ADB:Guiscard von Raron
*), ca. 1360–1430, stammte aus einer Familie, welche ihren Ursprung auf die Normannen zurückführte und von Rhätien aus in das von Deutschen bewohnte obere Rhonethal gekommen sein soll. Ungefähr in der Mitte des langgestreckten Wallis, dessen unterer Theil damals noch zu Savoyen gehörte, stand die Burg Raron oder Raren, deren Namen sie trug. Im 13. Jahrhundert war das an Besitz und Macht wachsende freiherrliche Geschlecht auch auf der Nordseite der Berner Alpen begütert. Nicht blos locale Sagen, auch zuverlässigere Zeugnisse begründen die Annahme, daß einige Thäler des jetzigen Berner Oberlandes, so dasjenige von Frutigen und das der oberen Simmen, in eben jener Zeit ihre Bevölkerung vom Wallis her erhalten haben, und vielleicht waren es die Herren von Raron, welche zu diesen Ansiedelungen den Anlaß gegeben haben. Ein Ritter Peter von Raron besaß ca. 1285 die ausgedehnte Gerichtsherrschaft Mannenberg im Obersimmenthal, und noch später erscheint die Familie in engen verwandtschaftlichen Verbindungen mit dem Adel dieser Gegenden. In eben dieser Zeit begannen wol auch ihre Beziehungen zu der Stadt Bern, wo sie zu Ende des 14. Jahrhunderts das Bürgerrecht besaßen. Im Wallis selbst wußten sie immer mehr den maßgebenden Einfluß auszuüben und die Macht an sich zu ziehen. Der politische Zustand dieses von allen Seiten von den höchsten Gebirgen eingeschlossenen Landes war ein höchst eigenthümlicher. Der Bischof von Sitten galt, gestützt auf eine angebliche Urkunde Karl’s des Großen, zugleich als staatliches Oberhaupt, nannte sich Graf und Präfect des Wallis und regierte dasselbe durch einen sogenannten Landeshauptmann. Dabei hatte aber das arme und einfache Hirtenvolk sich weitgehende Freiheiten zu bewahren gewußt, die es nicht selten mit trotziger Widerspenstigkeit auch dem geistlich-weltlichen Hirten gegenüber geltend machte. Im J. 1393 wählte das Thal, – im Gegensatz zu einem vom Papste Bezeichneten – den Wilhelm (IV.) von Raron zum Bischof, und obwol derselbe den Zunamen „der Gute“ erhalten hat, nahm doch von da an die Stellung dieses Geschlechtes einen für die Volksfreiheit bedrohlichen Charakter an. Der mächtige Peter von R., Herr zu Einfisch (Aniviers) hatte vier Söhne; zwei derselben, Heinzmann und Petermann, kamen 1389 im Kriege gegen Savoyen um; die zwei anderen hießen Wilhelm und Guiscard. Wann dieser letztere [313] geboren worden, ist nicht zu ermitteln, jedenfalls war er nicht mehr jung zu der Zeit, in welcher er in der Geschichte des Landes hervortritt. In den Urkunden erscheint er von 1392–1424. Von Bischof Wilhelm, seinem Verwandten, wurde er, vielleicht schon 1393, zum Landeshauptmann und Verwalter der bischöflichen Güter gemacht, und er selbst erhob, als Jener starb, 1402 seinen Neffen, den erst 21jährigen Sohn seines Bruders Wilhelm, als Wilhelm V., als dessen Nachfolger, auf den bischöflichen Stuhl. Der Freiherr Guiscard, Herr zu Einfisch, wird geschildert als ein Mann von angebornem Stolze und hochfahrendem Wesen, welcher der Freiheit seines Volkes feind war. Er soll zweimal verehelicht gewesen sein, die erste Gattin läßt sich nicht nachweisen, die zweite war Margaretha v. Räzüns, Wittwe des Herrn Ulrich v. Mätsch, eine nahe Verwandte und Miterbin des letzten Grafen von Toggenburg, und es mochte diese Verbindung mit den edelsten Familien der eidgenössischen Lande dazu beitragen, daß der ehrgeizige Mann sich weit geschieden fühlte von dem Walliser Bergvolk. Auch den Bischof beherrschend, schien er sich nahezu fürstliche Gewalt anmaßen zu wollen. Was von seiner Verwaltung urkundlich