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Artikel „Michelis, Friedrich Bernard Ferdinand“ von Michelis. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 376–384, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Michelis,_Friedrich&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 16:17 Uhr UTC)
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Michelis: Friedrich Bernard Ferdinand M., geboren am 27. Juli 1818 zu Münster in Westfalen, war das sechste unter den neun Kindern des Kupferstechers und Zeichenlehrers Franz Michelis, früheren Lieutenants in bischöflich-münsterschen Diensten. Der Vater stammte aus Recklinghausen, die Mutter, eine geborene Scheffer, aus Bremen. Die Ehe war gemischt; es folgten die Söhne der Confession das Vaters und wurden katholisch, die Töchter der der Mutter und wurden protestantisch. Der Vater starb 1835 und ließ die Familie in dürftigen Verhältnissen zurück. Er vererbte aber seinen Kindern eine echte Künstler-Begabung und -Begeisterung sowie einen wackeren Soldatenmuth, der sich in schwierigen Lebenslagen zu bewähren nur zu oft Gelegenheit finden sollte. Die Mutter mit den drei Töchtern wurde 1838 katholisch. Von Noth und Sorge waren frühere Schönheit und Anmuth verwischt worden. Sie blieb ihren Kindern dauernd im Gedächtnisse als eine sorgliche und treue Mutter. Eine hohe Achtung vor ihrem Geschlechte, vor der Würde des Familienlebens verblieb Friedrich sein Leben lang und half ihm ein reines Gewissen bewahren.

Den Grund seiner wissenschaftlichen Ausbildung legte er in Münster. Von 1827–34 besuchte er das Gymnasium und fand in dem vielseitig gebildeten Oberlehrer Limberg nicht bloß einen geistvollen und anregenden Lehrer während seiner Schulzeit, sondern erhielt auch durch ihn die für sein ganzes Leben maßgebende Richtung auf Platon. Das Gymnasium lehrte ihn die Werthschätzung des classischen Alterthums, das er als unersetzliches Bildungselement unserem Volke für alle Zeiten erhalten wissen wollte.

In jugendlich schwärmerischer Begeisterung erblickte er in dem Freiheitskampfe der Griechen eine Bethätigung hellenischen Heldenthums. Die Grundzüge seines Wesens, seiner Hoffnungen, Neigungen und Wünsche legte er in einer hochpoetischen Abiturientenrede über den Ursprung der Poesie dar. Auf der Hochschule suchte und fand der hochgesinnte Jüngling Gleichgestimmte und gründete einen Freundesbund. Die harmlose Vereinigung fiel der Reaction zum Opfer. 1838 verließ er die Akademie, um am 10. August desselben Jahres die Priesterweihe zu empfangen.

Wir würden irren, wenn wir den Entschluß zum Priesterberufe nicht in ihm selbst suchten. „Mein Glaube coincidirt mit meinem Denken“ (Entwurf zu einem Vortrage), so konnte er noch in späteren Jahren sagen. Diese nie getrübte, freudig und dankbar empfundene Einheit in seiner geistigen Entwicklung machte ihn zu einem wahrhaft frommen Manne, der vor dem Angesichte [377] Gottes zu wandeln sich bewußt war. Deshalb lebte er der Ueberzeugung, ein Priester der Wahrheit zu sein und entfaltete sich schon frühzeitig zu einer Persönlichkeit. Er gründete in sich eine ideale Weltanschauung, welche groß und weit die heranstürmende Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts zu fassen vermochte. Die Entwicklung der realen Mächte jedoch verlangte eine Scheidung der Idee von geträumten Hoffnungen und gewünschten Meinungen, die sich ohne tiefe Schmerzen und wahre Seelenangst nicht vollziehen konnte. „Wer einer Idee treu bleibt“, so schreibt er 1862 an seinen Bruder Alexander (s. A. D. B. XXI), „der begeht eine Sünde an der Welt, wie sie ist, und dafür rächt sich die Welt. Wenn man aber die Idee in Gott und Gott in der Idee hat, so behält doch am Ende der Allmächtige die Oberhand.“

Der Idealist wird also kämpfen, ja er wird geradezu den Kampf zum Prüfstein für die Nichtigkeit seiner Idee machen. Die höchste Idee nun ist für M. die Kirche, „sie ist das Ideal der Menschheit, und Deutschland ist berufen, der Menschheit dieses Ideal zu erhalten“. Eine Untersuchung, ob die Kirche selbst die Idee rein darstellte, schien unnöthig zu sein; jedenfalls war es noch ein weiter Weg, bis 1886 der Verfasser des Sonntagsblattes in Nr. 1 schreiben konnte: „Kein irdischer Bestand vom Pfingstfeste an hat ihrer Idee entsprochen.“ Nun war damals zwischen dem festgefügten preußischen Staate und der Idee Deutschland eine innere Spannung vorhanden. Trat nun außerdem ein schroffer Gegensatz zwischen diesem Staate und der bestehenden Kirche hinzu, so war dem Idealisten klar, wohin er sich zu stellen habe, für Deutschland, für die Kirche, für das Ideal gegen Preußen.

