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Artikel „Heß, Jonas Ludwig von“ von Otto Beneke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 292–295, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:He%C3%9F,_Jonas_Ludwig_von&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 08:12 Uhr UTC)
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Heß: Jonas Ludwig v. H., Dr. med., Litterat, Topograph, Statistiker, Politiker, Patriot, Philanthrop, Philosoph. – Wenn schon vor 50 Jahren, bald nach dem Tode dieses seiner Zeit in Hamburg und Deutschland, wie im Auslande hochgeschätzten, wohlbekannten, vielgenannten Mannes, für eine genügende Darstellung seines Lebens und Wirkens kein Material zu finden war, weshalb bis jetzt keine Biographie, nicht einmal ein Nekrolog von seinem beinahe schon verschollenen Dasein Kunde gibt, so ist es erklärlich, daß auch gegenwärtig, ungeachtet mühsamer Forschungen, nur in einer lückenhaften Skizze das Andenken an einen trefflichen, die Menge seiner Zeitgenossen weit überragenden Mann festgehalten werden kann. – Geboren am 8. April 1756 zu Stralsund (nach anderer Angabe zu Stockholm) war er (vielleicht ein Sohn) nach eigenem Ausspruch ein Blutsverwandter des oben S. 277 f. geschilderten Heinrich Ludwig v. H., und, wie dieser, ein sehr eigenartiger, übrigens ein höchst ehrenwerther Charakter. Vermuthlich beeinflußten mancherlei Mißgeschicke seiner Kindheits- und Jugendzeit nicht nur den äußeren Gang seines Lebens, sondern auch die [293] Entwicklung seines ebenso energischen, als an Widersprüchen reichen Geistes. – Das die ersten 25 Jahre seines Daseins umhüllende Dunkel ist nicht zu lichten. Gewiß ist nur, daß er als Lieutenant in der schwedischen Armee gedient, unaufgeklärt aber, weshalb er diesen Beruf verlassen hat. Als er um 1780 zuerst in Hamburg erschien, wo er ungeachtet seiner unansehnlichen Gestalt, seines etwas deformirten Antlitzes und seiner fast finsteren Miene bald genug Aufsehen erregte und Beachtung fand, – da hieß es, er habe in Folge eines unglücklichen Duells, in welchem sein Gegner das Leben, er selbst aber einen Theil der Nase verloren, dem Kriegerstande entsagt. Vermögend und bedürfnißlos genug, um ohne eigentlichen Broderwerb subsistiren zu können, gab er sich nun umfassenden Studien hin auf den Gebieten der Litteratur, Sprachen, philosophischen und Naturwissenschaften, insbesondere auch dem Studium der Geschichte und Topographie seiner neuen Heimath Hamburg. Anfangs nur gelegentlich als Publicist auftretend, übernahm er im J. 1785 die Redaction und Herausgabe des „Journals aller Journale“ des In- und Auslandes, ein Unternehmen, das seine Vielseitigkeit bezeichnet. Schon 1787 erschien dann die 1. Auflage seines dreibändigen Werkes „Hamburg, topographisch, politisch und historisch beschrieben“, auf welches unten zurückzukommen sein wird. In den nun folgenden Jahren durchreiste H. Deutschland, die Niederlande und Frankreich, um überall Land und Leute kennen zu lernen. Die Ergebnisse dieser „Durchflüge“ sind von ihm in vielbändigen Büchern (1789–97) veröffentlicht, welchen Schriften dann seine „Versuche zu sehen“ sich anreihen. – Inzwischen hatten seine naturwissenschaftlichen Studien ihn zur Abfassung einer medicinischen Dissertation geführt, für welche die Universität Königsberg ihm den 10. Januar 1801 das Doctordiplom ertheilte. Im Besitze dieses Titels, blieb er dennoch der eigentlichen ärztlichen Praxis fern, obgleich er bereitwillig allen Hülfesuchenden, namentlich dürftigen Personen, unentgeldlich als Berather diente. In demselben Jahre 1801 erwarb H., der seinem Adelsstande niemals Gewicht beigelegt, das hamburgische Bürgerrecht, und fühlte sich dadurch desto mehr getrieben, sein Wirken dem Wohl dieses freien Gemeinwesens zu widmen. Bemerkenswerth ist es, und darf als ein Beweis gelten für das hohe geistige Uebergewicht dieses seltenen Mannes, daß ein schönes junges Mädchen aus einer angesehenen Familie ihm, dem unschönen alternden Gelehrten ihre Hand reichte (den 6. Novbr. 