ADB:Hertzberg, Ewald Graf von
[242] Noch in demselben Jahre wurde er der brandenburgischen Wahlbotschaft nach Frankfurt a./M. als zweiter Secretär beigegeben; doch kam er nur bis Hanau, da Kurbrandenburg bald gegen die Vornahme der Wahl protestirte. Nach Berlin zurückgekehrt, erbat und erhielt er im Anfang des Jahres 1746 die Erlaubniß, die Acten des Staatsarchivs durchsehen zu dürfen, um sich im Canzleistil zu vervollkommnen. Bald erregte der begabte und fleißige junge Mann die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten; man bemerkte an ihm treffliche Fähigkeiten und eine ungewöhnliche Gelehrsamkeit, ausdauernden Fleiß und ein bescheiden stilles Wesen; den Umgang mit der Gesellschaft meidend, zog er es vor, seine Tage über Urkunden und Acten hinzubringen. Da König Friedrich, dem er durch einen Onkel noch besonders empfohlen war, ihn bei eintretender Vacanz berücksichtigt wissen wollte, so schlug H. v. Podewils vor, ihn als Hülfsarbeiter am Staats-Archiv zu beschäftigen; dafür sei H. durch seine gelehrten Kenntnisse und einen entsagungsvollen Fleiß am meisten befähigt, während eine diplomatische Stellung, welche weltmännische Gewandtheit und das Einsetzen der eignen Persönlichkeit verlange, für einen jungen Mann ungeeignet sei, der sein Leben bisher ausschließlich den Studien gewidmet habe. Anders faßte H. selbst die Sache auf; seine ehrgeizigen Hoffnungen sahen in der archivalischen Thätigkeit nur eine Vorschule für den eigentlichen Staatsdienst, eine Vorbereitung auf eine politisch bedeutende Wirksamkeit. Nach einigem Bedenken genehmigte König Friedrich die Anstellung Hertzberg’s am Archive und nahm ihn gleichzeitig, unter Ernennung zum Legationsrath mit einem Gehalt von 300 Thalern, in die damals begründete Pflanzschule für junge Staatsmänner auf (8. April 1747). 1750 erhielt H. auch die Aufsicht über das Geh. Cabinets-Archiv, um dessen Ordnung er sich große Verdienste erwarb; 1752 wurde er auf seine Bitte – er wollte sich mit einer vornehmen Dame aus dem Geschlecht Knyphausen vermählen – zum Geh. Legationsrath befördert. Diese langjährige Doppelstellung, als Beamter im Archiv und im auswärtigen Amt, wurde für Hertzberg überhaupt entscheidend; gelehrte und politische Bestrebungen durchdrangen sich in ihm, einander fördernd, aber auch hemmend. Zunächst warf er sich mit Eifer und unermüdlichem Fleiß in archivalische Studien. Auf Veranlassung Friedrich’s erforschte und bearbeitete er für die Mémoires de Brandebourg einzelne Abschnitte aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte; diese Aufsätze, deren jetzt viele gedruckt vorliegen, lassen doch erkennen, daß H. seinen Antheil an den Werken Friedrich’s etwas zu hoch angeschlagen hat. Besonders aber bestimmte ihn sein lebhaftes deutsches Nationalgefühl, das sich grade im Gegensatz zu der in Berlin vielfach herrschenden französischen Richtung entwickelte, zu eingehender Beschäftigung mit der älteren deutschen und brandenburgischen Geschichte. Ein Vorgänger von Stein, ermunterte er nicht nur Gelehrte zu historischen Arbeiten und unterstützte sie durch Mittheilungen aus den preußischen Archiven, indem er besonders die Sammlung und Erforschung der Urkunden empfahl; er veröffentlichte auch selbst Abhandlungen, von denen einige noch heute werthvoll sind. Die glückliche Lösung einer Preisaufgabe über die älteste Bevölkerung der Mark Brandenburg erwarb ihm einen Sitz in der Academie der Wissenschaften; ein Aufsatz über die Siegel der alten Markgrafen wurde von Gercken, mit dem er in lebhaftem Briefwechsel stand, in seinen „Codex diplomaticus“ aufgenommen. Die größten Verdienste aber um die Geschichte Brandenburgs erwarb sich H. durch die Herausgabe des Landbuches der Mark Brandenburg von Karl IV. (1781) und Pufendorf’s unvollendeter Geschichte des Kurfürsten Friedrich III. (1784). Als Mitglied der Academie hielt H. seit 1780 zum Geburtstag Friedrich II. und später zur Feier der Thronbesteigung Friedrichs Wilhelms II. alljährlich Festreden, in denen er Gegenstände der älteren deutschen Geschichte, hauptsächlich aber