdlich berief er berühmte Namen und Kräfte als Gäste und bereitete so der Stadt Innsbruck vielfache Genüsse. N. genoß die Freude, den Traum der Jugend gereift und erfüllt zu sehen. Freilich auf Kosten der eigenen Schöpfungen, da der Dirigent bei N. ganz in den Vordergrund trat. Seine mit einem unverwüstlichen Humor wetteifernde Natur erlag unerwartet am 8. Juli 1874 einem Lungenleiden. Seine Compositionen sind bei Wurzbach verzeichnet. Nagillers Stil muß als groß, edel und klar bezeichnet werden; seine kirchlichen Tonwerke sind größtentheils dem Charakter seiner Heimath anbequemt; hier verläugnete er am wenigsten den Tiroler, der an rauschender Pracht und strotzender Vergoldung sein Herz zu weiden pflegt; Nagillers große Vorliebe für Clarinette und Oboe klingt beinahe überall durch. – Ein Portraitmedaillon modellirte H. F. Brehmer in Paris 1843, seine Büste (Friedhof zu Innsbruck sein wackerer Landsmann Engelbrecht Kolp (1875).

Vgl. Heindl, Galerie berühmter Pädagogen, Volksschriftsteller und Componisten. 1859. II, 50 ff. – Wurzbach, 1869. XX, 36 ff. – Nekr. in B. 196 Allg. Ztg. v. 15. Juli 1874. – Egger, Tiroler u. Vorarlberger. 1882. S. 483.