feststeht, begründet kein schlimmes Urtheil über ihn; dagegen erregte er zuerst den Unwillen seiner Landsleute, als er 1410 den Bischof einen Bund mit dem Grafen von Savoyen eingehen ließ und dann, 1414, hierauf gestützt, dem Heere des Letztern des Landes Pässe öffnete, um das Eschenthal (Domo d’Ossola) einzunehmen, welches eben die Schweizer erobert, der Herzog von Mailand aber an Savoyen verkauft hatte. Wallis stand noch nicht im eidgenössischen Bunde, aber die Bevölkerungen waren nachbarlich eng befreundet; R. aber soll geäußert haben: „Wenn er damals gegen die Eidgenossen gestritten hätte, so müßte nicht Einer davon gekommen sein“ und diese übermüthigen Worte erbitterten so sehr, daß die Eidgenossen bei den Bernern über ihren Bürger Klage führten und sich nur schwer beruhigen ließen. Daß R. im nämlichen Jahre den König Sigismund mit einer Schaar von Reisigen bei seinem Durchzuge durch das Wallis begleitete, wurde ebenso als ein Beweis seines Hochmuths ausgelegt, und endlich warf man ihm vor, daß er gegen Sitte und Recht des Landes verfallene Lehen für den Bischof eingezogen habe. Die Aufregung gegen den Landeshauptmann stieg, bis die Menge zu einer eigenthümlichen Landessitte griff, welche von altersher als Zeichen einer gewissermaßen legitimen Empörung galt. Eine Holzkeule, der man in groben Zügen die Form eines Menschenantlitzes gegeben, wurde auf öffentlichem Platze aufgestellt, als Symbol der unterdrückten Gerechtigkeit. Ein Wortführer erklärte im Namen dieser Figur, welchem Manne ihre Klage gelte; Jeder, der ihr zu helfen bereit war, schlug mit dem Hammer einen Eisennagel in das Holz als Zeugen seines Entschlusses, und dann wurde dasselbe vor das Haus des so Bezeichneten getragen. Man nannte dies „die Mazze“. Als R. vernahm, daß er „gemazzet“ werden sollte, verließ er das Land. Er begab sich zunächst nach Bern; hier lehnte man indessen jede Einmischung ab, da er durch Nichtbezahlung seiner Bürgersteuer seit 20 Jahren sein Bürgerrecht verloren habe. Er ging nach Freiburg, und dieses sandte einen Vermittler nach dem Wallis, welcher das Volk zur Ruhe brachte, R. aber zur Niederlegung seiner Landeshauptmannstelle bewog. Allein diese Uebereinkunft hatte keinen Bestand. Uebermacht und Uebermuth des R. gab neuerdings Anstoß, und noch im nämlichen Jahre 1414 sammelte sich wieder eine aufständische Schaar, zog vor Guiscard’s Burgen zu Siders und zu Leuk, zerstörte dieselben und belagerte ein drittes Schloß des verhaßten Freiherrn, genannt Beauregard. Erst am 15. Juni 1415 kam neuerdings ein Ausgleich zu Stande, durch welchen die Walliser zwar ihrem Bischof wieder Gehorsam versprachen, R. selbst aber schwere Bedingungen auferlegten. Nur widerwillig beugte er sich, suchte aber sogleich wieder Beistand in Bern und verband sich, hier auch diesmal abgewiesen, [314] am 18. September 1415 mit dem Herzog von Savoyen, dem Herrn des untern Wallis. Der Herzog kam, nahm indessen nicht bloß Raron’s Burgen ein, sondern ließ sich auch für des Bischofs Schloß zu Sitten huldigen. Dieser offenbare Landesverrath steigerte die Erbitterung aufs höchste, und als nun R. selbst die zu Abschluß einer Aussöhnung abgeordneten Landleute aus einem Hinterhalte mit Bewaffneten überfiel, da schwur das Land, Rache zu nehmen. Jetzt ließ der Herzog seinen Schützling im Stich; Guiscard verlor jedoch den Muth nicht; nachdem er seine Familie und seine Schätze in der letzten seiner Burgen in Sicherheit gebracht, begab er sich zum dritten Male nach Bern. Sein Unglück machte mehr Eindruck, als früher sein Glanz. Als er die Berner bat, ihn wieder als ihren