ADB:Goldschmidt, Abraham Meyer
L. Philippson’s (s. d.) wies auf „die schöne Art“ dieser Erwähnung hin (Jahrg. 1838). Unter seiner Aegide bildete sich in der alten polnischen Hauptstadt eine „deutsch-israelitische Gemeinde“, deren Geistlicher er selbstverständlich sein mußte. Auch die im Heimathsort gehaltene erste deutsche Predigt erregte großes Aufsehen. Mittlerweile hatte er in Berlin seine theologischen und philosophischen Studien regelrecht durchgeführt, sich mit gelehrten Strebensgenossen wie Dr. Moritz Steinschneider und Dr. David Cassel in förderlichen Verkehr gesetzt und zum Dr. phil. promovirt. Um die ersten jüdischen Kanzelredner zu hören, Salomon, Kley, Mannheimer, begab er sich nach Hamburg und Wien, fand in ersterer Stadt auch bei Gabriel Rießer [436] (s. d.) unvergeßliche Anregungen. In Warschau wirkte er ohne feste Anstellung unverdrossen weiter, bei allen Schichten der Bevölkerung bis zu den Spitzen des russischen Beamtenkörpers hochgeachtet. Aber sein Deutschthum und der Drang in innigere Verbindung mit deutscher Cultur, möglichst an einem Brennpunkte derselben, zu kommen, veranlaßten ihn, sich 1858 um die mit Adolf Jellinek’s Weggang freie Stellung als Rabbiner der israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig zu bewerben, wozu er auch einstimmig gewählt wurde. Hier hat er 31 Jahre lang in reich gesegneter Wirksamkeit alle Pflichten als Prediger, Seelsorger, Religionslehrer (er wurde auch Dirigent der von ihm modern gestalteten „Israelitischen Religionsschule“) aufs gewissenhafteste ausgefüllt, inmitten einer immer bunter sich mischenden starken Gemeinde und später mannigfach unerquicklicher Spannungen zu der antisemitisch verhetzten christlichen Majorität der Stadt. In die Oeffentlichkeit drängte er sich nie, folgte aber den Einladungen zu entsprechenden Reden, auch spontan, so schon am 22. Januar 1859 zur Feier Lessing’s – eine Gelegenheit, die ihm fürder noch oft den Mund geöffnet hat – – im Leipziger Schillerverein, hielt bei der Enthüllung der Lessingbüste an des Meisters Geburtsshaus in Kamenz 1863 die Weiherede, die Roderich Benedix, der auch zu den bestimmten Festrednern gehörte, zum Verzicht brachte, weil „die Feier durch die eben gehörte Ansprache eine Höhe erreicht habe, die nicht überboten werden könne“. Wann hat sonst ein jüdischer Geistlicher an der Errichtung eines Denkmals für einen großen deutschen Dichter mit dem officiellen Worte theilgehabt? Und wann hat ein jüdischer Geistlicher Anlaß gefunden, in einer Kirche der Aufforderung nachzukommen, sich über die Richtung des ersten Religionsunterrichts auszulassen, wie G. bei der 15. Deutschen Lehrerversammlung in der Matthäikirche zu Leipzig?! Da legte er, dem Antriebe der plötzlichen Gelegenheit folgend, unter stürmischer Zustimmung als seine Ansicht dar, daß der erste Religionsunterricht nur das die Menschen Verbindende hervorheben, aber alles, was einen Zwiespalt in des Kindes Seele hervorzurufen geeignet sei, vermeiden müsse; von Gott, dem Menschen, der Natur solle man mit dem Kinde sprechen, wie auch die Bibel erst viel später die abtrennenden „Bundeszeichen“ einführe.