das Wesen des preußischen [243] Staates, seine politischen, ökonomischen und statistischen Verhältnisse beleuchtete. Mehr ausgezeichnet durch patriotische Gesinnung als durch große und geistreiche Ideen, enthalten diese Reden dennoch zwei Gedanken, die für die spätere Geschichte Preußens bedeutungsvoll geworden sind: die Befreiung der Bauern und die Nationalisirung des Heeres. Für seine staatsmännische Wirksamkeit aber wurde die Beschäftigung am Archive besonders dadurch förderlich, daß er sich dabei jene bewundernswerthe Kenntniß der brandenburg-preußischen Geschichte aneignete, von der die lange Reihe seiner politischen Deductionen, Manifeste u. s. w. ein so glänzendes Zeugniß ablegt; sie repräsentiren die Vereinigung des staatsmännischen und des gelehrten Elementes in H., unter unverkennbarem Ueberwiegen des letzteren. Die Titel und Verträge, auf denen die alten Erwerbungen Preußens beruhten oder durch die sich neue begründen ließen, die genealogischen Verbindungen mit fremden Höfen und die Erbansprüche, die daraus hergeleitet werden konnten, alle solche Verhältnisse, so schwierig und verwickelt sie sein mochten, waren ihm in jedem Augenblick vollständig gegenwärtig. Er konnte einst dem König Friedrich Wilhelm II., der ihn zu einer Untersuchung über die Verwandtschaft zwischen den Kurfürsten von Brandenburg und den Königen von Ungarn aufforderte, erwidern: „Ich habe es nicht nöthig, darüber Untersuchungen anzustellen, ich weiß das Alles auswendig.“ Wenn hiebei der Gelehrte den Staatsmann erfolgreich unterstützte, so hat er ihn auf der andern Seite wieder schwer geschädigt, indem er dazu beitrug, einen Doctrinarismus in ihm zu entwickeln, der für die selbständige politische Wirksamkeit Hertzberg’s verderblich geworden ist. Bei aller Vertrautheit mit der Vergangenheit entbehrte Hertzberg der lebendigen Kenntniß der Gegenwart. Mit den Doctrinen und Theorien, die er von den Verhältnissen der Vergangenheit abgezogen hatte, trat H. an die Verwicklungen der Gegenwart und entwarf Pläne, an denen er dann mit einer Hartnäckigkeit und einem Dünkel festhielt, wie sie das Bewußtsein überlegener Kenntnisse wohl zuweilen gibt. Die Eigenthümlichkeiten eines Volkes, die Individualitäten politischer Gegner oder Freunde, alle die wirkenden und schaffenden Kräfte der Geschichte, waren für ihn nur willenlose und todte Dinge, die sich seinen politischen Combinationen einfügen mußten. Er war niemals in einer auswärtigen Mission thätig gewesen; von seinem Studirzimmer aus glaubte er die wahren Interessen eines jeden Volkes am besten würdigen und berücksichtigen zu können. Dabei wurde durch den Erfolg einiger Denkschriften seine natürliche Eitelkeit zu einer unglaublichen Höhe gesteigert: es gab nichts, wozu er nicht eine fremde Macht durch die Gelehrsamkeit und Gründlichkeit seiner Erörterungen und Beweise bestimmen zu können sich schmeichelte. – H. verblieb in seiner Stellung am Archive auch noch, als er am 17. Januar 1757 zum wirklichen geh. expedirenden Secretär – wir würden Unterstaatssecretär sagen – ernannt wurde. Er nahm dann, bald in Berlin, bald in Magdeburg verweilend, lebhaften Antheil an dem Schriftwechsel mit den Vertretern Preußens im Auslande. Gegen Ende des Jahres 1762 wurde er von Friedrich nach Sachsen berufen und mit der Führung der Friedensunterhandlungen in Hubertusburg beauftragt. Wiewohl mit der allgemeinen Haltung des Königs, besonders mit seiner Härte gegen Sachsen keineswegs einverstanden, wußte sich H. dabei dennoch die Zufriedenheit Friedrichs so sehr zu erwerben, daß er am 5. April 1763 zum Staats-Minister ernannt wurde. In dieser Stellung, mit der er einige Jahre hindurch noch die Aufsicht über das Geh. Cabinets-Archiv verband, hat H. zur Seite des Grafen Finckenstein, die auswärtigen Angelegenheiten Preußens, insoweit sie nicht vom König selbst aus dem Cabinet geleitet wurden, fast 30 Jahre lang mit einem unvergleichlichen Fleiße verwaltet, zahllose Instructionen und Erlasse verfaßt, Verträge entworfen, Denkschriften ausgearbeitet, und dabei einen ausgebreiteten [244] Briefwechsel mit Diplomaten und Gelehrten geführt und Zeitungs-Artikel geschrieben. Mit seinem Collegen lebte er in gutem Einvernehmen; der König schätzte ihn wegen seiner Arbeitsamkeit und seiner Kenntnisse; in den Briefen an Finckenstein bezeichnet er ihn bisweilen als „ce patriote“. H. selbst dagegen hat sich in seiner Lage niemals behaglich gefühlt. Er bewunderte den König aufrichtig, aber er mißfiel sich in einer Stellung, in der er der autokratischen Haltung des Königs gegenüber auf eigne Gedanken verzichten mußte; er glaubte, indem er seine eigenen Fähigkeiten und Leistungen bei weitem überschätzte, auf eine selbständigere Wirksamkeit Anspruch zu haben. Er ließ es an Versuchen nicht fehlen, mit seinen eigenen Ideen bei König Friedrich durchzudringen; nur selten gelang es ihm damit, meist zog er sich schroffe Zurückweisungen zu. So kam es, daß grade die wichtigsten politischen Handlungen in den letzten Jahren Friedrichs sich im Gegensatz zu den Ansichten Hertzberg’s vollzogen. Im Jahre 1771, bei den ersten Verhandlungen über die Theilung Polens, trug er dazu bei, die Absichten des Königs auf die Erwerbung Westpreußens zu fixiren; er erwarb sich seinen Dank, indem er die Beseitigung gewisser Ansprüche, welche Polen aus dem Wehlauer Vertrag herleiten konnte, anempfahl; aber gleichwohl hatte die ganze Sache seinen Beifall nicht: er meinte, wenn man ihn nur machen ließe, für Preußen ausgedehntere Erwerbungen durchsetzen und Oesterreich auf Kosten der Türkei entschädigen zu können. In gleicher Weise tadelte er die Politik Friedrichs bei den Verwicklungen wegen der Erbfolge in Baiern. In dem Augenblick, wo der König für die Integrität Baierns das Schwert zog, reichte er ihm zur Vermeidung des Krieges Vorschläge ein, wegen deren er mit heftigen und selbst beleidigenden Vorwürfen überhäuft wurde. Auf das Empfindlichste fühlte er sich verletzt, als dann 1779 ein Anderer mit den Unterhandlungen in Teschen beauftragt wurde; er hat damals den König gebeten, sich auf sein Landgut zurückziehen zu dürfen. Selbst die Unterhandlungen über den Fürstenbund, den er später so gern für sein eigenes Werk ausgab, hat er nur widerwillig und, wie er selbst einmal gesteht, gezwungen eingeleitet. Bei diesen Beziehungen zum Könige, dessen Anschauungen er die seinen unter beständigem Widerspruche dennoch unterordnen mußte, während andrerseits seine Eitelkeit darunter litt, daß Graf Finckenstein das Vertrauen des Königs in höherem Maße genoß, gerieth er schließlich in eine Stimmung tiefer Unzufriedenheit, in der ihn nur noch die Hoffnung auf einen Regierungswechsel aufrechterhielt. Schon seit dem baierischen Erbfolgekrieg hatte H. mit dem Prinzen von Preußen eine vertraute Verbindung angeknüpft, ihm Denkschriften und Briefe übersendet und die politischen Verhältnisse mit ihm erörtert. Als nun Friedrich Wilhelm II. den Thron bestieg, glaubte H. seine Zeit gekommen. Er hatte die letzten Wochen bei Friedrich II. in Sanssouci verlebt, er war um den neuen König, als dieser seine ersten Regierungshandlungen vornahm. Er wurde mit dem schwarzen Adlerorden geehrt, in den Grafenstand erhoben; er begleitete den König zur Huldigung nach Königsberg, in anderen Provinzen vertrat er die Person des Monarchen bei der Huldigung. H. durfte hoffen, daß der neue König, von dem er so viele Beweise der Huld empfing, auch das politische System annehmen werde, das er längst entworfen hatte. Die Pläne Hertzberg’s, die im Wesentlichen auf den Gleichgewichtsideen des 17. Jahrhunderts beruhen, gingen dahin, neben dem Bunde der südlichen Mächte, Oesterreich, Frankreich, Spanien, einen nordischen Bund durch die Verbindung Preußens mit England und Rußland zu schaffen. Gestützt auf diese beiden Allianzen, deren zusammenhaltenden Mittelpunkt Preußen vermöge seiner geographischen Lage bilden würde, sollte Preußen das Centrum der allgemeinen Politik, die Alles entscheidende Macht, der Bewahrer des Gleichgewichts der europäischen Staaten werden. Es störte ihn dabei nur wenig, daß Rußland in Folge [245] der orientalischen Entwürfe Katharina’s mit