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Artikel „Gudden, Bernhard Aloys“ von Theodor Kirchhoff (Arzt) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 616–618, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gudden,_Bernhard_von&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 00:27 Uhr UTC)
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Gudden: Bernhard Aloys G., geboren am 7. Juni 1824 zu Cleve in der Rheinprovinz, studirte seit 1843 in Bonn, später in Halle, wo er am 22. März 1848 promovirte mit der Dissertation „de motu oculi humani“. Dann vollendete er das Studium und Staatsexamen in Berlin. Zuerst widmete er sich der psychiatrischen Laufbahn unter Jakobi in Siegburg, dessen Enkelin er 1855 heirathete. Dann war er vier Jahre lang unter Roller in Illenau. Die Verschiedenartigkeit beider Persönlichkeiten und des veralteten Siegburg gegenüber dem neuen Illenau beeinflußten seine Entwicklung in bedeutsamer Weise[WS 1]. 31 Jahre alt, wurde er 1855 Director der unterfränkischen Landesirrenanstalt in Werneck, die in dem prachtvollen fürstbischöflichen Sommerschloß eingerichtet war. 1869 wurde er an die neuerbaute Kantons-Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich berufen, gleichzeitig als Professor und Director der psychiatrischen Klinik an der Universität. Als Nachfolger Solbrig’s erhielt er 1873 einen Ruf nach München. In allen diesen Stellungen bethätigte er sich sowol durch sein bedeutendes Organisationstalent wie durch seine zahlreichen, theilweise epochemachenden wissenschaftlichen Arbeiten. Als Arzt und Lehrer wirkte er durch seine frohsinnige und liebenswürdige Natürlichkeit, fesselte und bezauberte er Schüler und Patienten. Er war lebhaft und gewandt, sprach überzeugend; seine kräftige und gesunde Erscheinung verfehlte niemals ihren Eindruck. Auch den Behörden gegenüber gewann er dadurch großen Einfluß, so daß ihm manche Einrichtungen und Verbesserungen in den Anstalten persönlich zu danken sind. Großer Fleiß unterstützte seine geniale Begabung, die auch auf wissenschaftlichem Gebiete stark hervortrat. Immer drängte es ihn, die praktischen Seiten seiner Untersuchungen aufzufinden; die Erkenntniß, daß landwirthschaftliche Beschäftigung den Geisteskranken besonders zu Gute komme, führte auf seinen Anlaß zur Gründung einer neuen dafür eingerichteten Anstalt in Gabersee (1883). Dem Verein deutscher Irrenärzte, dem er sich namentlich in seinen letzten Lebensjahren widmete, gehörte er seit 1860 an. Seit 1870 betheiligte er sich an der Herausgabe des Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1883 erhielt er den Graefepreis für seine Arbeit „Ueber die Kreuzung der Nervenfasern im Chiasma nerv. opt.“ 1875 wurde er nobilitirt, nachdem er schon den Titel Ober-Medicinalrath erhalten hatte. Bei dem Versuche, seinen Patienten König Ludwig II. von Baiern zu retten, ertrank er am 13. Juni 1886 mit ihm im Starnberger See. Hierdurch ist er aus dem engen Rahmen der Berufsgenossen in den weiten der Weltgeschichte getreten. Daß er zu diesem tragischen Ende kam, war aber durch die Größe seiner Persönlichkeit bedingt, die wie geschaffen zu der schwierigen Aufgabe, den königlichen Patienten zu behandeln und zu leiten, sich im Augenblicke der Gefahr ganz einsetzte und dabei unterging. Als er die Pflicht der Behandlung des Königs übernahm, hat er es ausgesprochen, daß sie nicht ohne Lebensgefahr für ihn sein dürfte. Wie richtig er die schwierige Lage beurtheilte, geht namentlich daraus hervor, daß Niemand ihm den hohen Patienten übergeben konnte; man mußte ihm Generalvollmacht ertheilen, sich desselben selbst zu bemächtigen und schob ihm, seiner Erfahrung, Umsicht und Energie die Verantwortung im ganzen Umfang dadurch zu, die um so größer war wegen der Gefahr eines Selbstmordes des Königs. Es gelang ihm zunächst diese schwierige Aufgabe, ferner die Ueberführung des Kranken nach Schloß Berg. Wenige Tage später auf einem Spaziergange erfolgte die Katastrophe; man kann kaum zweifeln, daß G. im Ringkampf gegen den Kranken, den so großen und schweren, sehr muskelstarken König unterlag und von diesem mit Gewalt unter Wasser gehalten wurde; der König suchte und fand selbst den Tod, an dem G. ihn nicht hatte hindern können; er war ein Opfer seines Berufs und seiner [617] ärztlichen Pflichttreue, da er auf den Wunsch des Königs die begleitenden Wärter abgewinkt hatte, um das für die Behandlung des Kranken so nöthige Vertrauen ganz zu gewinnen. Der Versuch, den König zu retten, konnte ihm bei dessen impulsiver Handlungsweise allein nicht gelingen; trotzdem ist ihm kein Vorwurf der Unvorsichtigkeit zu machen, denn seine erste Aufgabe blieb es, die Bahnen zu einer methodischen Behandlung zu ebnen; dazu bedurfte er des Vertrauens seines Patienten.