Goldschmidt: Abraham Meyer G., jüdischer Theolog, wurde am 2. April 1812 in dem damals rein polnisch-jüdischen Städtchen Krotoschin in Posen geboren, wuchs unter dürftigen, moderner Bildung fast ganz abgekehrten Verhältnissen auf, so zwar, daß er die deutschen und französischen Bücher des in Berlin und Dänemark gewesenen mütterlichen Großvaters Benas, wol die einzigen im Orte, als ganz besondere Culturträger ansehen mußte. 14 Jahre alt ging der strebsame Knabe mit 20 Silbergroschen nach Breslau, eine geistige und materielle Existenz zu suchen, setzte die häuslichen Studien im Hebräischen fort und verschaffte sich die Reife fürs Gymnasium, um mit 17 Jahren zweiter Lehrer an der jüdischen Elementarschule daheim zu werden. Dann vollendete er unter Entbehrungen und nur durch Stundengeben sich über Wasser haltend den Gymnasialbesuch und ging darauf, in der jüdisch-theologischen Wissenschaft und allgemeiner Bildung sich fortwährend schulend, als Hauslehrer nach Krakau. Hier sowol wie in Warschau, wohin der für ersehnten Universitätbesuch Mittellose ebenfalls als Hauslehrer wanderte, hielt er auf Aufforderung vor einem privaten Kreise von Glaubensgenossen eine deutsche Predigt, was ein Ereigniß war und auch in sprachlich-völkerpsychologischer Hinsicht, zumal im Vergleich zu heute, culturgeschichtliche Bedeutung beansprucht. Die „Preußische Staatszeitung“ in Berlin registrirte dies als wichtige Begebenheit und die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“G. hat gemäß seiner Vergangenheit als Vorfechter der deutschen Predigt im israelitischen Gottesdienste während seiner ganzen Leipziger Function mit im Vordertreffen für dessen zeitgemäßere Umformung gestanden. Orgelspiel, deutscher (auch Frauen-) Chor- und gelegentlich deutscher Gemeindegesang, gelegentliche deutsche Gebete neben den geheiligten alttraditionellen hebräischen, das dünkten ihn Forderungen, im Interesse der Glaubenstreue und -innigkeit entschieden zu befürworten, und er hat sie mit Milde und Festigkeit mit durchgedrückt, ohne den Stürmern und Drängern der radicalen „Sonntags“-Reform sich beizugesellen. Auch auf den jüdischen Synoden und Rabbinerversammlungeu kämpfte er an der Seite der Collegen fortschrittlicher Richtung, Adler, Aub, A. Geiger, Herzfeld, Philippson, Wiener usw., aber seinem Gemüthe gemäß stets in versöhnlichem, urbanem Tone. Der Leipziger „Mendelssohnstiftung“ und den „Mendelssohnvereinen“, deren Namengeber er so oft in Vereinsreden gezeichnet und gefeiert hatte, hat er seine werbende Kraft in engerem Kreise gewidmet, den großen „Deutsch-Israelitischen Gemeindebund“ mit ins Leben gerufen und gestützt. Er hat aber nicht bloß als Koryphäe des gemäßigt-liberalen Judenthums weithin Einfluß gewonnen, sondern bei allgemeinen humanitären Bestrebungen, so der „Deutschen Gesellschaft für Volksbildung“, eine Rolle gespielt. Begeisterter Sohn deutschgewordenen Bodens und deutscher Civilisation (s. gedruckte Predigten von 1863 u. 1870), hat er am 17. Juli 1870 im Briefe an den zweiten Sohn Sigismund, der als sächsischer Stabsarzt mit in den Krieg zog, den [437] großen sittlichen Gedanken und die patriotische Erhebung unter das Zeichen des Gottvertrauens gestellt; während des Kriegs hat er in dem ihm jederzeit verfügbaren, gewandten Französisch an Adolphe Crémieux als Mitglied der provisorischen Regierung der Republik brieflich gegen die lügenhaften Gerüchte über schlechte Behandlung der Gefangenen und Verwundeten in Deutschland protestirt, an denselben Crémieux, dem er dann 1880 in Paris als Delegirter des Leipziger Zweigvereins der eben von Crémieux gegründeten Alliance Israëlite Universelle im Namen der Generalversammlung den gewünschten Nachruf gehalten hat. Nachdem G. in beglücktem Familienleben und Freundesverkehr die letzten Jahre mit mancherlei Krankheiten zu ringen gehabt, ist er, bis ans Ende durchaus geistesfrisch, fast 77 Jahre alt, am 5. Februar 1889 zu Leipzig gestorben.