der entgegenstehenden Macht Oesterreich auf das Engste verbunden war. Die Theorie sagte ihm, daß die Interessen beider Staaten im Orient einander entgegenliefen; er zweifelte deshalb nicht, daß ihre augenblickliche aber unnatürliche Verbindung sich leicht werde lösen lassen. Durch eine gemeinsame Einmischung in die inneren Zwistigkeiten Hollands dachte er zunächst ein Verständniß mit England einzuleiten; der Allianz dieser beiden Staaten, verbunden mit der Unterstützung der russischen Pläne im Orient, schrieb er Anziehungskraft genug zu, um Rußland von Oesterreich abzuziehen. In der Wiederherstellung der alten Freundschaft Preußens mit Rußland, deren Verlust die letzten Jahre Friedrichs verdunkelt hatte, erblickte er den eigentlichen Kern seiner Politik. Wie er nun aber zur Durchführung seiner Entwürfe dem König ein energisches Vorgehen gegen Holland empfahl, indem er einem neuen Vermittlungsversuch zwischen dem Prinzen-Statthalter und den Patrioten durch militärische Demonstrationen Nachdruck zu geben anrieth, mußte er zu seinem nicht geringen Schmerze erleben, daß auch der neue König, dessen er sich schon im Voraus versichert zu haben meinte, nach den Rathschlägen des Grafen Finckenstein, der als der Erbe der fridericianischen Politik erschien, an der von König Friedrich den inneren Zwistigkeiten Hollands gegenüber beobachteten Neutralität festhielt. Hertzberg mußte vom König vernehmen, daß seine Leidenschaftlichkeit ihm wenig Vertrauen einflöße. Eine Entfremdung zwischen König und Minister trat ein, die allmählich so heranwuchs, daß H. der Prinzessin von Oranien schrieb, er habe unter der neuen Regierung noch weniger Einfluß als unter der alten. Eine Wandlung zugleich in dem politischen System Preußens und in den Beziehungen zwischen Friedrich Wilhelm II. und H. trat erst ein, als der König in Folge der Beleidigung der Prinzessin, seiner Schwester, durch die Patrioten, wegen deren eine ausreichende Genugthuung verweigert wurde, sich sehr gegen seinen Willen zu kriegerischen Maßregeln gegen Holland genöthigt sah. Zwar hielt Friedrich Wilhelm, auch indem er seine Truppen einrücken ließ, noch an dem Gesichtspunkt fest, daß er damit gleichsam nur einen persönlichen Ehrenhandel mit Holland ausfechte, nicht aber einen politischen Act vollziehe, der eine Aenderung seines bisherigen Systems in sich schließe: Graf H. selbst, welcher die Intervention zum Sturze der patriotischen Partei und zur Verständigung mit England zu benutzen vorschlug, wurde vom König in so harten Worten zurückgewiesen, daß er wieder einmal an seinen Rücktritt dachte; – aber die bei dem Anmarsch der Preußen in Amsterdam zu Gunsten des Erbstatthalters eingetretene Umwälzung, die der König nicht veranlaßte, deren Ergebniß er jedoch sicher gestellt zu sehen wünschte, sowie die ungeschickte Haltung Frankreichs, mit dem er vergebens sich zu verständigen gesucht hatte, führten dann doch wie von selbst zu einem Wechsel in der Politik, den der König gern vermieden, H. aber von Anfang an im Auge gehabt hatte. Der Berliner Vertrag vom 2. October 1787, in welchem Preußen und England die letzte Staatsveränderung in Holland aufrechtzuhalten beschlossen, und der Pariser Vertrag vom 27. October 1787, in welchem auch Frankreich dieselbe anerkannte, bezeichneten einen völligen Umschwung in der preußischen Politik. Im Gegensatz gegen eine mächtige Partei am Hofe, im Gegensatz gegen den König selbst, hatte Graf H. das neue System vorbereitet und soweit es ihm möglich durchgeführt. Was er immer empfohlen, Abwendung von Frankreich und Verbindung mit England, hatte jetzt zu einem Erfolge geführt, den der König niemals zu hoffen gewagt hatte. Es verstand sich, daß er nun dem Minister sein volles Vertrauen zuwandte, dem er bisher so zurückhaltend gegenüber gestanden hatte. Das Jahr 1788 bezeichnet den Höhepunkt der Stellung des Grafen Hertzberg: noch eben konnte sein baldiger Rücktritt möglich scheinen, jetzt war sein Einfluß mächtig genug, um auch den [246] Abschluß einer umfassenden Allianz mit England durchzusetzen. Aber der Erfolg