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Artikel „Girtanner, Christoph“ von Ferdinand Frensdorff, August Hirsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 189–191, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Girtanner,_Christoph&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 16:21 Uhr UTC)
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Girtanner: Christoph G., geb. am 7. Novbr. 1760 in St. Gallen, gest. (nach dem Nekrol. in Salzb. med. chir. Zeitschr. 1800 II. Nr. 47 S. 367) am 17. Mai 1800 zu Göttingen. Sohn eines Kaufmanns, bezog er 1780 die Universität Göttingen, um Medicin zu studiren, wurde 1783 promovirt und ließ sich als praktischer Arzt in seiner Vaterstadt nieder. Nach Reisen durch die Schweiz und Frankreich, über welche er naturhistorische und medicinische Beobachtungen veröffentlichte, und einem längeren dem Studium der Chemie gewidmeten Aufenthalte in Edinburg, kehrte er 1787 nach Göttingen zurück, wo er sich 1789 als Arzt bleibend niederließ, ohne daß er je, wie man zuweilen angegeben findet, in eine amtliche Beziehung zur Universität gekommen wäre. Seine Thätigkeit war vielmehr eine ausschließlich schriftstellerische. Sie galt nicht nur seinen Berufsfächern, der Medicin und Chemie, sondern seit Ausbruch der französischen Revolution mit besonderer Vorliebe der Politik. In leichter bequemer Darstellung schrieb er Jahre lang Berichte über die Vorgänge in Frankreich und deren Einwirkung auf die Nachbarländer, unterstützt durch Beobachtungen, die er kurz vor dem Ausbruch der Revolution auf einer erneuten Reise durch Holland und einem Aufenthalte in Paris gesammelt hatte. Er begann im J. 1791 mit den „Historischen Nachrichten und politischen Betrachtungen, über die französische Revolution“, von denen er bis zum J. 1797 dreizehn Bände veröffentlichte, welche die Geschichte der französischen Staatsumwälzung bis in [190] den Juni 1793 begleiteten. Nach seinem Tode besorgte Buchholz die Fortführung. Seit dem Jahre 1793 ließ er zugleich „Politische Annalen“ erscheinen, allmonatlich zwei Hefte, Darstellungen und Actenstücke zur Zeitgeschichte enthaltend. Dem Stoffe nach stehen damit in engstem Zusammenhange: „Schilderung des häuslichen Lebens, des Charakters und der Regierung Ludwig XVI.“ (1793) und die von ihm mit Anmerkungen begleitete Herausgabe einer Uebersetzung von Dumouriez’ Denkwürdigkeiten (1794), die eine Lettre du général Dumouriez au traducteur de l’histoire de sa vie (1795) hervorrief, worauf eine Lettre au général Dumouriez par Christophe Girtanner (1795) antwortete. Alle diese journalistischen Arbeiten, mit und ohne Buchform, wiegen nicht schwer, haben aber doch dem Verfasser einen hervorragenden Platz in der damaligen Schriftstellerwelt verschafft, ihm die Ernennung zum herzoglich sachsen-koburg-salfeldischen geheimen Hofrathe eingetragen und sind insofern nicht ohne Verdienst, als sie der Verherrlichung der französischen Revolution möglichst entgegenwirkten. – Neben dieser Fruchtbarkeit als politischer Schriftsteller geht eine kaum geringere Productivität als Mediciner einher.