Das Ereigniß aber, das diesen entscheidenden Einfluß auf die erste Hälfte seines Lebens hatte, war der Streit um die gemischten Ehen zwischen der preußischen Regierung und dem Kölner Erzbischofe im J. 1837, der zugleich ein schwerer Schicksalsschlag für die ganze Familie wurde. Mit dem Erzbischof Klemens August wurde sein Caplan und Privatsecretär, Eduard Michelis (s. A. D. B. XXI), festgesetzt und bis 1841 in Gewahrsam gehalten. Das war hart für die ganze Familie, denn Eduard hatte treu für alle Angehörigen gesorgt. Drückende Sorge um den nöthigen Lebensunterhalt, Erwartung eines schlimmen Ausganges für den Gefangenen gaben die persönliche Grundlage, auf der sich ein Denkstein beleidigten Rechtsgefühls – denn ein gerichtliches Verfahren fand nicht statt – erhob mit der Aufschrift: Mißtrauen gegen die protestantische Großmacht. „Neben der Weihe,“ so schreibt er 1838 an seinen Bruder Eduard, „hat auf den Gang meiner Entwicklung (nichts) so starken Einfluß gehabt wie das Kölner Ereigniß“, und an anderer Stelle: „Für uns war damals jenes Ereigniß und der daran sich knüpfende Kampf (Grund) zu einer rein sittlichen begeisterten Erfassung unseres geistlichen Berufes, welche eine unklare Ingredienz von westfälisch-ererbten, deutsch-national-katholischen Preußenhaß, aber keine Spur von Jesuitismus und Ultramontanismus enthielt.“ Es sollte nahezu drei Jahrzehnte dauern, bis diese Jugendeindrücke vermischt waren, bis eine volle unbefangene Würdigung der Verdienste Preußens um Deutschland möglich war. Wie wenig aber sollte sich in diesem Zeitraume die Kirche ihrem idealen Ziele nähern.

Aus den staatlich-kirchlichen Zwistigkeiten war allein die Kirche mit gesteigerter Macht hervorgegangen. Das neu erwachende religiöse Leben umfaßte mit besonderer Liebe alle Einrichtungen der Kirche, die in den Jahren der Bedrängniß Noth gelitten hatten. Das Papstthum vor allem, ehrwürdig durch die Märtyrerkrone aus der napoleonischen Zeit, erhob sich zu fast anbetungswürdigem Glanze. Das heranwachsende neurömische System hatte sich aber nur vor ganz Wenigen enthüllt. Rückhaltlos weihte sich Friedrich dem Dienste [378] der Kirche. So schrieb er am 10. August 1838, dem Tage seiner Priesterweihe: „Als ich das erste Mal mich mit meinem Denken anfing, auf freien Füßen zu fühlen – ich erinnere mich des Abends sehr wohl: ich hatte darüber nachgedacht, wie sich die Lehre von der alleinseligmachenden Kirche mit dem wahrhaft Guten außerhalb der Kirche vertrage – da ging ich in die Lambertikirche und gelobte heilig und fest, der Kirche mit völliger eigener Unterwerfung ganz und gar in Allem unbedingt zu gehorchen.“ Es ist anzunehmen, daß schon in seiner ersten Zeit die Idee der Kirche mit ihrer Erscheinung in der Welt nicht verwechselt wurde, wenn auch erst in späterer Zeit, Entwurf zu einem Vortrage, folgender scharfer Ausdruck gefunden werden konnte, „die Kirche ist ihrer Idee nach die sichtbare Entwicklungsform der Menschheit, die Verwirklichung der göttlichen Liebe auf Erden; sie ist aber nicht wirklich vermöge der Individuen, die sich als Gläubige, Priester, Bischöfe zu ihr bekennen, sondern vermöge der Ordnung, vermöge der Verfassung, die Christus in ihr begründet hat, vermöge der Idee, die sie vertreten sollen. Ein allgemeins Concil ist nicht dadurch ein wirkliches allgemeines Concil, daß alle Bischöfe der Kirche zusammen sind, sondern daß sie in der Ordnung zusammen sind, wie sie der Idee der Kirche entspricht“. Wohl ihm, daß er diese echte Romantik sich Zeitlebens erhalten konnte, daß er der Einheit1ichkeit seines Entwicklungsganges bewußt, stets hervorheben konnte: er habe seine Stellung nicht geändert. Deutschthum, Katholicismus, alte Kaiserherrlichkeit formten ihn zu einem aufrichtigen Anhänger des Erzhauses, zu einem begeisterten Großdeutschen.