bildete die Bedingung seiner Macht; er konnte sich nur behaupten, wenn er auch in der orientalischen Verwicklung, die sich eben erhob, den König von Erfolg zu Erfolg führte. Der Ausbruch des Krieges zwischen Rußland und der Türkei (August 1787) war von H. mit freudiger Bewegung begrüßt worden. Bei den Schwierigkeiten, in welche er die Mächte des Festlandes nach innen und außen verwickelt sah, im Angesicht des wohlgefüllten Staatsschatzes und des trefflichen preußischen Heeres, glaubte er den Augenblick gekommen, wo Preußen zugleich eine vortheilhafte politische Stellung und eine ansehnliche Gebietserweiterung erwerben könne. Die Allianz mit Rußland sollte den Weg zu beiden Zielen bahnen. Wenn Friedrich II. bei der Kriegsgefahr des Jahres 1783 bereit gewesen war, zu Gunsten der Türkei gegen Rußland die Waffen zu ergreifen, so war H. vielmehr der Ansicht und gewann auch den König dafür, daß man die orientalischen Entwürfe Katharina’s vielmehr begünstigen müsse, um dadurch ihre Allianz mit Kaiser Joseph zu zerstören. Er hoffte im Verlaufe des türkischen Krieges die Kaiserin überzeugen zu können, daß sie in der Verbindung mit Preußen ganz andere Vortheile finden könne, als in der mit Oesterreich. Damit hing der Gedanke einer großen territorialen Veränderung auf das Engste zusammen: eben indem Preußen eine Erwerbung mache und Rußland zu einer solchen verhelfe, sollte dies gemeinsame Interesse Anlaß und Grundlage für ein dauerndes Einverständniß bilden. War der Gedanke, der Kaiserin Katharina zur Ausführung ihrer orientalischen Entwürfe die preußische Allianz annehmbar zu machen, schon an sich schwer zu verwirklichen, da Rußland durch die Freundschaft Oesterreichs im Orient mehr erlangte, als ihm Preußen je gewähren konnte, so hatte H. vollends für die Gebietsveränderungen einen Plan entworfen, dessen Undurchführbarkeit nur ihm selbst nicht einleuchtete und der das Verhängniß seines ganzen Lebens geworden ist. Wie wir schon andeuteten, war es ganz gegen seine Ansicht gewesen, daß Oesterreich bei der Theilung Polens Galizien erhalten hatte; es stand bei ihm fest, daß, so lange diese Provinz im Besitz Oesterreichs verbleibe, Preußen von einer immer drohenden und furchtbaren Gefahr umgeben sei. Diese Gefahr durch Rückgabe Galiziens an Polen zu beseitigen und dabei gleichzeitig die Erwerbungen Preußens auf Kosten Polens auszudehnen, das war der Gedanke, den H. in allem Wechsel der politischen Beziehungen vom Jahre 1772 bis zu seinem letzten Athemzuge mit einer Hartnäckigkeit festgehalten hat, die für ihn und Preußen nicht anders als verderblich werden konnte. Schon unter der Regierung Friedrichs des Großen, beim Ausbruch des baierschen Erbfolgekrieges und im Jahre 1783, hatte er diesen Gedanken angeregt. Jetzt gestaltete er ihn in der Weise aus, daß Oesterreich von der Türkei Moldau und Wallachei erwerben, dafür aber Galizien an Polen zurückgeben sollte, welches seinerseits an Preußen Danzig, Thorn und die Palatinate Posen und Kalisch überlassen würde. Rußland sollte durch Bessarabien mit Oczakow vergrößert werden. H. bedurfte mithin zum glücklichen Gelingen seines Planes der Unterstützung der verbündeten Mächte England und Holland, der Zustimmung Oesterreichs und Rußlands, der Freundschaft Polens, der Nachgiebigkeit der Türkei, und der wohlwollenden Haltung der übrigen Mächte Europas. Er verkannte diese Schwierigkeiten nicht ganz, aber er schlug sie doch zu gering an, und hegte nicht den mindesten Zweifel, daß die vortrefflichen Gründe und Beweise, mit denen er die Vertreter Preußens im Auslande posttäglich versah, schließlich alle Staaten von der Vorzüglichkeit seines Planes überzeugen würden. Ebenso wenig machte es ihn bedenklich, daß auch die Männer, denen er „den großen Plan“ mittheilte, wie der alte Finckenstein und die preußischen Gesandten in Constantinopel, Wien und Petersburg, denselben so gut wie völlig verwarfen. Im Gegensatz zu seinen Anschauungen, [247] die auf der Freundschaft mit Rußland und einem wenigstens nicht feindseligen Verhältniß zu Oesterreich beruhten, verlangte eine