Bürger anzuerkennen, und die Hoffnung aussprach: nachdem er Alles verloren, werde ihn das Eine wieder aufrichten, Berner zu sein, da widerstanden sie nicht länger und waren für R. gewonnen. Allein zu gleicher Zeit suchten die Walliser Hilfe bei einigen andern Kantonen der Eidgenossenschaft, boten ihnen die gemeinschaftliche Eroberung des Eschenthales an, auf einer Tagsatzung zu Luzern am 31. August 1416; und am 14. October schlossen Luzern, Uri und Unterwalden mit den obern Gemeinden des Wallis einen Bund, der gegen Savoyen, indirect aber auch gegen Bern gerichtet war. Die Einnahme des Eschenthales gelang, aber groß war die Gefahr für den innern Zusammenhalt des eidgenössischen Bundes, als auch die übrigen Theile des Wallis jenem Bunde beitraten, und bald auch von einigen Hitzköpfen ein gewaltsamer Einfall ins bernische Gebiet versucht wurde. Mit Mühe nur gelang es, den sofortigen Ausbruch eines Krieges zwischen den beiden Parteien zu hindern, obwol nun R. selbst ein eidgenössisches Schiedsgericht in der nach den Bundesverträgen üblichen Form anzuerkennen erklärte. Am 23. August 1417 brachte Bern die Sache wieder vor die Tagsatzung; aber ehe eine Vereinbarung zu Stande kam, mußte Raron’s letzte Burg sich den Wallisern ergeben. Gattin und Kinder des Verbannten, nebst seinem Neffen, dem Bischof, erhielten mit ihrem Gesinde freien Abzug, auf Verwendung von Abgeordneten der Stadt Freiburg; doch die Burg wurde der Zusage zuwider zerstört. Die Flüchtlinge begaben sich nach Bern, das nun von Mitleid und Unmuth bewegt, ernstlich des Mitbürgers sich anzunehmen entschloß. Klagend wandte sich die Stadt an Wallis (9. November 1417) und an die Eidgenossenschaft. Der vertriebene Bischof erlangte vom eben versammelten Constanzer Concil die Proclamation des Interdicts über seine Diöcese, Guiscard selbst durchwanderte das Berner Land und wußte durch die Schilderung des erlittenen Unrechts die Bewohner gegen Wallis aufzureizen; und da die Unterhandlungen zu keinem Ziele führten, sammelte er schließlich freiwillige Schaaren aus den Hirten des Oberlandes und zog mit ihnen im Sommer 1418 zweimal über die Alpenpässe verwüstend ins Wallis. Vergebens forderte der König Sigismund die Walliser auf, ihrem vertriebenen Landvogt das Seinige wieder zu geben und den Entscheid eines Schiedsgerichtes sich gefallen zu lassen; vergebens wurden wiederholt Vermittlungsconferenzen abgehalten, am 27. Juli und 28. August 1418 in Luzern, am 15. September zu Meiringen im Berner Gebiet, am 19. October zu Einsiedeln; und ebenso vergeblich reisten die Boten der unparteiischen Kantone Zürich, Schwyz, Zug und Glarus bald nach Bern und bald in die Waldstätte: unbeugsam verlangten die Walliser, daß R. sich vor ihrem eigenen Gerichte stellen müsse, und die Waldstätter unterstützten diese Forderung in einer Weise, daß die Erbitterung zwischen Bern und seinen ältesten Verbündeten einen hohen Grad erreichte. Noch einmal griff R. zur Selbsthilfe, drang mit den ihm folgenden bernischen Anhängern ins Rhonethal und überfiel sogar die Hauptstadt Sitten, welche geplündert und zum Theil in Brand gesteckt wurde. Erst am dritten Tage ging er mit Beute beladen wieder zurück. Nur [315] schwer konnte die bernische Regierung abgehalten werden, selbst den Krieg zu eröffnen. Doch der Winter brach ein, und endlich am 2. Mai 1419 trat ein Schiedsgericht der unparteiischen Kantone zusammen. Sein Entscheid lautete günstig für R. und forderte von den Wallisern vor jeder weiteren Verhandlung die Wiedereinsetzung des Vertriebenen in seinen früheren Besitz. Fünf Wochen lang dauerten in