In ihrem schönen Charakterbilde G.s sagt die Wittwe (S. 40), die um die Jugenderziehung im Fröbel’schen Sinne und weibliche Bildung hochverdiente Henriette G., ihm als zweite Gattin 1853 angetraut: „Ich habe nicht von gelehrten Werken zu berichten, die er hinterlassen – aber ich darf, ohne ruhmredig zu erscheinen, sagen, daß, wer seine Predigten [c. 6 gedruckt], seine Bibelerklärungen [s. auch S. 64] gehört, die Vorträge über die culturgeschichtliche Bedeutung der Juden im Mittelalter, den Vortrag über die geschichtlichen Grundlagen zum ‚Uriel Acosta‘ (ein Vortrag, der Gutzkow bei seiner Anwesenheit in Leipzig aufs höchste interessirte), der wird gewiß bestätigen, daß es ihm weder an Gelehrsamkeit, noch an Darstellungsgabe gefehlt.“ Leider ist von seinen verschiedenen Reden über Lessing und über Moses Mendelssohn, deren Freundschafts- und Geisteszusammenhang er oratorisch in den Mittelpunkt zu stellen liebte, wenig gedruckt; wenn die Wittwe a. a. O. S. 33 angibt: „Die eine im J. 1861 gehaltene, ist erschienen und zeichnet in knapper Form die umfassende Thätigkeit Mendelssohn’s für Juden und Judenthum. Als providentiell und vorbildlich für das Verhältniß der Juden zum deutschen Volke betrachtete er das Verhältniß Mendelssohn’s zu Lessing“, so meint sie vielleicht „Moses Mendelssohn als Uebersetzer und Exeget. Eine Skizze“ (gründlich und mit gediegenen weitern Ausblicken), die im „Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch. Zur hundertfünfzigjährigen Geburtsfeier von G. E. Lessing und M. Mendelssohn, sowie zur Säcularfeier von Lessings’s ‚Nathan‘. Herausg. vom Deutsch-Israelitischen Gemeindebunde“ (1879) S. 109–129 gedruckt worden ist. Ebenda S. 317 bis 320 ward die erwähnte Kamenzer Weiherede von 1863 aufgenommen; die S. 395 nennt G. an der Spitze der langen Reihe Festredner im Leipziger „Verein für geistige Interessen im Judenthum“ bezw. „Mendelssohnverein.“
Eine ungemein eingreifende That vollführte G. mit Herstellung eines modernen, fast durchweg mit deutscher Nebenübersetzung ausgestatteten Gebetbuchs, das, unaufdringlich wie alles reformatorische Vorgehen Goldschmidt’s, schon auf dem Titel als „zunächst für den Gebrauch der Israelitischen Gemeinde zu Leipzig“ bezeichnet, in zwei Bänden erschien: der zweite, 1874 gedruckt, enthält die Gebete und Liturgien für die großen Herbstfesttage am Anfange des Kirchenjahres, der erste, 1876 folgend, mit einem vertheidigenden, grundsätzlich wichtigen Vorwort, das Material für alle übrigen Gottesdienstgelegenheiten. Der mehr conservativ gesinnte Amtsnachfolger Goldschmidt’s äußerte dazu in seiner Rede zur Synagogen-Trauerfeier: „Der öffentliche Gottesdienst war ihm eine Himmelspflanzung, die er wie ein liebevoller Gärtner pflegte. Seine Hand hat die üppig wuchernden Ranken und die halbvertrockneten Zweige mancher hebräischen Gebetsstücke abgeschnitten, seine Hand hat zur Neubelebung des alten Stammes die fremden Pfropfreiser deutscher Gebete und Gesänge aufgesetzt“ – –, das war denn von derselben Kanzel aus, von der G. fast drei Decennien gepredigt und erbaut hatte, ein allerdings zweifelhaftes Lob des [438] kühnen, verantwortungsvollen, aber vollbewußten Verfahrens, die ererbten Gebetemassen, zum Theil auch in wohlgelungenen Versen, zu verdeutschen, veraltete und überlebte zu beseitigen, neuzeitlich gedachte und strophische Lieder als Ersatz einzuschieben. Einen so weiten Schritt wie sein Berufs- und Gesinnungsbruder Ludwig Philippson wagte und wollte er freilich nicht thun, der schon ein Jahrzehnt vorher ein fast rein deutsches „Neues Israelitisches Gebetbuch für die Wochentage, Sabbathe und alle Feste zum Gebrauche während des Gottesdienstes und bei der häuslichen Andacht“ (1864) verfaßt, bezw. aus den alten, endlos sich wiederholenden Litaneien zurechtgestutzt hatte. Während sich Goldschmidt’s zweibändige Leistung noch heute im Cultusgebrauche befindet, ist der eben erwähnte radicale Versuch als gescheitert zu betrachten, obwohl diese Philippson’sche Arbeit einen Band der „Schriften, herausgegeben vom Institute zur Förderung der israelitischen Litteratur“ bildet, die unter der Leitung der Rabbiner Drr. Philippson, Goldschmidt und Herzfeld eine ganze Reihe von Jahren belletristische, wissenschaftliche und kirchliche Novitäten brachten; G. hat zu dieser Sammlung, die schon vor seinem Eintritte in Leipzig und die Redaction bestanden hatte, nichts eigenes beigesteuert. – Die „Gedenkblätter zur Erinnerung an Rabbiner Dr. A. M. Goldschmidt. Herausgegeben von dem Vorstande der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig“ (Privatdruck 1889) enthalten außer andern, mehr conventionellen Ansprachen anläßlich des Todes, S. 7–43 „Rabbiner Dr. A. M. G. Eine biographische Skizze von Henriette Goldschmidt“ (unsere Hauptquelle), S. 49–62 die Trauerfeier-Rede des Rabbiners Dr. N. Porges (darin S. 57 die oben citirte Stelle), S. 72–78 ‚Ein Gemeindemitglied‘ „Dr. G., der Lehrer und Geistliche“. – Den Stoff zu einem Lebens- und Charakterbilde genau zusammenzutragen hat niemand unternommen; für das Bibliographische fehlt jede Unterlage. Eigene Leipziger Jugenderinnerungen. Vgl. Abr. Geiger’s Nachgelass. Schriften V (1878), S. 269, 294 f.; K. W. Whistling i. Notizen i. Lpz. Tagebl. nach G.s Tod.