Damals war indessen noch nicht die Zeit herangebrochen, wo der lockende Ruhmeskranz einer politischen Thätigkeit jüngere Geistliche auf Abwege zu bringen drohte; sein heiliger Eifer führte ihn vielmehr auf das höchste Gebiet menschlichen Strebens, auf die Beziehung zwischen Glaube und Wissen. So schrieb er 1838 in einem Briefe an Eduard: „… aber es gibt noch etwas anderes für mich, we1ches mich ganz besonders angeht, womit ich, so lebendig es in mir ist, so glühend ich es umfaßt habe, dennoch so allein und verlassen dastehe, daß ich nicht einen hab finden können, der hierin mit mir übereinstimmte, es ist die Idee der echten Wissenschaft, der nämlich die nichts ist als der Glaube, eben der Glaube in seiner lebendigsten, concretesten Gestalt.“ Das war das Arbeitsfeld seines Lebens, hierfür entfaltete er eine angestrengte Thätigkeit. Er studirte die Griechen, insbesondere Platon, die Kirchenväter, Philosophie, Botanik und errang achtenswerthe Kenntnisse auf dem Gebiete der gesammten Naturwissenschaften. Zu bedauern mag es bleiben, daß der Gang seiner Entwicklung ihn nicht zur Erprobung der neueren Forschungsmethoden geführt hat. Seine besondere Begabung liegt in der aufbauenden, künstlerischen Thätigkeit gesicherter Ergebnisse.

In angenehmer Stellung verbrachte er nach der Weihe einige Jahre im Hause des Grafen v. Westphalen zu Laer als Hauslehrer, in seinen Mußestunden eifrig mit Studien der systematischen Botanik beschäftigt. Doch die sprachphilosophischen Neigungen, die das Gymnasium begründet hatte, erwachten zu neuem Leben. Er ging deshalb nach Bonn, um besonders Philologie zu studiren. Schon jetzt zeigte es sich, daß die rein wissenschaftliche Thätigkeit seiner Natur nicht genügte. Seine Leidenschaftlichkeit brauchte ein Publicum, seine Rhetorik eine Versammlung, sein Drang, zu wirken und zu arbeiten, Menschen. So präsidirte er während seines Aufenthalts in Bonn einer Männer-Bruderschaft, predigte fleißig und führte bei Gelegenheit der ersten Ausstellung des heiligen Rockes eine Pilgerschar nach Trier. Kurz, er kam in das Getriebe des sich entwickelnden Ultramontanismus, ohne eine Ahnung [379] davon zu haben, wohin diese Bewegung in Wirklichkeit gelenkt wurde. Von der Richtigkeit seiner Handlungen ebenso fest überzeugt wie von der Aufrichtigkeit aller, mit denen er es zu thun hatte, konnte er auch in späteren Jahren seines Lebens an diese Zeit zurück denken, ohne erröthen zu müssen. Auf Grund seiner Leistungen wurde ihm eine Caplanei in Duisburg übertragen mit dem Auftrage, den Religionsunterricht am Gymnasium zu übernehmen.

In diesen Jahren schwoll die durch Ronge angefachte religiös-politische Bewegung, die man gewöhnlich die deutsch-katholische nennt, gewaltig und gefahrdrohend an. Unter ihren Gegnern finden wir auch M., der einer Verzerrung, einer Verleugnung der Idee der Kirche 1848 ebensowenig thatenlos zuschauen mochte wie später 1870. 1849 erwarb er sich in Bonn den philosophischen Doctorgrad. Bei der öffentlichen Disputation befand sich unter seinen officiellen Opponenten ein jüngerer Geistlicher, J. H. Reinkens, der nachmalige Bischof. Beider Leben blieb bei andauernder gegenseitiger Werthschätzung in mannichfacher Berührung.