ansehnliche Partei unter den preußischen Diplomaten, daß Preußen den ausgebrochenen Krieg vielmehr zur Demüthigung der beiden Kaiserhöfe benutze, indem es sich an die Spitze eines Bundes der denselben feindseligen Staaten Türkei, Polen und Schweden stelle. H. seinerseits verschmähte eine solche Bundesgenossenschaft und verwarf den Gedanken eines Angriffs auf die beiden Kaiserhöfe mit Entschiedenheit; nur im Einverständniß mit denselben, auf dem Wege freundschaftlicher Unterhandlungen hielt er die Verbesserung der politischen Stellung und die territoriale Vergrößerung Preußens für erreichbar. Seine Versuche aber, um zunächst mit Kaiserin Katharina zu einem Einvernehmen zu gelangen, blieben erfolglos: sie wies den Antrag Preußens auf Erneuerung des alten Bundes ebenso zurück, wie sie die Annahme der englisch-preußischen Vermittlung in dem Conflict mit der Türkei ablehnte. Und wenn der Plan Hertzberg’s Niederlagen der Türkei und das Zurückdrängen derselben wenigstens bis an die Donau voraussetzte, so leisteten sie vielmehr den Russen nachhaltigen Widerstand und errangen über die Oesterreicher namhafte Vortheile. Kamen schon hierdurch die auf ganz anderen Erwartungen beruhenden Entwürfe Hertzberg’s bedenklich ins Schwanken, so traten vollends im Herbst 1788 zwei Ereignisse ein, die endlich doch eine gewisse Wandlung in der preußischen Politik hervorriefen. Einerseits erfuhr man in Berlin, daß Rußland im Begriff stehe, mit Polen eine Allianz abzuschließen, welche den preußischen Plänen auf polnisches Gebiet ein für alle Mal ein Ende gemacht hätte. In der Aufregung, die diese Nachricht bei Friedrich Wilhelm II. wie bei H. erweckte, wurde beschlossen, Polen durch eine Declaration von dieser Allianz abzumahnen und zu einer Verbindung mit Preußen einzuladen. Damit wurden Beziehungen zu Polen angeknüpft, die sich, besonders durch die geschickte Thätigkeit des Marquis Lucchesini, bald sehr innig gestalteten. In noch entschiedenerer Weise als durch diese Annäherung an Polen trat Preußen andrerseits der russischen Politik dadurch entgegen, daß es durch eine energische Erklärung den Verbündeten der Kaiserin, den König von Dänemark zwang, von seinem Angriff auf das mit Rußland in Krieg begriffene Schweden abzustehen. Auch hieran knüpfte H. einen sehr verwickelten Plan; er hoffte Schwedisch-Pommern zu erwerben, freilich nicht mehr durch ein Einverständniß mit Rußland, sondern auf Kosten dieses Staates. So begann die preußische Politik das ursprüngliche System Hertzberg’s, der immer eine freundschaftliche Verständigung mit den Kaiserhöfen verfochten hatte, zu verlassen, ohne doch das entgegengesetzte System, den Gedanken der Feindseligkeit gegen die Kaiserhöfe, die Führerschaft der europäischen Opposition gegen dieselben rückhaltlos zu ergreifen. Indem aber Preußen die entgegenkommende Haltung, für die es bei Rußland keine Erwiderung gefunden hatte, scheinbar aufgab und der Machtentfaltung desselben im Osten wie im Norden entgegentrat, verlor es gleichwohl die Möglichkeit einer Verständigung mit Rußland nicht aus den Augen. Man fing an mit Polen über eine Allianz zu unterhandeln, aber man dachte nach wie vor sich durch polnisches Gebiet zu vergrößern. Seltsame Lage! Im Vereine mit Bundesgenossen, die man im Grunde der Seele verachtete, mit Polen, Türken, Schweden, sah man sich in einen Kampf fortgerissen gegen die russische Macht, mit der man am liebsten aufs Innigste verbunden gewesen wäre. Zu diesen Schwankungen der preußischen Politik, welche derselben für die nächsten Jahre den Charakter zugleich der Schwäche und der Zweideutigkeit aufdrückten, trug es noch bei, daß König Friedrich Wilhelm II. und Graf H. bereits nicht mehr dieselbe Linie innehielten. Während H., wiewohl er dem Wechsel der politischen Verhältnisse durch wiederholte Modificationen gerecht zu werden strebte, doch im Grunde seinen Ausgleichungs- und Austauschungsplan [248] immer festhielt und an der Durchführbarkeit desselben durch diplomatische Unterhandlungen nicht verzweifelte, neigte der König von Tage zu Tage mehr dahin, die