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Artikel „Jenatsch, Georg“ von Christian Immanuel Kind in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 763–766, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jenatsch,_J%C3%BCrg&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 21:36 Uhr UTC)
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Jenatsch: Georg J., ward 1596 in dem graubündnerischen Dorfe Samaden geboren. Seine Abstammung ist nicht genau ermittelt. Der stürmisch bewegte Charakter der Zeiten, in die seine Geburt fällt, blieb nicht ohne Einfluß auf seinen persönlichen Charakter. Seine Mitbürger waren in eine reformirte und eine katholische Partei ausgeschieden, von denen erstere die Interessen der französischen Krone verfocht, während letztere die Nachtheile dieser politischen Stellung fürchtend, um so mehr zu Mailand hinneigte. Die Parteispaltung trug zugleich einen Gegensatz der herrschenden Familien in sich, der in jeder Thalschaft, ja in jeder Kirchgemeinde seine Vertreter hatte. Nicht am wenigsten im Oberengadin war der Gegensatz der Familien von Salis und von Planta ein alle Verhältnisse durchdringender, und hatte gerade dort zu den heftigsten Auftritten geführt, als es sich 1565 darum gehandelt hatte, mit Karl IX. von Frankreich das Bündniß wieder zu erneuern. In diesen Umgebungen wuchs J. auf. – In seinem heimathlichen Dorfe gehörte der überwiegende Einfluß der zu Frankreich hinneigenden Familie v. Salis. Seine Jugendjahre fielen in die Zeit, da Heinrich IV. die Machtstellung des Hauses Bourbon begründete. Den reformirten Predigern erwuchs aus diesen Verhältnissen ein nicht zu unterschätzender Einfluß, und auch J. wurde daher zu diesem Berufe bestimmt. Er vollendete seine Studien in Zürich, wo bündnerische Jünglinge damals häufig im Alumnat zum Frauenmünster Aufnahme fanden. Seine[WS 1] ersten Dienste im Predigtamte widmete er der Gemeinde Berbenno im Veltlin. Man glaubte damals die Reformation in dieser Landschaft durchführen zu können, und war daher bestrebt, junge feurige Kräfte in den dortigen Angriffsstellungen zu benutzen. Seit dem gewaltsamen Tode Heinrichs IV. war jedoch die Gegenpartei wieder einflußreicher geworden, da von Mailand her wieder mehr zu besorgen war, und die Nothwendigkeit gegeben schien, dasselbe mehr zu berücksichtigen.

So entwickelten sich hieraus die Stürme, die im Gefolge der Frage über die Erneuerung des Bündnisses mit Venedig auftraten. Mit furchtbarer Rücksichtslosigkeit hatten die Familie Planta und deren Anhänger die Erneuerung des seit Ende 1613 zu Ende gegangenen Bündnisses mit der Republik Venedig im[WS 2] Jahre 1617 zu vereiteln gewußt, ein Strafgericht verhängte die härtesten Strafen an Leib, Gut und Ehre gegen die Beförderer jenes Bündnisses.

Mit der politischen Reaction hingen die kirchlichen Verhältnisse auf das engste zusammen. An der Spitze der spanisch-mailändischen Partei stand Pompejus von Planta, Erbmarschall des Hochstifts von Chur und Rath des Erzherzogs Leopold. Er mit seinem Bruder Rudolf betrieben nun mit allem Eifer den Abschluß eines Bündnisses mit Mailand, und glaubten jeden Widerstand beseitigt zu haben. Gegen diese Bestrebungen aber erhob sich nun, in ihrer Existenz bedroht, die Körperschaft der reformirten Prediger des Landes, und dieses Auftreten war die Losung, die den jungen Prediger J. in eine an Abenteuern reiche politisch-militärische Laufbahn warf. Das Sendschreiben der Prediger hatte gezündet, ein Volksaufstand brach gegen die Planta’s los, verlangte Bestrafung der spanischen Parteigänger, und in Folge dessen wurde 1618 das Strafgericht in Thusis niedergesetzt, neben dessen Richtern als geistliche Aufseher, wie sie officiell genannt wurden, neben mehreren anderen Predigern sich auch J. befand. Der Parteikampf kleidete sich in gerichtliche Formen, wie begreiflich suchte man die gewonnene Stellung auch durch politische Umgestaltungen zu befestigen. [764] Man glaubte in der Lossagung von allen fremden Bündnissen das befreiende Wort gefunden zu haben. Doch vergebens, die Verhältnisse beherrschten die Menschen. Ein Strafgericht löste das andere ab, je eines die Werke seines Vorgängers vernichtend, bis 1620 die Ermordung der Reformirten in Veltlin erfolgte und hierdurch bis zum Entsetzen die wahre Lage des Landes klar wurde. Nun folgten jene mit