Bis 1834 weilte er als Docent an der philosophisch-theologischen Lehranstalt zu Paderborn, um dann einem Rufe als Director an das durch den Bischof von Münster gegründete Alumnat, Collegium Borromäum, zu folgen. Die schönere Aussicht auf eine Stelle als Docent der Philosophie oder der Religionswissenschaft an der Akademie in Münster verwirklichte sich nicht. Auch seine Stellung als Director war nur von kurzer Dauer. An einer verhältnißmäßig geringfügigen Streitfrage offenbarte sich der in den Episcopat eindringende neurömische Geist und seine rücksichtslose Unduldsamkeit. Der Bischof wünschte, daß die Alumnen gleich den Priestern den langen schwarzen Kleriker-Rock tragen sollten. Die Einsprache des Directors, wol begründet durch pädagogische Rücksichten, hatte zunächst Erfolg, zog dann aber einen vollständigen Bruch mit der bischöflichen Behörde nach sich. Kurz entschlossen, bewarb sich der in Ungnade Gefallene um Verwendung in der Seelsorge. Die Pfarrei Albachten war gerade frei, man übertrug sie ihm. Dort war er von 1855–1864 Pfarrer.

Das Jahr 1855 ist nun in mehrfacher Hinsicht für sein Leben bedeutungsvoll. Er erfuhr die schärfste Zurückweisung von einer Stelle, für die im Sinne der Kirche ihm keine Arbeit zu schwer gewesen wäre. Er wurde geistig isolirt durch die Einweisung in das Dörflein. Der Tod raubte ihm den gleichdenkenden und gleichfühlenden Bruder Eduard. Hierdurch fiel eine Ehrenpflicht des Verstorbenen an ihn, nämlich für die unversorgten Schwestern und für die um ihre Lebensstellung ringenden Brüder zu sorgen. Ein Brief seiner Schwester Leonore an ihre Schwägerin bezeugt, wie gewissenhaft er dieser Aufgabe gerecht wurde. Sie schreibt 1863: „Ich glaube nicht, daß man unter tausenden einen edleren, besseren Menschen findet. Er hat eine Angst und Unruh um euch gehabt, die ihn nichts arbeiten und schaffen ließ, bis er Gewißheit hatte, euch helfen zu können; an sich selbst denkt er gar nicht, gibt alles hin, wenn er nur helfen kann.“

In naiver Freude hatte M. an allen Veranstaltungen theil genommen, die eine Stärkung des kirchlichen Lebens erwarten ließen, hoffte doch auch der Patriot hiermit eine Arbeit für sein Volk zu leisten, denn die Idee der katholischen Kirche ist die sichtbare Entwicklungsform der Menschheit, als Verwirklichung der göttlichen Liebe auf Erden und der weltgeschichtliche Beruf der deutschen Nation beruht in der Aufrechterhaltung dieser Idee (Entwurf zu einem Vortrage 1870). Er war ein begeisterter Theilnehmer und begeisternder Redner auf den Versammlungen der Katholiken-, Borromäus-, Bonifacius-, Pius- und Gesellen-Vereine gewesen. Während kritischere Naturen [380] schon die stärker andrängende Unterströmung neurömischen Geistes durchschaut und sich von diesen lauten Bethätigungen katholischer Ueberzeugung fern zu halten begonnen hatten, war M. für die Oeffentlichkeit zu einem Vertreter des ritter1ichen Ultramontanismus, nach einem Worte Nippold’s, herangewachsen. Auch zunehmendere Einsicht und genauere Kenntniß des Zusammenhangs befreiten ihn nicht von der Pflicht, auszuharren und in seinem Sinne weiterzuarbeiten. An dem oft gehörten Grundsatze richtete er sich und andere auf, „nur nicht den Muth sinken lassen“, irren doch die Menschen weniger aus Bosheit als aus Unkenntniß und Irrthum. Hier griff er deshalb ein und gründete in demselben Jahre 1855 mit Gleichgesinnten die Zeitschrift: „Natur und Offenbarung“, deren eifriger Mitarbeiter er bis 1869 blieb. Der von den Jesuiten in Mainz und Würzburg gepflegten Neuscholastik trat er mit den „Bemerkungen zu Kleutgen’s Philosophie der Vorzeit“ scharf entgegen. In der mittelalterlichen Kirche war seine Idee nicht verwirklicht und vollends in Thomas von Aquin vermochte er nicht den Abschluß und das Ende aller menschlichen Weisheit zu erblicken. Von der Vertiefung seiner philosophischen Studien zeugte sein „Platon im Lichte der geoffenbarten Wahrheit“. Botanische Studien wurden erweitert und fortgesetzt, und er fühlte sich auf diesem ihm eigentlich fernerliegenden Gebiete so zu Hause, daß er mit einem offenen Sendschreiben über den Stand der Wissenschaft hervortritt.