Vergrößerung Preußens und die Schwächung der Kaiserhöfe mit dem Schwert in der Hand herbeizuführen. H. hätte im August 1789 am liebsten die Dinge in der einen oder andren Weise zur Entscheidung gebracht; er dachte, durch militärische Demonstrationen oder schlimmsten Falls durch einen Herbstfeldzug die widerstrebenden Mächte zur Annahme der preußischen Entwürfe zu zwingen. Aber bei den Berathungen, die Ende August 1789 in Neiße und Breslau stattfanden und von denen fern gehalten zu sein, H. immer bitter beklagt hat, wurde dann doch beschlossen, entscheidende Schritte bis zum Frühjahr 1790 zu vertagen. Mit dieser Wendung hing es denn auch zusammen, daß König Friedrich Wilhelm die Leitung der preußischen Politik wieder im Wesentlichen selbständig in die Hand nahm, recht im Gegensatz zu dem Grafen H., dem nur mehr ein untergeordneter Antheil daran verblieb. Es geschah auf ausdrücklichen Befehl des Königs und nicht ohne Widerspruch Hertzberg’s, daß im Winter von 1789/90 die Bündnisse mit Polen und Türken zum Abschluß kamen, und daß Preußen den Aufstand der Belgier sowie die Gährung in Ungarn und Galizien theils offen, theils geheim unterstützte. H. wollte alle diese Momente nur als Hebel der diplomatischen Action benutzen, ohne sich mit jenen Völkern so weit einzulassen, daß der Bruch mit den Kaiserhöfen unvermeidlich würde; er begleitete den Gang der preußischen Politik, wie er sich unter den kriegerischen Impulsen des Königs gestaltete, mit seiner Kritik und seinen Klagen. Als dann im Frühjahr 1790 von Leopold II. Unterhandlungen zum Zweck der Aussöhnung mit Preußen angeknüpft wurden, durfte H. noch einmal versuchen, seinen großen Plan auf diplomatischem Wege zu verwirklichen. Bei den Verhandlungen zu Reichenbach war er in der That eben auf dem Punkte, die Zustimmung wenigstens Oesterreichs zu einem beschränkten Austausch türkischer, galizischer und polnischer Gebiete zu erlangen, als König Friedrich Wilhelm, müde der endlosen Weiterungen Oesterreichs und besorgt vor einem türkischen Separatfrieden, seinem Minister befahl, die Wiederherstellung des status quo vor dem österreichisch-türkischen Kriege zur Bedingung der Verständigung zu machen. Unter äußerstem Widerstreben mußte H. sich gleichwohl fügen; die Declarationen, die zu Reichenbach mit Oesterreich ausgewechselt wurden, stammen noch aus seiner Feder, aber irgend eine politisch eingreifende Maßregel ist nicht mehr von ihm ausgegangen: er war von Stund an gleichsam wieder in die Stellung eines Unter-Staatssecretärs zurückgedrängt, die er unter Friedrich II. eingenommen hatte. Es war nicht nur jene dünkelhafte Hartnäckigkeit, mit der er inmitten aller Hemmnisse und alles Widerspruchs an dem einmal entworfenen Plane festhielt, was den König gegen H. aufbrachte; längst wurde ihm auch vorgeworfen, daß er die ihm anvertrauten Staatsgeheimnisse nicht zu hüten wisse, und es war dahin gekommen, daß verbündete Staaten ihre Zurückhaltung mit der bekannten Schwatzhaftigkeit des Grafen H. zu entschuldigen pflegten. H. bemerkte wohl die Kälte des Königs gegen seine Person; er wußte auch, daß Bischoffwerder und Lucchesini ihm entgegenarbeiteten. Dennoch konnte er sich nicht entschließen, seinen Abschied zu fordern oder auch nur seine alten Pläne fallen zu lassen. Während der König im Verein mit England auch die Kaiserin von Rußland zur Annahme des status quo zu zwingen den Anlauf nahm, wollte H. nach wie vor die Ausgleichung der russischen und preußischen Interessen durch Gebietsaustauschungen herbeiführen. Die Folge dieser Verblendung war, daß der König, der schon zuweilen die von seinem Minister entworfenen und von ihm selbst unterzeichneten Erlasse durch eigenhändige Weisungen insgeheim wieder aufgehoben hatte, ihn nun auch über die neue Wendung der preußischen Politik, die Annäherung an Oesterreich, völlig [249] in Unkenntniß ließ und ihm endlich in Schulenburg und Alvensleben, mit dem H. immer in schlechtem Einvernehmen gewesen war, zwei neue Minister für die auswärtigen Angelegenheiten an die Seite gab. H. ertrug, wiewohl unter lauten