1805). – Einige fernere Schriften über Hamburgs Handelspolitik, wie über das Armenwesen dieser Stadt, beweisen auch in diesen Fächern den scharfblickenden Geist des Verfassers. Die nun folgenden Jahre der französischen Herrschaft in Deutschland, und speciell in Hamburg, legten der publicistischen Thätigkeit Fesseln an. H. beendigte in dieser Zeit seine umfassenden Vorarbeiten für die sehr veränderte vermehrte und verbesserte 2. Auflage seines topographisch-statistisch-historischen Werkes über Hamburg, welches 1810 und 11 in 3 Bänden erschien, als soeben die alte freie Stadt, nach mehrjähriger Occupation, dem französischen Kaiserreiche förmlich incorporirt wurde. Dies ausgezeichnete, in seiner Art Bahn brechende Werk beruht wesentlich auf gründlichen eigenen Forschungen, für welche dem Verfasser keine nennenswerthe Vorarbeit zu Hülfe kam. Seine statistischen Mittheilungen (damals in Hamburg etwas völlig Neues) waren systematisch geordnete, geschickt gruppirte Zusammenstellungen dessen, was bis dahin bei den Localbehörden als rohes Material geschlummert hatte, großentheils aber auf des Verfassers Antrieb jetzt zum ersten Mal gesammelt war. Die Förderung, die sein Unternehmen bei den Behörden fand, mag als Beweis gelten für das hohe Maß der Achtung und des Vertrauens, das H. im Laufe der Jahre in den Regierungskreisen Hamburgs sich erworben hatte. Die geistvolle Abfassung des Ganzen verlieh diesem Werke einen besonderen Reiz, und so konnte es nicht fehlen, daß die 2. Auflage, noch [294] mehr als die 1., mit allgemeiner Anerkennung im Publicum aufgenommen wurde. Obgleich dem historischen Theil die Resultate der neuen Urkundenforschungen mangeln, und überhaupt ein richtiges Verständniß des Mittelalters dem Verfasser nicht gegeben war, so haben doch seine mit sorgfältigstem Fleiß gesammelten topographischen und statistischen Mittheilungen ihren gewissen, jedenfalls geschichtlichen Werth noch bis heute behalten. – Während nun der thätige Mann so harmlos in Localstudien versunken schien, strebte gleichwol sein patriotischer Geist höheren vaterländischen Zielen zu, unablässig wirksam in geheimer Verbindung mit den bedeutendsten Männern Deutschlands für dessen Erhebung und Erlösung aus fremdherrlichen Banden. So kam es denn, daß im März 1813 der russische General Tettenborn, durch H. von den Zuständen in Hamburg unterrichtet, sein kühnes Unternehmen der Befreiung dieser Stadt ausführen konnte; so kam es auch, daß H. auf Tettenborn’s Empfehlung, und weil im Drange des Augenblicks für diesen schweren Posten ein geeigneterer Mann nicht zu finden war, vom Senate an die Spitze der neuen Bürgerwehr Hamburgs gestellt wurde, zu einer seine physischen Kräfte, wie seine Fachkenntniß übersteigenden Aufgabe. Mit unermüdlichem Eifer organisirte er nun die Bataillone der opferfreudigen jungen Bürger (fast 8000 Mann), welche dann in rühmlichen Gefechten schließlich dennoch der feindlichen Uebermacht weichen mußten. Verlassen von den Truppen der verbündeten Mächte, mußte Hamburg capituliren und fiel wiederum in Feindes Hand. Hamburgs Annalen berichten Näheres über des Bürgerobersten v. Heß’ Verhalten während dieser verhängnißvollen Wochen, viel Anerkennendes, aber auch abfällige Beurtheilungen mancher seiner Dispositionen. Gewiß aber bleibt es, daß pflichtgetreuer, diensteifriger, hingebender kein anderer Führer sich hätte erweisen können, und ebenso gewiß, daß selbst der größte Stratege das tragische Geschick nicht hätte abwenden können, das jetzt über Hamburg hereinbrach. – Geächtet flüchteten die Führer, H. über Gothenburg nach London, wo er seine Thätigkeit für die deutsche Sache fortsetzte, und namentlich englische Subsidien ermittelte für die in Norddeutschland kämpfende hanseatische Legion und Bürgerwehr. Gleichzeitig veröffentlichte er seine auch ins Englische übersetzte Abhandlung „Ueber den Werth und die Wichtigkeit der Freiheit der Hansestädte“, welche Schrift bestimmt war, das öffentliche Interesse für die fernere Unabhängigkeit derselben wach zu rufen und warm zu halten. Hier in London verfaßte er auch, im ersten bittersten Schmerz über den unglücklichen Ausgang der Erhebung Hamburgs, seine mit mehr Feuereifer als Gerechtigkeit geschriebene Schrift „Agonien der Republik Hamburg“, welche er dann im J. 1814, über Kopenhagen