Diese Zeit eifrigster Bethätigung war aber auch eine Zeit tiefer Entmuthigung und innerer Gebeugtheit: die Arbeit erschien oft erfolglos, der Bischof verblieb unversöhnlich, sodaß alle Anstrengungen, den Wirkungskreis zu ändern, zu erweitern, erfolglos blieben. Alleingestellt entbehrte er des Umganges und Verkehrs. Geradheit, Furchtlosigkeit, Aufrichtigkeit konnten sich in leidenschaftlicher Erregtheit zur Schroffheit steigern. Wenn sich so der Wille ungestüm und gewaltsam in dieser ethischen Persönlichkeit durchsetzte, dann schien sich das Gemüth zurückgezogen zu haben, um desto sicherer nachher wieder die Herrschaft zu ergreifen und sich mächtig in dem versöhnlichen Worte, in dem treuherzigen Handschlage zu zeigen. Klare Freudigkeit, offene Weitherzigkeit, mitfühlende Duldsamkeit waren diesem Charakter ebenso eigen wie fester Wille und scharfer Verstand. In seinem heiligen Eifer waren Mangel an Erfolg oder Nichtbeachtung seiner Werke schmerzliche Kränkungen, die nicht sowohl seiner Person als der durch ihn vertretenen guten und gerechten Sache galten. Nur selten gelang es ihm, seine an sich so durchsichtige Gedankenwelt in klaren Formen darzustellen; Wiederholungen, lange, dem lateinischen Sprachgebrauche angehörige Perioden erschweren die Lectüre vieler seiner Werke. Auch Reden und Vorträge, die später gedruckt wurden, lassen oft nicht ahnen, welche mächtige Wirkung das gesprochene Wort ausgeübt hatte.

Mit Freuden betheiligte er sich an der Erfurter Conferenz und 1862 an einer Versammlung Großdeutscher in Frankfurt. Ein falsch gedeuteter Ausdruck, der hierbei gefallen war, gab Veranlassung zu dem Schriftchen: „Preußens Beruf für Deutschland und die Weltgeschichte“. Preußen wird als Staat der Parität zwischen Katholiken und Protestanten anerkannt, und mit dem klaren Bekenntnisse, daß der Katholik seinem protestantischen Könige Gehorsam schulde, ist eine Würdigung der reformatorischen Bestrebungen des 16. Jahrhunderts verbunden. Einen Höhepunkt seines Lebens bezeichnet das Jahr 1863 mit der Versammlung katholischer Gelehrten in München. Deutlich klaffte zwar der Riß, und die Ziele der Mainzer Ultramontanen konnten von Niemandem verkannt werden, doch der Abschluß war versöhnlich und schien Schöneres zu verheißen. In seinen der Versammlung vorgelegten Thesen schneidet er eine Grundfrage an über das Verhältniß von kirchlicher Autorität und wissenschaftlicher [381] Freiheit. Man einigte sich auf unbedingte Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, nur soll diese selbst als Sache des subjectiven Denkens nicht ihrerseits das Princip der Autorität einseitig und ungebührlich für sich in Anspruch nehmen.