Zürich die Verhöre und Untersuchungen über die gegenseitig vorgebrachten Beschwerden; doch es war Alles umsonst; nicht nur die aufgebrachten Walliser wollten nichts davon wissen, auch der Bisthumsverweser und das Domcapitel von Sitten verweigerten dem Spruch ihre Anerkennung, weil die Frage nur von einem geistlichen Gerichte entschieden werden könne. Die Walliser, deren Boten Zürich trotzig verließen, machten wieder einen Raubzug über den Grimselpaß ins Berner Land, und nun entschloß sich auch Bern zum Kriege. Mitte August zogen 5000 Mann aus. Ganz Wallis war von Schrecken erfüllt, bis ein wackerer Mann den Verzagten Muth einflößte und beim Dorfe Ulrichen den sengenden und raubenden Siegern Halt gebot. Die Berner gingen über das Gebirge zurück, und neue Friedensunterhandlungen begannen. Die Jahreszeit, welche den Uebergang über die Pässe unmöglich machte, that das Beste dazu. Zu Evian am Genfersee fand am 20. December eine Zusammenkunft statt, bei welcher der Herzog von Savoyen, der Erzbischof von Tarantaise und der Bischof von Lausanne persönlich anwesend eine Vermittlung versuchten. Am nämlichen Tage waren die eidgenössischen Boten in Zug versammelt, und endlich kam, nachdem R. alle seine Ansprüche an Wallis an die Stadt Bern abgetreten, am 25. Januar 1420 ein neuer Spruch zu Stande. Auch diesmal lautete er für die Walliser hart; sie sollten R. Entschädigung leisten und einen Theil der Kriegskosten tragen. Nur mit großer Mühe kam es dahin, daß endlich am 6. April alle Theile des Landes diesem Entscheide sich zu unterwerfen erklärten. So war nach sechs Jahren und 31 Friedensconferenzen ein Conflict beigelegt, der nicht allein ganz Wallis schwer beunruhigt, sondern die Existenz des schweizerischen Bundes in der gefährlichsten Weise bedroht hatte. Doch noch 1423 hatte die Tagsatzung der Eidgenossen mit dem Widerstande der Walliser zu kämpfen, und Guiscard v. R. scheint es auch unter dem Schutze der Berner nicht gewagt zu haben, in seine Heimath zurückzukehren. Wann er gestorben, ist nicht genau bekannt, 1431 war er nicht mehr am Leben; seine, an einen vornehmen Freiburger, Anton v. Seftigen, verheirathete Tochter, vielleicht aus der ersten Ehe, war 1420 schon geschieden; seine Söhne, Hiltbrand und Petermann v. R., wurden durch ihre Mutter Miterben des letzten Grafen v. Toggenburg (gestorben 1436). Der Charakter des Freiherrn v. R. wird fast von allen Seiten wenig vortheilhaft geschildert, doch fehlt uns ein unbefangenes Urtheil in den vorhandenen Berichten, und ein Mann von hervorragenden Eigenschaften, von ungewöhnlicher Energie und geistiger Ueberlegenheit scheint er immerhin gewesen zu sein. Seine Bedeutung für die schweizerische Geschichte liegt darin, daß sein Auftreten die Eidgenossenschaft bis hart an die Grenze eines Bürgerkrieges brachte, aber gerade dadurch den Anstoß gab zu einer festeren Gestaltung des eidgenössischen Staatsrechts.
Raron: Guiscard v. R. (Gischart, Widschart, Gitzhart)- Berner Chronik von C. Justinger, hrsg. von G. Studer, 1871. – S. Furrer, Geschichte des Wallis. Sitten 1850. Bd. I, S. 158–195. – Amtl. Sammlung der Eidg. Abschiede. Bd. I (1245–1420). – A. v. Tillier, Geschichte des Freistaates Bern. Bd. II, S. 44–54. – J. v. Müller, Geschichte der Eidgenossenschaft. Bd. III, S. 119 ff. (Reutlingen 1825). – Raronacten im Berner Staatsarchiv. – Krüger, Die Verwandtschaftsverh. d. letzten Grafen von Toggenburg, im Anzeiger für Schw. Gesch. IV, S. 410.
[312] *) Diese letztere Form gebraucht der gleichzeitige Berner Chronist Justinger, vielleicht nach einem naheliegenden populären Wortspiel.