nach Hamburg zurückgekehrt, sofort veröffentlichte. In dieser Schrift, wie in deren Nachträgen, hatte er gegen die Regierung der Stadt zu unbegründeten Anklagen sich hinreißen lassen, welche dann durch den Senator Bartels widerlegt wurden. Dessen ungeachtet blieb ihm sowol bei seiner Obrigkeit, als bei seinen Mitbürgern die frühere Hochachtung so ungeschmälert, daß ihm bald darauf die Regulirung verschiedener wichtiger Angelegenheiten vertrauensvoll übertragen wurde. So erhielt er im October 1814 den Auftrag, in Hannover mit der dortigen Generalpostdirection über den Transit der hamburgischen Posten nach Holland und England zu verhandeln, welche Aufgabe er im Januar 1815 erfolgreich beendigte. Im September desselben Jahres ging er nach Paris, um als Bevollmächtigter einiger Corporationen, z. B. der Weinhändler, deren Reclamationen in Betreff früherer französischer Requisitionen und Confiscationen bei der nunmehrigen Regierung zu betreiben. Auch dies schwierige langwierige Geschäft erledigte er zu voller Zufriedenheit der Betheiligten. Nach fast vierjährigem Aufenthalte in Paris kehrte er im Sommer 1819 nach Hamburg zurück, wo er im J. 1821 die dem bekannten Görres’schen „Manuscript [295] aus Süddeutschland“, entgegengesetzte Schrift „Aus Norddeutschland, kein Manuscript“, verfaßte und anonym erscheinen ließ, übrigens aber, vom öffentlichen Leben zurückgezogen, die letzten Jahre seines Daseins in beschaulicher Ruhe verlebte. Er starb nach längerer schmerzlicher standhaft getragener Krankheit am 20. Februar 1823. – Zur Charakteristik dieses bedeutenden Mannes liefern viele Biographien, Denkwürdigkeiten und Briefsammlungen seiner Zeit- und Kampfgenossen, seiner Verehrer, wie seiner Widersacher, sehr verschiedenartige Beiträge. In Friedr. Perthes’ Leben (I. 236) wird von ihm gesagt: „v. H. hatte viele warme Freunde, aber die meisten derselben waren zugleich seine heftigsten Feinde. Denn er selbst war ein doppelter Mensch, der die größten Gegensätze ungeeinigt in sich trug. Er war großartig und edel, und konnte doch auch kleinlich und unversöhnlich sein; er konnte in vollem Vertrauen sich hingeben, und doch Mißtrauen in der Seele bergen; er verachtete alles Aeußere, und war eitel und ehrgeizig; er dürstete nach Freiheit und war militärischer Despot; seine seltene Geisteskraft machte den kränklichen Mann zu den größten Anstrengungen fähig, und doch sah man ihn zuweilen ohne Veranlassung in Muthlosigkeit versinken“. – Diese Beurtheilung mag vielleicht für die höchst aufregenden Jahre um 1813 eine zutreffende gewesen sein. Es ist aber dagegen jedenfalls erfreulich, wenn wir über H. in seinen letzten Lebensjahren die mildere Stimme eines anderen Zeitgenossen vernehmen, der ihm ebenso nahe und beziehungsweise ebenso fern gestanden, als Perthes. In seinem Tagebuche bemerkt jener Zeitgenosse (September 1819) „Dr. v. H., aus Paris heimgekehrt, scheint jetzt mit allen seinen Plänen für diese Welt am friedlichen Ende zu sein. Für sich selbst hat er wol nie etwas gesucht. Nur als entferntes Object dient ihm jetzt die Tagesgeschichte. Mögen seine Contemplationen ihm zum Segen gereichen; sein philosophisches Trachten, das Höhere, Ewige zu schauen, sind ja bloße „Versuche zu sehen“ geblieben. Eine geheime Sehnsucht nach dem christlichen Glauben verräth manches seiner Worte, z. B. die heftig gesprochene Aeußerung: „Christus als Mensch gedacht, erscheine ihm noch unbegreifbarer, als Christus der Gottmensch“. – Und ferner (den 20. Febr. 1823): „Dr. v. H. ist gestorben! Ein geistreicher großherziger Mann, ein edler warmer Menschenfreund! Niederem Begehren unzugänglich, stand er hoch gegen die Erdenwelt, mit der er nur in Verbindung stand, um ihr wohl zu thun, um zu kämpfen für das, was ihm nach innerster Ueberzeugung als Recht und Wahrheit galt“! – Die hier hervorgehobene Menschenfreundlichkeit findet ihre bleibende Bethätigung in einer testamentarisch von H. angeordneten und von seiner Wittwe Thusnelda geb. Hudtwalcker († 1866) ausgeführten milden Stiftung nebst Asyl für augenkranke und blinde arme Frauen und Mädchen.

Seine Druckschriften verzeichnet das Hamburg. Schriftstellerlexikon, III. 232 ff.