Einen größeren Wirkungskreis brachte ihm das Jahr 1864 durch seine Berufung an das Lyceum nach Braunsberg als Professor der Philosophie. Er bekleidete dieses Amt bis an sein Lebensende, wenn auch das Jahr 1870 seiner akademischen Wirksamkeit ein jähes Ende bereitete. In diesen sechs Jahren mußte sich seine ideale Auffassung an der Neugestaltung Deutschlands und der Umgestaltung der Kirche bewähren; seine philosophische Anschauung wurde von der herrschsüchtigen Neuscholastik verworfen und vermochte sich auch in dem engeren Kreise der Fachgelehrten nicht durchzusetzen; seine kirchliche Stellung sah er sich gezwungen, gegen den übermächtig vordringenden Ultramontanismus zu vertheidigen, seine naturwissenschaftliche Auffassung gewann durch das „Formentwicklungsgesetz im Pflanzenreiche“ einen Abschluß, ohne daß die herrschende mechanische Entwicklungstheorie mit diesem auf ganz anderer Grundlage stehendem Werke etwas anzufangen vermochte. Als echter Idealist baute er nach den Ereignissen des Jahres 1866 aus den Trümmern der Wirklichkeit seine Idee neu, indem er sich klar bewußt war, daß romantische Rückständigkeit hier Sünde sei. Vor allem gewann er ganze Anerkennung der Verdienste Bismarck’s; eine volle Uebereinstimmung mit der äußeren Politik konnte er dann mit Freuden aussprechen, als der deutsch-österreichische Vertrag 1879 geschlossen war. Da schien ihm auch der große deutsche Gedanke in gebührender Weise berücksichtigt zu sein. „Doch diese Dinge,“ so schreibt er 1866 an seinen Bruder Alexander, „greifen das Gemüth und die Nerven an, und ich habe recht schwere Tage gehabt.“ Die politische Krisis 1866/7 fand ihn als Abgeordneten in Berlin. Als ihm in der Debatte das Wort entzogen wurde, nach seiner Annahme in nicht gerechtfertigter Weise, da legte er sein Mandat nieder. Der äußerer Anlaß verhalf einer inneren Ueberzeugung zum Durchbruch, daß die Arbeit im Parlamente die volle Hingabe des Mannes verlange, für ihn also den Verzicht auf seine wissenschaftliche Thätigkeit bedeutete.

So war er denn im J. 1870 herangereift, um den Wendepunkt in der Geschichte nicht bloß als denkender Mensch zu erfassen, sondern auch mit allen Kräften warnend, rathend, belehrend, begeisternd zu erleben. „Am liebsten würde ich die Feder niederlegen und mitziehen in den großen Kampf, in dem die alte Frage zwischen Frankreich und Deutschland endgültig, entscheidender wenigstens als auf den Schlachtfeldern von Leipzig und Waterloo, wird ausgekämpft werden“, schrieb er am 23. Juli 1870. Der zweiten Kriegserklärung gegenüber, die der 18. Juli brachte, der Proclamirung der päpstlichen Unfehlbarkeit, die seit der Mitte der sechziger Jahre wie ein unheimliches Gespenst drohend aufgetreten und von ihm bekämpft war, gab es keinen Zweifel, was zu thun sei, hier gab es nur eine Gewissenspflicht, zu kämpfen für die Wahrheit gegen die Entartung der Kirche.

Den 50 Thesen des Jahres 1867 folgte am 27. Juli 1870 die offene Anklage gegen Pius IX. als Verwüster der Kirche. Auf sich allein gestellt, nur getrieben von seinem Gewissen, kann man noch heute nicht ohne Bewegung die gewaltigen Worte lesen: „Ich, ein sündhafter Mensch, aber fest im heiligen katholischen Glauben, erhebe hiermit vor dem Angesichte der Kirche Gottes offene und laute Anklage gegen Pius IX. als einen Häretiker und Verwüster der Kirche, weil und insoweit er durch mißbrauchte Form eines allgemeinen Conciliums den weder in der hl. Schrift noch in der Ueberlieferung begründeten, [382] vielmehr der von Christus angeordneten Verfassung der Kirche direct widersprechenden Satz, daß der Papst getrennt von dem Lehrkörper der unfehlbare Lehrer der Kirche sei, als einen geoffenbarten Glaubenssatz hat verkündigen lassen und somit versucht hat, das gottlose System des Absolutismus in die Kirche einzuführen. Ich kann bei meinem Verständniß des katholischen Glaubens meinem Gewissen nur durch diesen entscheidenden Schritt genügen, indem ich von dem kanonisch verbürgten Rechte Gebrauch mache, dem Papste, der nach dem Ausspruche Innocens III., wenn er ein Häretiker ist, dem Urtheile der Kirche unterliegt, wenn er auf den Ruin der Kirche hinarbeitet, offen ins Angesicht widerstehe.“ Hiermit war die Trennung zwischen ihm und dem revolutionären Papstthume ausgesprochen. In dem nun entbrennenden Kampfe war er sich klar bewußt, über keines Menschen Gewissen und inneren sittlichen Standpunkt sich ein Urtheil zu erlauben: „Ich habe, weil ich über das Gewissen irgend eines zu urtheilen kein Recht habe, kein Recht, es anders zu denken, als daß sie alle, die jetzt unsere Gegner sind, indem sie für die Kirche einstehen, meinen, für die Sache Gottes und die Wahrheit einstehen“, Sonntagsblatt Nr. 5, 1886. Die preußische Regierung schützte ihn in seiner Stellung, nachdem seine Thätigkeit als Docent lahmgelegt worden war. Als aber in Braunsberg und im Ermelande die Opposition im Clerus gegen das Vaticanum zu Boden getreten war, scheinbar feste Freunde sich abgewendet hatten, da konnte er die Unthätigkeit und Ruhe nicht aushalten. Sein Flug trug ihn über alle deutschen Gaue und über die deutschen Grenzen nach Oesterreich, in die Schweiz. Im Anfange war er noch bemüht, unter den Bischöfen eine Einigung zu Stande zu bringen; als er aber durch genauere Kenntniß der Persönlichkeiten die Vergeblichkeit seiner Bemühungen einsehen mußte, da schien ihm „die Schwäche der Bischöfe nicht der Grund unseres Glaubens zu sein“. Energisch trat er für organische Gestaltung der altkatholischen Reformbewegung ein. An der Entstehung des Bisthums nahm er thätigen Antheil, ein eifriger Mitarbeiter war er auf allen Congressen und Synoden. Wo Freude zu verklären oder Leid zu trösten war, folgte M. dem Rufe. Im J. 1875 übernahm er die Pastoration der Gemeinde in Freiburg in Baden. Auch hier entfaltete er eine reiche schriftstellerische Thätigkeit im Ausbau seiner Gedanken. Am 28. Mai 1886, an einem Freitage, erstieg er bei schwülem Wetter zwischen 3 und 4 Uhr Nachmittags den Schloßberg; oben angekommen, setzte er sich hin, um einen erfrischenden Trunk zu nehmen, aber vorher sank sein Haupt nieder; ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gemacht. In Freiburg fand er seine letzte Ruhestätte.