unzureichenden Mitteln unternommenen Versuche die aufständischen Landschaften der mailändischen Staatskunst wieder zu entreißen, was die Katholischen durch volle Versöhnung mit Mailand, die Reformirten durch ausgiebige Unterstützung Frankreichs zu erreichen hofften. Erstere verleiteten die Gemeinden des Oberen Bundes zu einem Separatvertrage mit Mailand, in der Meinung, hiemit das ganze Land nachzuziehen, und so in den Wiederbesitz des Veltlin zu gelangen. J., der sich während dieser Wirren nur unter dem Schutze des zürcherischen Regiments Steiner in Sicherheit fühlen konnte, faßte offenbar auf Betreiben des französischen Residenten Gueffier den Plan, das Haupt der katholisch-spanischen Partei Pompejus Planta aus dem Wege zu räumen. Da derselbe die in Thusis über ihn verhängte Verbannung durch seine Rückkehr ins Land und seine erneuerten Umtriebe gebrochen hatte, so konnte er als vogelfrei behandelt werden. Nach einem scharfen Nachtritte in zahlreicher Begleitschaft langte J. am Morgen des 25. Februar 1621 auf Schloß Rietberg an und Pompejus fiel unter den Axthieben seiner politischen und religiösen Gegner. Und jetzt wurde zur Beseitigung des spanischen Bündnisses und zur Vertreibung der zum Schutze jener Unternehmung im Oberen Bund anwesenden Hülfstruppen aus den Waldstätten geschritten. Ein im Unterengadin rasch organisirter Aufstand führte zur Bildung eines Streifzuges, der unter Führung von J. unerwartet vor Thusis erschien, die dort stehenden starken Posten überwältigte und zurückdrängte und nun von allen Seiten her verstärkt, die waldstättischen Truppen zum eiligsten Rückzug über die Landesgrenze nöthigte. Nach diesen Erfolgen war Jenatsch’s Name ein gefeierter. Man nannte die Vollzieher der Vendetta gegen Pompejus Planta „die neuen Tellen“; sie hatten einen wahren Triumphzug durch die evangelischen Städte der Eidgenossenschaft. Aber nun bereitete Spanien-Oesterreich unter Führung des Bruders von Pompejus einen Rachezug gegen das Land vor, der im Spätherbst des J. 1621 zu einer förmlichen Invasion sich gestaltete und dem Lande ein Schicksal, wie dasjenige Böhmens und der Pfalz zu bereiten schien. Nur mit Mühe und auf gefahrvollen Umwegen, von katholischen Bauern verfolgt, konnte sich J. mit der Mehrzahl seiner Genossen über das Hochgebirg nach Glarus retten, um von dort nach kurzem Aufenthalt in Zürich in die Dienste des Grafen von Mansfeld zu treten. Von hier beginnt seine militärische Laufbahn. Er erlangte in diesem Dienste den Grad eines Hauptmanns. Von dort aus trat er zunächst in französische Dienste unter dem Marschall von Coeuvres zur Eroberung des Veltlins, wobei er bis zum Range eines Oberstlieutenants emporstieg. So glänzend indessen auch der Feldzug des J. 1624 war, seine Erfolge wurden durch die schwankende Politik Frankreichs vereitelt, das über Graubünden hinweg seinen Frieden von Barcelona mit Spanien schloß, und Veltlin neuerdings den Ansprüchen der bündnerischen Oberherrlichkeit vorenthielt. Theils der Mißmuth über den unerwarteten Umschlag in der französischen Politik, ganz besonders aber die Folgen eines unglücklichen Duells mit seinem Obersten Jacob von Ruinell legten es J. nahe sich außer Landes zu begeben. Er wandte sich nach Venedig, nahm dort Dienst als Oberst eines Regimentes, das er zu werben übernahm. Dort machte er die Bekanntschaft des Herzogs von Rohan und kehrte mit diesem nach Bünden zurück, als es 1631 galt, eine Wiederkehr der im mantuanischen Feldzuge von 1629 unter Collalto erfolgten Occupation Graubündens zu verhindern, [765] und Veltlin in französischem Interesse wieder zu besetzen. Auch in diesem Feldzuge, der mit vollständigem Erfolge unter Mitwirkung zahlreicher hugenottischer Offiziere das Ansehen Frankreichs neuerdings hob, glänzte J. durch hervorragende Tapferkeit und Umsicht, und gewann daher das vollständige Vertrauen des Herzogs von Rohan. Wie jedoch die erfolgreiche Thätigkeit im Felde Rohan und J. nahe zusammengeführt hatte, so waren es die nachfolgenden diplomatischen Verwickelungen, die die beiden Männer wieder gänzlich auseinander brachten. Von Frankreich hatte man in Bünden die rückhaltlose Erstattung des Veltlin erwartet. Statt dessen zeigte es sich, daß Cardinal Richelieu sich mehr oder weniger gegenüber Spanien an den Vertrag von Barcelona gebunden erachtete. Man war daher sehr enttäuscht über die Bedingungen, welche Rohan in Betreff der Wiedererstattung Veltlins vorzulegen hatte. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Da Rohan selbst von seinem Hofe wenig rücksichtsvoll behandelt wurde und häufig nicht einmal seine Offiziere gehörig bezahlen konnte, so steigerte sich in Bünden die Unzufriedenheit bis zur Erbitterung. Man begann zu empfinden, daß wenn Frankreich nicht ein mehreres zu bieten habe, als Mailand, ebenso gut mit letzterem Staate, der das größte Interesse an der Entfernung der Franzosen hatte, ein erträgliches Abkommniß getroffen werden könne. So bildete sich auf Betreiben von J., der nichtsdestoweniger das Vertrauen des Herzogs von Rohan sich zu bewahren wußte, im tiefsten Geheimniß eine Vereinigung von Männern beider Parteien, der Kettenbund geheißen, welcher die Unterhandlungen mit Mailand einzuleiten unternahm, und hauptsächlich durch die Hand von J. erwünschtes Entgegenkommen fand. Zur Beförderung dieser Unterhandlungen schien es ihm dann unerläßlich, sein reformirtes Bekenntniß abzuschwören und sich, wenigstens äußerlich, der römisch-katholischen Kirche anzugliedern. Es ist leicht verständlich, daß seine Person nur so in Mailand Nachsicht für früheres Auftreten und offenes Ohr für derzeitige Anträge finden konnte. Die Früchte der Verschwörung zeitigten, während man sich scheinbar noch im Kriegszustand mit Spanien-Oesterreich befand, und als Rohan im J. 1637 neuerdings den dringendsten Aufforderungen um Auszahlung rückständiger Soldbeträge nicht zu entsprechen vermochte, organisirte J. einen Auflauf, suchte sich der Person Rohan’s zu versichern, und gelangte wenigstens dazu, daß ein Vertrag über sofortigen Abzug der französischen Truppen abgeschlossen wurde. Das war nun Jenatsch’s größter Triumph, das Veltlin von fremden Besatzungen freigemacht, und die Rückkehr der Landschaft zum Gehorsam vermittelt zu haben. Man übertrug ihm den Oberbefehl über Stadt und Landschaft Chiavenna, während König Philipp IV. ihn mit dem Adelsdiplom auszeichnete, und die spanisch-österreichischen Gelder durch seine Hände zur Vertheilung an die Vertrauten gelangten. Er selbst nannte sich Director des spanischen Bündnisses. Indessen, wiewohl er sich seiner Gegenpartei in politischen und kirchlichen Angelegenheiten so bedeutend genähert hatte, und nahezu in ihrem Dienste thätig war, ließ ihn die heranschleichende Rache doch nicht mehr lange im Genusse der von ihm erreichten so höchst bedeutenden Stellung. Die Unterhandlungen wegen Abschluß des Bündnisses zogen sich hauptsächlich wegen des Religionsartikels bedeutend in die Länge. Es mußte eine zahlreiche Gesandtschaft nach Madrid abgeordnet werden, ohne indessen mehr ausrichten zu können, als schon in Mailand zugestanden worden war. Die Stellung von J. wurde hierdurch schwierig, und seine Feinde, die Planta, Ruinelli und Stampa, die er alle tödtlich beleidigt hatte, benutzten diese Stimmung. Noch bevor das Capitulat mit Spanien vollständig zum Abschluß gelangt war, wurde J., während er in der Fastnacht des J. 1639 bei einem Gastmahle saß, von vermummten Personen angefallen und erschlagen. Es soll hierzu dieselbe Axt verwendet worden sein, durch die [766] 18 Jahre zuvor Pompejus von Planta verblutete. So endete das Leben eines Mannes, dessen Charakter und Handlungsweise des Räthselhaften ungemein vieles enthält, dessen Leistungen in mehrfacher Beziehung an das Außerordentliche streifen und deshalb auch für dichterische Auffassung so großen Reiz darbieten, daß sowohl die geschmückte Biographie als die Novelle und das Drama sich der Aufgabe bemächtigten.

Fort. v. Juvalt, Commentarii vitae ed. Hold. Curiae Raet. 1823. Fort. v. Sprecher, Historia motuum etc. Genevae 1620. Beide auch deutsch im Archiv für die Geschichte der Republik Graubünden von C. von Mohr. Bd. 1, 3 und 4, Chur 1848–1857. Ulysses v. Salis-Marschlins, Denkwürdigkeiten, herausg. von C. v. Mohr, Chur 1858. Mémoires et lettres de Henri duc de Rohan sur la guerre de la Valteline. 3 Vol. Genève 1758. Alphons Flugi, Georg Jenatsch in bünd. Monatsbl. 1852. Nr. 9. 10. B. Reber, Georg Jenatsch, in Basler Beiträge vaterländ. Geschichte, VII. Bd. 1860. Arnold v. Salis, Georg Jenatsch, Drama. Conrad Ferdinand Meyer, Georg Jenatsch, Leipzig 1876.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sein
  2. Vorlage: im im