ADB:Hankel, Wilhelm
[758] Bald aber wandte er sich naturwissenschaftlichen Studien zu. Besonders schloß er sich an seinen Lehrer Prof. Schweigger an, dessen Assistent er wurde, und in dessen physikalischem Cabinet er viel gearbeitet hat, sogar während seines Freiwilligenjahres.
Hankel: Wilhelm Gottlieb H., geboren am 17. Mai 1814 in Ermsleben, einem kleinen Städtchen am Fuße des Harzes. Sein Vater war dort Cantor und Lehrer an der Knabenschule. H. zeigte früh Verständniß für praktische Dinge; man sah ihn viel in den Werkstätten der Handwerker. Mit 10 Jahren kam er auf das Gymnasium zu Quedlinburg. Mathematiklehrer daselbst war der spätere Rector Schumann, an dem H. besonders hing, und der vermuthlich auf seine spätere Studienrichtung von Einfluß war. Nach Absolvirung des Gymnasiums bezog H. die Universität Halle; er ließ sich als Theologe inscribiren und hörte auch im ersten Semester theologische Collegia.H. verlor früh seine Eltern und mußte nun als ältestes Glied seiner Geschwister und ohne andere Verwandten für sich und die Seinen durch Privatstundengeben den Lebensunterhalt erwerben. Zu seiner Freude erhielt er 1836 noch vor Ablegung seines Staatsexamens eine Lehrerstelle an der neu gegründeten Realschule der Francke’schen Stiftungen in Halle. 1839 promovirte er in Halle mit der Dissertation: De thermoelectricitate crystallorum. 1840 habilitirte er sich ebendort als Privatdocent der Chemie, wie es heißt, um seinem Lehrer in der Physik nicht Concurrenz zu machen. Denn seine Habilitationsschrift bildet eine Fortsetzung seiner Dissertation; und als er 1842–43 schwer an einer Pleuritis erkrankte, gab er doch die Chemie auf, um sich ganz der Physik zuzuwenden.
Am 10. April 1838 hatte H., noch als Lehrer an der Realschule in Halle, die Tochter des Ackerbürgers Stegmann aus Croppenstedt bei Halberstadt geheirathet, die als Waise bei einer Schwester in Ermsleben, dem Geburtsort Hankel’s, wohnte. Am 14. Februar 1839 entsproß dieser Ehe ein Sohn, Hermann H., der nachmalige bedeutende Mathematiker, der seinem Vater aber bereits 1873 im Tode voranging.
1847 wurde H. in Halle zum außerordentlichen Professor ernannt; 1849 erhielt er einen Ruf als Ordinarius an die Universität Leipzig. Hier wirkte er als Lehrer bis 1887, in welchem Jahre die zunehmende Schwäche seiner Sehkraft ihn zwang, seine Lehrthätigkeit aufzugeben. Seine wissenschaftlichen Arbeiten gab er freilich noch nicht auf. Noch fünf Abhandlungen sandte er nach dieser Zeit der Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig ein; die letzte noch drei Monate vor seinem Tode. Trotz seiner schwankenden Gesundheit, die ihn zwang, sich mancherlei zu versagen, war H. kein Hypochonder, im Gegentheil, eine fröhliche Natur und ein großer Freund der Natur. Gern durchstreifte er Wald und Feld. Auf seine Umgebung, Collegen wie Schüler, hatte er einen großen persönlichen Einfluß; er genoß das größte Vertrauen, was sich u. a. darin zeigte, daß er zu wiederholten Malen zum Rector magnificus der Universität gewählt wurde. Am 10. April 1898, dem Tage der diamantenen Hochzeit, verlor der 84jährige Greis seine treue Lebensgefährtin. Am 18. Februar 1899 folgte er ihr in den Tod.