Seine wissenschaftliche Stellung kann mit folgenden, 1855 in einer Tagebuchskizze niedergeschriebenen Sätzen klargelegt werden: 1. Platon konnte die Ideenlehre nicht so durchführen, wie sie ihm vorschwebte; 2. er suchte die Lösung in der Sprache, ohne sie finden zu können; 3. er fühlte, daß im Denken eine Umordnung vorgehen müsse, aber er fand sich ab, indem er die Negation in den Proceß des Denkens als Anderssein aufnahm, aber das absolute und endliche Denken nicht auseinander hielt und zwischen Formal- und Realbegriff keinen Unterschied machte.

Erkenntniß wird nicht durch Erfahrung, sondern durch die Sprache erlangt. Jeder bewußte Denkact vollzieht sich nur in ihren Formen. Eine Beziehung zur Außenwelt findet nur mittelbar durch Begriffe, Vorstellungen statt, welche zwar das Material der Sprache sind, aber selbst nur formal und nicht real bestehen. Durch die Sprache gelangt das Bewußtsein zur Erkenntniß einer Menge geistiger Individuen, die eine Einheit darstellen: Geist. Ihm steht entgegen Unbewußtes oder Nichtgeistiges: Stoff. Beide bestehen in der [383] Endlichkeit als Realitäten. Ihr ausschließender Gegensatz bedingt den formalen Charakter der Negation. Beiden gegenüber erkennen wir das Unendliche, Gott, als absolutes Selbstbewußtsein, als Schöpfer der endlichen Realitäten. Der Stoff ist ursprünglich eine Einheit, seine Atomisirung und Differenzirung ist ein secundärer Proceß, durch den die Bewegung und Naturgestaltung ermöglicht wird. Er ist die Folge einer Störung des Schöpfungsplanes durch die Ursünde der rein geistigen Wesen, Geisterfall. Der Geist nämlich als freies Wesen kann eine Entwicklung aus sich beginnen. Mit der Atomisirung hat der Vorgang zur Bildung von Individuen noch nicht seinen Abschluß erreicht. Er setzt sich fort im Krystalle, dem Ergebniß der abgeschlossenen Stoffbewegung, in der Zelle, dem lebendigen Individuum, einem Herde sich fortpflanzender Bewegungen. Die pflanzliche Zelle neigt durch Ausscheidung von Cellulose zur Krystallgestalt. Die Pflanze selbst erscheint als ein gebundener Organismus, ihr Wesen wird in der fortwachsenden Achse mit seitlichen Blättern gefunden, deren Wachsthum begrenzt ist. Das Thier ist ein losgelöster Organismus, sein Wesen liegt in der horizontalen gegliederten Achse. Der Bau des menschlichen Körpers weist auf beide hin. Krystall, Pflanze und Thier, die unter dem einen Gesichtspunkte der stofflichen Einzelbildung stehen, sind beeinflußt durch das Zahlengesetz. Das Lebendige im Gegensatz zum Krystall äußert sich besonders in Stoffwechsel und Fortpflanzung. Beide stehen unter dem Formprincip, insbesondere ist nicht Erhaltung der Art das Wesen der geschlechtlichen Fortpflanzung, da auch eine ungeschlechtliche besteht, sondern Ueberwindung des geschlechtlichen Gegensatzes im Individuum.