Als Arzt und Chemiker zeichnete sich G. durch nicht gewöhnliche Naturanlagen, durch eine, wenn auch nicht tief gehende, doch viel umfassende Bildung und großen Fleiß aus, diese glänzenden Eigenschaften wurden aber verdunkelt durch seine Eitelkeit, welche ihn mehrfach dazu verführte, sich fremde Leistungen in gewissenloser Weise anzueignen und fremde Verdienste für sich auszubeuten, durch sein stürmisches, rücksichtsloses Auftreten, wenn es sich darum handelte, seiner Ansicht Geltung zu verschaffen, durch den Leichtsinn in der Aufstellung mangelhaft begründeter Hypothesen, welchen er durch Eleganz im Ausdrucke und Gewandtheit in der Form den Schein der Wahrheit zu geben wußte, und durch die Hartnäckigkeit, mit welcher er trotz gründlicher Widerlegung seiner Ansichten Seitens seiner Gegner auf den begangenen Irrthümern beharrte. „Noch nie“, sagt ein Kritiker über ihn ironisirend, „hat ein Mensch auch in der längsten Lebensperiode, so viel Neues gesagt, so viel erfunden und entdeckt, als Herr Girtanner in wenigen Jahren“ und wenn er auch, besonders im Anfange seiner schriftstellerischen Thätigkeit viele durch die Sicherheit seines Auftretens geblendet hat, so wandten sich die meisten seiner Zeitgenossen doch bald von ihm ab. Von seinen medicinischen Schriften (vgl. ein ziemlich vollständiges Verzeichniß dieser und seiner chemischen Arbeiten im Dict. hist. de la méd. Tom. II. Part. II. p. 559) sind vorzugsweise zu nennen: „Abhandlungen über die venerischen Krankheiten“, 3 Bde., 1788–89. 2. Aufl. 1793. 3. Aufl. 1797 (hier vertritt G. u. a. die Ansicht von dem amerikanischen Ursprunge der Syphilis, und zwar gestützt auf die abenteuerlichste Fabel und mit heftiger Polemik gegen Hensler, während er in der 2. Auflage zwar sein Bedauern über den Ton, in welchem er diesem würdigen Gelehrten entgegen getreten ist, ausspricht, auch zugiebt, daß einige erhebliche Gründe gegen seine (Girtanner’s) Ansicht sprechen, dennoch aber bei seiner zuerst ausgesprochenen Behauptung verharrt) und „Ausführliche Darstellung des Brown’schen Systems der praktischen Heilkunde etc.“, 2 Bde. 1797–98. – Das der Veröffentlichung dieser Arbeit vorhergehende Verfahren Girtanner’s, so wie die Arbeit selbst geben ein drastisches Bild der Charaktereigenthümlichkeiten des Mannes. Während seines Aufenthaltes 1789 in Edinburg war er mit der eben damals neu entwickelten Lehre Brown’s bekannt geworden, und nach seiner Rückkehr nach Deutschland nahm er keinen Anstand, diese Lehre (in Rozier, Journal de physique, 1790. Vol. XXXVI. Tom. I p. 422 und Tom. II p. 134), allerdings mit einer gewissen Modification und Erweiterung vorzutragen, ohne Brown’s mit einem Worte zu gedenken; daß er sich dabei den Schein geben wollte, der Erfinder des Systems zu sein, geht unwiderleglich daraus [191] hervor, daß er im folgenden Jahre in einer in den Göttinger Nachrichten gegebenen Notiz erklärte, sein System hätte in Edinburg Aufsehen erregt und großen Anklang gefunden. Erst Weikard deckte im J. 1795 das Plagiat auf und aus den daraus hervorgegangenen Streitigkeiten sind die deutschen Aerzte mit dem Brownianismus eigentlich erst bekannt geworden. In der „Darstellung des Systems“ aber entwickelt G. seine Ansichten an einer Kritik der Lehre Brown’s und schließt mit den Worten: „Nunmehr, nachdem ich meinen mächtigen Gegner durch die Waffen der Vernunft bekämpft, und ihn so zu Boden geworfen habe, daß er nicht wieder aufstehen kann, trete ich mit dem angenehmen Gefühle des Siegers vom Kampfplatze ab und hänge, gleich den Gladiatoren des alten Roms, meine Waffenrüstung auf.“ – Außer diesen beiden Schriften hat G. noch zwei größere, gleichgeartete Werke „Abhandlung über die Krankheiten der Kinder und über die physische Erziehung derselben“, 1794 und „Ausführliche Darstellung des Darwin’schen Systems der praktischen Heilkunde“, 2 Bde. 1799 veröffentlicht. – Denselben Charakter, wie diese medicinischen Arbeiten, tragen auch seine chemischen Leistungen, das Verdienst aber kann ihm nicht bestritten werden, daß er nächst Hermbstädt der Erste gewesen ist, der die deutsche Gelehrtenwelt mit dem antiphlogistischen Systeme Lavoisier’s (in „Anfangsgründe der antiphlogistischen Chemie“, 1792. 2. Aufl. 1795) bekannt gemacht hat; doch auch in diesem Werke macht er sich zahlreicher willkürlicher Behauptungen und Irrthümer schuldig und zeigt sich weniger bestrebt, die Wissenschaft durch solide Untersuchungen zu fördern (so erklärt er u. a., daß aus dem Zusammentreten von Wasserstoff und Sauerstoff in verschiedenen Mengen Stickstoff, Salzsäure und Phosphor hervorgehe) als durch originelle Ideen zu glänzen.

Ersch und Gruber I. 68. S. 225. Schlosser, Gesch. des 18. Jahrh. III. S. 266.