Klagen, auch diese Kränkung; als ihm aber in Folge einer neuen Indiscretion die Kenntniß der wichtigsten Correspondenzen mit den Vertretern Preußens im Auslande entzogen wurde, bat er um seine Entlassung (5. Juli 1791). Diese wurde ihm zwar nicht ausdrücklich gewährt, doch hatte der König nichts dawider, daß er sich von den Geschäften zurückzog und sich auf das Curatorium der Academie und die Aufsicht über den Seidenbau, um dessen Pflege und Verbreitung er nicht geringe Verdienste hatte, beschränkte. H. ertrug die aufgezwungene Muße mit wenig Würde; es war ihm widerwärtig, aus der Fülle einer fast übermäßigen Thätigkeit heraus sich in Unthätigkeit versetzt zu sehen. Der König kümmerte sich nicht mehr um seinen Minister; er hat ihn gegen Ende des Jahres 1791 noch einmal zu sich geladen, doch ohne mit ihm zu sprechen. H. dagegen hörte nicht auf, den König mit Denkschriften und Briefen zu bestürmen, in denen er zugleich seine frühere Politik rechtfertigte und Rathschläge für die Zukunft ertheilte, seine unverdiente Zurücksetzung beklagte und seine Fähigkeit zur Verwaltung eines jeden Ministeriums in Preußen hervorhob. Seine gesellschaftliche Stellung, die schon unter einer nicht verhüllten königlichen Ungnade litt, verschlimmerte sich dann immermehr dadurch, daß er allmählich und nicht mit Unrecht für einen Frondeur, einen Demokraten, einen Anhänger der französischen Revolution zu gelten anfing. Er war unvorsichtig genug, in Schreiben an französische Diplomaten den Gang der preußischen Politik und besonders die neue Theilung Polens zu mißbilligen, Schreiben, die ihren Weg in die Zeitungen fanden und ihm vielfache Unannehmlichkeiten zuzogen. Die Folge war, daß seiner literarischen Thätigkeit Hindernisse bereitet wurden, indem man die Veröffentlichung des dritten Theiles seines „Recueil“ verbot, und daß auch sein Plan einer Geschichte Friedrichs des Großen sich keiner Förderung zu erfreuen hatte. Alle diese Verhältnisse verbitterten die letzten Tage Hertzberg’s in der empfindlichsten Weise; zahlreiche Briefe, die noch erhalten sind, geben davon ein trauriges Zeugniß. Der Name „Reichenbach“, das er als den Anfang alles Unglücks ansah, kehrt darin immer wieder. Aus diesen Briefen klingt es wie ein langer Klageschrei, der leiser und leiser wird, um endlich zu verstummen. Am 27. Mai 1795 ist H. in Berlin gestorben, nachdem eine langwierige Krankheit allmählich seinen Körper aufgelöst und seinen Geist umnachtet hatte.
Hertzberg: Ewald Friedrich, Graf von H., einem alten pommerschen Adelsgeschlecht entstammend, wurde am 2. September 1725 in Lottin, dem Gute der Familie, geboren. Durch einen Prediger vorgebildet, besuchte er zunächst das academische Gymnasium in Alt-Stettin, von 1742 an die Universität Halle, wo er sich besonders eine vortreffliche Kenntniß der Geschichte und des deutschen Staatsrechts zu eigen machte. Durch eine Dissertation „De Unionibus et Comitiis electoralibus“ und ein gut bestandenes Examen erwarb er sich die Doctorwürde. Im Jahre 1745 ging er nach Berlin und fand dort in der Canzlei des auswärtigen Departements, in einer bescheidenen Stellung ohne Gehalt, Beschäftigung.- Weddigen, Fragmente zu dem Leben des Grafen von Hertzberg. Bremen 1796. Posselt, Ewald Friedrich Graf von Hertzberg, Tübingen 1798. Hertzberg, Recueil des déductions, manifestes etc. 1756–1790, I. II. Berlin 1789, III. 1795 o. O. Köpke (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft I), des Grafen Hertzberg Abriß seiner diplomatischen Laufbahn, mit Précis de la carrière diplomatique du comte de Hertzberg. (Dieser wenig zuverlässige Précis ist die Ueberarbeitung zweier von H. dem König Friedrich Wilhelm II. am 1. Aug. 1791 überreichten Denkschriften). Von neueren Arbeiten sind, außer den Werken von Häusser, Herrmann, Ranke, Sybel, Zinkeisen, zu erwähnen: Duncker (Hist. Zeitschrift 37) Friedrich Wilhelm II. und Graf Hertzberg (zu günstig für Friedrich Wilhelm II.). E. Fischer (Staatsanzeiger 1875, Beilage 22 und 23), Hertzberg als Archivar. Bailleu (Historische Zeitschrift 42. Bd.), Graf Hertzberg.