Zwischen den höheren und niederen Entwicklungsstufen findet eine Beziehung statt; somit können alle Formen im idealen Sinne als Vor- und Rückentwicklung gedeutet werden. Indem sich die Formen verschieden durchsetzen, kann von einem idealen Kampf ums Dasein geredet werden. Hierdurch wird die Lehre Platon’s befolgt: die Idee soll die Natur nach der Vernunft verstehen lehren. Der Fortschritt der Naturwissenschaft ist nur möglich durch Induction, nicht durch Analogie. Deshalb wird die Entwicklungstheorie im allgemeinen abgelehnt als Uebertragung der historischen Forschungsweise auf die ganz anders gestellte Naturwissenschaft und ein Nachweis der Entwicklung von Fall zu Fall verlangt.

Die Sprache liefert nicht nur die Grundlage der Erkenntnißlehre, sondern auch die Entbindung jedes Individuums zum Bewußtsein. Die Erneuerung der Philosophie muß sich auf dem Gesetze der Sprache so vollziehen, daß das logische Gesetz der Identität oder des Widerspruchs bloß formal gilt und keine reale Bedeutung behaupten darf. Der reine Ausdruck menschlichen Bewußtseins wird im Activsatze gefunden, wo Subject und Prädicat als Gegenstücke der im menschlichen Bewußtsein zur Einigung kommenden Realitäten von Leib und Seele, Sein und Bewegung, erscheinen. Dieser Activsatz enthält das Gesetz des Grundes, die Causalität, während der Substantivsatz nur die Bedingung angibt und in Materialismus endigt, wenn Substanz und Accidenz in metaphysische Realitäten umgesetzt werden, wie es Spinoza mit den Prädikaten des Denkens und der Ausdehnung am Substanzbegriffe vollzieht. Das denkende Ich ist dann keine Causalität mehr, sondern nur eine Form der Substanz.

Hoffnung und Erwartung, Absicht und Streben ergeben sich vielleicht am besten aus dem Schlusse „der Philosophie des Bewußtseins“: „Der innere Grund meiner Zuversicht ist die göttliche Wahrheit der Kirche; aber diesem idealen Grunde stehen mächtige Thatsachen zur Seite: die begonnene Wiedergeburt Deutschlands; der sittliche Ernst des Wahrheitsstrebens in der Erforschung [384] des Thatbestandes in der Natur und in der Geschichte; das, was auch in der Theologie, namentlich in der protestantischen, nicht bloß negativ in der Kritik schon geleistet ist; endlich der höhere Zug der Humanität und der Liebe, der bei allem Jammer doch im ganzen in der Menschheit im Voranschreiten ist. Es ist eben ein Moment, wo das höhere im Christenthum gezeitigte Bewußtsein in der Menschheit Rechenschaft fordert von den Mächten, denen bis dahin die geistige Leitung der Menschheit anvertraut war, von den Priestern der Kirche über ihre angemaßte hierarchische Stellung und von den Priestern der Wissenschaft, den Philosophen, über ihren zurückgebliebenen Standpunkt.

Der volle Ausbau seines wissenschaftlichen Systems ist ihm versagt geblieben.

Verzeichniß der Hauptwerke: 1. theologische: „Entwicklung der beiden ersten Capitel der Genesis“, 1845; „Katholische Dogmatik“, 1881; „50 Thesen über die Gestaltung der Kirche der Gegenwart“, 1867; 2. philosophische: „Kritik der Günther’schen Philosophie“, 1854; „Die Philosophie Platon’s in ihrer inneren Beziehung zur geoffenbarten Wahrheit“, 1860; „Geschichte der Philosophie von Thales bis auf unsere Zeit“, 1865; „Kant vor und nach dem Jahre 1770“, 1871; „Die Philosophie des Bewußtseins“, 1877; „Platon’s Theätet mit Beziehung auf Cartesius’ Meditationen und die Kritik der reinen Vernunft von Kant“, 1881; „Aristoteles περὶ ἑρμηνείας“, 1885; 3. naturwissenschaftliche: „Das Formentwicklungsgesetz im Pflanzenreiche“, 1869; „Gesammtergebniß der Naturwissenschaften“, 1885.

Michelis.