Gudden’s Größe liegt namentlich in seiner Persönlichkeit. Durch die Klarheit seiner Worte ging ein künstlerischer Hauch, in Sprache und Schrift. Als Lehrer, Arzt und Freund schaarte er daher Aeltere und uns Jüngere um sich, lebendig war seine Rede und anziehend seine Erscheinung. Eine ungewöhnliche Arbeitskraft bethätigte er im Beruf und in der Wissenschaft. Ein großer Theil seiner Erfahrungen und Erkenntnisse lebt ungeschrieben in seinen Schülern fort, aber auch zahlreiche Arbeiten sind uns aufbewahrt. Die ersten Schriften Gudden’s liegen auf verschiedenen anderen Gebieten als der Psychiatrie. Seine Dissertation handelte über die Bewegungen des menschlichen Auges. Nach einigen Referaten über das Irrenwesen in Holland, ferner in Westfalen, gab er Beiträge zur Lehre von den durch Parasiten bedingten Hautkrankheiten, referirte über den Luftwechsel in Wohngebäuden. Auch gab er später noch wieder einen Beitrag zur Lehre von der Scabies. Sie zeichnen sich sämmtlich durch große Klarheit aus. Eng verbunden mit dem psychiatrischen Gebiete sind aber alle seine sonstigen Arbeiten. Er hat Arbeiten über den Bau des Gehirns bis an sein Lebensende mit großem Scharfsinn und Erfolg betrieben. Vornehmlich bediente er sich dabei der Methode der Serienschnitte, für welche er ein lange Zeit als mustergültig geltendes Mikrotom einführte. Epochemachend wurde seine Methode durch Zerstörung peripherer Organe an neugeborenen Thieren die dann atrophirenden Bahnen und Centren zu untersuchen. Bei seinen Untersuchungen über das Knochenwachsthum des Schädels vertrat er die Ansicht, daß dies nicht an den Nähten, sondern interstitiell stattfinde. Eine andere Reihe von Arbeiten widmete er Fragen, die mehr zur praktischen Psychiatrie in Beziehung treten. Berühmt sind seine Abhandlungen über die Ohrblutgeschwulst, über die Rippenbrüche bei Geisteskranken und das Durchliegen derselben; er sah sie alle als Folgen von Verletzungen oder Vernachlässigung an, die vermieden werden können und in der Anstalt nicht vorkommen dürfen. Mag er in dieser Behauptung vielleicht doch etwas zu weit gegangen sein, so ist es doch besonders ihm zu verdanken, daß der diese Arbeiten durchwehende belebende Hauch der Menschenfreundlichkeit und seines sittlichen Eifers die praktische Psychiatrie noch jetzt beherrscht; in der Hauptsache hat er auch recht behalten und in der That sind jene Verletzungen den jüngeren Irrenärzten mehr nur noch historisch als praktisch wichtig. Praktische Fragen über die Verbindung von Heil- und Pflegeanstalten, über die Ueberwachungsstationen hat er durch Schrift und That gefördert. Die künstlerisch vollendete Form dieser Arbeiten verleiht ihnen auch außer ihrem wissenschaftlichen noch einen dauernderen Werth, der in den nicht niedergeschriebenen zahlreichen Vorträgen und Discussionen auf Versammlungen auch immer glänzend hervortrat.

Laehr, Gedenktage der Psychiatrie, S. 172, 177 und 297. – Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch gerichtl. Medicin, Bd. 43, S. 163 ff. die hier vielfach wörtlich benutzte Mittheilung von Laehr „über König Ludwig II. und von Gudden“, sowie e. l. S. 177 ff. sein schöner Nekrolog, an dessen Schluß S. 186/187 die Zusammenstellung der Schriften Gudden’s [618] mit genauer Quellenangabe. – Unter den sonstigen zahlreichen Nachrufen der von Nißl, Augsburger Zeitung Nr. 191–193.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wiese