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Artikel „Kretzschmer, Andreas“ von Alexander Reifferscheid in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 141–142, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kretzschmer,_Andreas&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 12:55 Uhr UTC)
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Kretzschmer: Andreas K., geb. den 1. Novbr. 1775 in Stettin, wo sein Vater Regierungsrath war. Trotz ausgesprochener Neigung für die Musik folgte er dem Wunsche seines Vaters und studirte in Berlin Jurisprudenz. Bald nach abgelegtem Examen wurde er in seiner Vaterstadt Justizcommissarius unter dem Titel eines Kriminalrathes. Durch den Rathsbaumeister Krauß, dessen Tochter er 1803 heirathete, wurde er aufs genaueste mit der Einrichtung der Festungswerke Stettins bekannt. 1813 als die Stadt in den Händen der Franzosen war, unterhielt er durch eine geheime Pforte mit dem Kommandanten des preußischen Belagerungsheeres einen brieflichen Verkehr. Als die Franzosen demselben auf die Spur kamen, rettete er sich mit größter Lebensgefahr ins preußische Lager, wo er sich dem General Grafen von Tauenzien zur Verfügung stellte. Nach der Kapitulation Stettins wurde K. als Kriegsrath im Bureau des genannten Generals angestellt, machte den ganzen weiteren Feldzug bis zum Einzug in Paris mit und erhielt nach dem Friedensschlusse das eiserne Kreuz und den Titel eines geheimen Kriegsrathes. Auf besonderen Wunsch des Kronprinzen, späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., der K. sehr gewogen war, wurde er in Berlin bei der Regierung angestellt und mit dem Auftrage betraut, „die noch vorhandenen Ueberreste des Mittelalters in der Provinz Brandenburg und besonders in deren geistlichen noch existirenden oder aufgehobenen geistlichen Anstalten zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten.“ Er suchte sich aufs gewissenhafteste des ihm gewordenen Auftrages zu entledigen und richtete seine Nachforschungen auf Urkunden, Handschriften und alte Drucke, auf die Denkmäler des christlichen Mittelalters und auf die Ueberreste aus vorchristlicher Zeit, die Denkmäler der deutschen und wendischen Vorbewohner des Landes, auf Volkssagen und Volkslieder. Er war vielseitig angeregt und verkehrte in Berlin mit den bedeutendsten [142] Persönlichkeiten, u. a. mit Friedr. Aug. Wolf, K. M. v. Weber, Zelter. Ueber seinen antiquarischen Studien wurde er seiner Lieblingswissenschaft, der Musik, nicht untreu, er schrieb für verschiedene musikalische Zeitschriften, übersetzte Byron’s hebräische Lieder und gab 1822 die Sammlung hebräischer Originalmelodien mit untergelegten Gesängen von Lord G. G. Byron und deren Uebersetzung heraus, außerdem componirte er selbstgedichtete patriotische Lieder, von denen viele einzeln erschienen sind. Schon damals trug er sich mit dem Gedanken, eine vollständige Sammlung der deutschen Volkslieder mit den zugehörigen Weisen zu veranstalten. Im J. 1825 legte K. seine Stelle als Regierungsrath nieder, aber die Gnade des Königs Friedrich Wilhelm III. gewährte ihm das bisherige Gehalt auf einige Jahre im voraus. Er wurde bald darauf als Justizcommissarius nach Halberstadt geschickt, von wo aus er dem Kronprinzen häufig Bericht erstatten mußte über die artistischen und antiquarischen Verhältnisse der Provinz Sachsen. 1828 kehrte K. nach Pommern zurück und wirkte bis zum J. 1835 als Justizcommissarius in Anclam. Ein Schlaganfall raubte ihm seine Arbeitsfrische. Er nahm daher seinen Abschied und bat als früherer Beamter um eine Pension. Auf die Kabinetsordre, welche die Gewährung dieser Bitte aussprach, schrieb der Kronprinz: „Sofort dem alten Kleinen mitzutheilen.“ K. wandte jetzt seine ganze Zeit litterarischen Arbeiten zu, für die er bis dahin nur in Mußestunden hatte thätig sein können. Noch vor dem Austritte aus dem Amte 1833 erschienen seine „Ideen zu einer Theorie der Musik“. Mit der Veröffentlichung seiner mit vieler Liebe und feinem musikalischen Verständniß gesammelten Lieder und Weisen des Volkes begann er 1838: sein Werk trägt den Titel „Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen, unter Mitwirkung des Herrn Professor Dr. Maßmann in München und mehrerer anderer Freunde der Volkspoesie nach handschriftlichen Quellen herausgegeben und mit Anmerkungen versehen“. Es war ihm nur vergönnt, 8 Hefte, den 1. Theil, erscheinen zu lassen, den er dem Kronprinzen widmete. Der 2. Theil wurde von A. Wilh. v. Zuccalmaglio herausgegeben. Mit ganzer Seele war K. bei dieser Arbeit, aber die Freude über seinen reichen Liederhort trübte ihm die rechte Erkenntniß: weder die Lieder noch die Weisen prüfte er mit strenger Kritik auf ihre Echtheit, so ist seine Sammlung wegen ihrer Unzuverlässigkeit nur mit größter Vorsicht zu gebrauchen. Musikalische und historische Aufsätze veröffentlichte er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Am 5. März 1839 starb K. nach einer kurzen Krankheit. Seine reiche Sammlung eigener und fremder Compositionen kam in den Besitz des Kronprinzen. K. war wegen seiner Biederkeit und seines liebenswürdigen Charakters allgemein beliebt.

Nach Briefen und handschriftlichen Notizen im Besitze der Tochter Kretzschmer’s, Frau Dr. Schmidt in Anclam, und nach eigenen Mittheilungen derselben.