Hankel’s wissenschaftliche Bethätigung war sehr reichhaltig. 1848 erschien ein „Grundriß der Physik“ von ihm; 1854–60 erschien die von ihm veranstaltete deutsche Ausgabe von Arago’s Werken in 16 Bänden und 1865 in 2. Auflage eine deutsche Ausgabe von desselben Verfassers Astronomie populaire in 4 Bänden. Die Resultate seiner eigenen Forschungen legte er in 62 Abhandlungen nieder, die zumeist in den „Abhandlungen“ und den „Berichten“ der Kgl. Sächs. Ges. d. Wissenschaft zu Leipzig veröffentlicht sind. Allgemein zu rühmen ist an seinen Arbeiten die peinliche Sorgfalt, mit welcher er den Leser in jedes Detail der Versuche einweihte, zum nicht geringen Vortheil für die, welche weiter auf seinen Resultaten bauen wollen. Mit eben dieser Sorgfalt vertiefte er sich auch vor allem in die historische Entwicklung des behandelten Gebietes. 28 seiner Abhandlungen beschäftigen sich mit der Pyroelektricität der Crystalle (H. nennt diese Erscheinung Thermoelektricität, weil sie schon oft bei geringer Temperaturveränkerung der Crystalle bemerkbar ist). Er entdeckte einen Zusammenhang zwischen der pyroelektrischen Erregbarkeit des Crystalls und seiner Fähigkeit, die Polarisationsebene des Lichtes zu [759] drehen. Er constatirte ferner einen wesentlichen Unterschied zwischen den Crystallen ohne und mit Symmetriecentrum. Bei ersteren ist die Lage der elektrischen Pole nur von der Crystallstructur abhängig, bei letzteren dagegen ist auch die specielle Form des Crystalls von Einfluß, ja das Vorzeichen der elektrischen Pole kann sich umkehren, wenn man nur durch Abschleifen die Form eines Crystalls verändert. Seine Ansichten wurden und werden nicht allgemein getheilt, und er selbst hielt auch die Zeit für eine abschließende und umfassende pyroelektrische Theorie noch nicht für gekommen. Aber Material für sie sammeln wollte er; und das hat er mit einem bienenmäßigen Fleiße gethan. 150 Schwerspathcrystalle untersuchte er allein und von 50 verschiedenen Crystallarten hat er die pyroelektrischen Eigenschaften festgestellt. Er entdeckte ferner die Photoelektricität mancher Flußspathvarietäten. Man verdankt ihm „Spannungsreihen“ für Metalle und Metalle und Flüssigkeiten, Untersuchungen über das elektrische Verhalten der Flammen u. s. w. Auch auf dem Gebiete der Optik hat H. gearbeitet. Auch als Praktiker finden wir ihn bethätigt. 1848 construirte er einen Hitzdrahtstrommesser; 1850 ein Elektrometer; 1866 einen Apparat zur Messung kleiner Zeiträume.
Aber nicht nur Experimentator und Praktiker ist H.; sehr beachtenswerth ist er auch als Theoretiker in seiner „neuen Theorie der elektrischen Erscheinungen“. Diese unterscheidet sich von der alten sehr wesentlich, besonders dadurch, daß in derselben die sogenannten elektrischen Massen ganz fehlen. Sie sind in dieser Theorie durch gewisse Geschwindigkeiten (Rotationsgeschwindigkeiten) ersetzt, der Art, daß z. B. positiv und negativ geladene Conductoren nach dieser Theorie einen ähnlichen Gegensatz zu einander darbieten, wie links- und rechtsgewundene Schrauben. Gerade hierin erblickte H. einen wesentlichen Fortschritt. Denn die Annahme elektrischer Massen, und namentlich auch der Umstand, daß nach der alten Theorie sowol positive wie auch negative elektrische Massen existiren sollten, erschien ihm höchst anstößig und geradezu unhaltbar. Dieses Fallenlassen der elektrischen Massen erinnert ein wenig an die neuere Maxwell’sche Theorie, und zwischen dieser und der Hankel’schen besteht auch noch insofern eine gewisse Aehnlichkeit, als sowol nach der einen wie nach der andern Theorie die elektrischen Wirkungen nicht direct durch den Raum gehen, sondern durch den Aether vermittelt sein sollen.
- Worte zum Gedächtniß an Wilhelm Hankel. Gesprochen an seinem Sarge am 21. Februar 1899 von C. Neumann. – Wilhelm Gottlieb Hankel. Von Paul Drude. Beides in: „Berichte über die Verhandlungen der königl. sächs. Ges. d. W. zu Leipzig. Mathem.-physische Klasse. 51. Bd. 1899.“ – Poggendorff, Biographisch-litterarisches Handwörterbuch. (Hierin auch ein vollständiges Verzeichniß seiner Arbeiten.) – Conversationslexikon von Meyer und Brockhaus.