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Artikel „Girgensohn, Christoph Heinrich Otto“ von N. Girgensohn. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 187–189, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Girgensohn,_Otto&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 11:02 Uhr UTC)
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Girgensohn: Dr. Christoph Heinrich Otto G., ein Sohn des Propstes des wendischen Kreises in Livland Christoph Reinhold G., ist geboren auf dem Pastorat zu Neu-Pebalg den 12. Novbr. 1796. Nachdem er die Wendensche Kreisschule durchgemacht, besuchte er die Gymnasien zu Wyborg und Dorpat und studirte in Dorpat Theologie von 1814 bis 1816, wurde dann, weil der Vater gestorben, Hauslehrer und konnte erst von 1818 bis 1819 sein Studium vollenden. Obwol damals die Professoren der Theologie in Dorpat meist dem Rationalismus huldigten und auch als Männer der Wissenschaft den jungen Theologen wenig boten, arbeitete er mit eisernem Fleiße, so daß er gleich nach bestandenem Examen von dem damaligen General-Superintendenten Dr. Sonntag nach Oppekala Pastorat empfohlen, schon den 30. Novbr. 1819 zum Pastor zu Oppekala im walkschen Kreise Livlands ordinirt wurde. Hier machte er gleich in den ersten Amtsjahren die denkwürdige Zeit der Freilassung der Bauern aus der Leibeigenschaft durch, und es wurde die am 12. März 1820 in Bezug auf die Freilassung von ihm gehaltene Predigt in den Druck gegeben. Wie er treu in seiner wissenschaftlichen Arbeit auf dem Pastorat blieb, so nahm er es auch genau mit der Sprache, in der er zu predigen hatte. Schon 1830 erschien eine ausführliche Recension von Rosenberger’s Formenlehre der lettischen Sprache, nachdem er 1828 Mitglied der lettisch-litterarischen Gesellschaft geworden war, und er wurde Mitarbeiter an dem neuen lettischen Gesangbuch. Nach 14jähriger Amtswirksamkeit lenkte er die Augen der Prediger des walkschen Kreises so auf sich, daß er den 14. Mai 1834 zum stellvertretenden Propst erwählt wurde. Als er nach des Prof. Walter Tode von den Professoren der Universität Dorpat auch als Candidat für die Professur der praktischen Theologie aufgestellt, später aber Dr. Ulmann erwählt wurde, creirte ihn die Universität zu Königsberg am 17. April 1835 zum Doctor der Philosophie. Nachdem er mehrere litterarische Arbeiten auf dem Gebiete der theologischen Wissenschaft in verschiedenen Zeitschriften kritisch beleuchtet hatte, gab er einen „Beitrag zur Verständigung über die wahre Geltung unserer kirchlichen Bekenntnißschriften und über die rechte Art sie zu vertheidigen und ihnen treu zu bleiben“, heraus, wodurch Dr. Sartorius veranlaßt wurde, über die unverbrüchliche Geltung der kirchlichen Glaubenssymbole zu schreiben. Hatte er sich auf dem praktischen Felde seiner pastoralen Thätigkeit namentlich durch treue Predigt des Evangeliums und durch treue Arbeit an der Hebung der Volksschule in dem engeren Kreise seines Pfarrbezirkes einen Namen gemacht, so zog er durch seine litterarische Thätigkeit die Blicke der fernerstehenden Amtsbrüder und Landsleute auf sich. Während er aber bisher still und wie in den Bergen Livlands versteckt auf seiner kleinen Pfarre seiner Theologie und seinem Amte lebte, wurde er am 19. Septbr. 1835 zum Pastor nach Marienburg in Livland, einer der größten Pfarren, berufen und im November d. J. daselbst introducirt. Im darauffolgenden Jahre wurde er auch zum wirklichen Propst ernannt. In diese Zeit nun fällt die Einführung des neuen Kirchengesetzes und der jährlichen Synoden. Hier war ein neues Feld der Wirksamkeit für ihn geschaffen. Auf den ersten [188] Synoden platzten die Geister mächtig auf einander und es war für die Kirche Livlands eine wahre Sturm- und Drangperiode angebrochen. Es brach das helle Licht des Evangeliums durch die Nacht des Rationalismus herein und unter dem Vorgang der Professoren Dorpats arbeitete sich die Geistlichkeit Livlands, die Synoden als Kampfstätten benutzend, wo zuerst der Rationalismus und Supranaturalismus, dann der Pietismus und Herrnhutismus dem Väterglauben, der evangelisch-lutherischen Kirchenlehre weichen mußte, zu einer kirchlichen Stellung hindurch. In alle diese Kämpfe mit hineingezogen, hat er allenthalben mit seinem tiefen Wissen und ernsten Streben sich hervorgethan. 1840 im September wurde er zum Assessor des livländischen evangelisch-lutherischen Consistorii in Riga ernannt. In eine neue Sphäre der Arbeit trat er hier ein, und kaum hatte er sich in die rechtliche Stellung der evangelisch-lutherischen Kirche hineingearbeitet, da brach ein Kampf los, in den er auch mit hineingezogen wurde, der ihm tief ins Herz schnitt: es war der Kampf der lutherischen Kirche wider die Propaganda der griechisch orthodoxen Kirche. Schwer war es den plötzlichen Abfall eines großen Theiles der Nationalen zu verstehen; aber so viel stand ihm fest und wurde von ihm im Kampfe immer hervorgehoben, daß nicht so sehr in der Kirche, sondern vielmehr in der politischen Stellung der Bauern in Livland der Grund zu dieser Erscheinung zu suchen sei. Der Rationalismus sowohl wie der Pietismus hatten allerdings die Bauern nicht kirchlich gezogen und insofern muß die Kirche eine gewisse Schuld auch treffen, aber auf Seiten der politischen Stellung der Bauern fanden sich noch größere Uebelstände. Zuerst schmachteten die Bauern unter dem Druck der Leibeigenschaft, und obwol von den Predigern für die Bildung der Bauern gesorgt wurde, so half das doch wenig, da dieselben bei ihren Bestrebungen keine rechte und nachhaltige Unterstützung fanden, woher die Bauern in einer geistigen Unmündigkeit sich befanden, die auch ihren Rückschlag auf ihr Glaubensleben und ihren Bekenntnißstand haben mußte. Allerdings wurden sie durch die Freilassung von 1819 anders gestellt, aber die Gesetze schnürten ihre Freiheit ein und je mehr die Gesetze im Laufe der Jahre den Vortheil des deutschen Herrn im Auge hatten, desto mehr nahm auch der Geist der Unzufriedenheit überhand. Dazu kam noch eine Hungersnoth am Anfang der 40er Jahre und von Seiten der russischen Emissäre Vorspiegelungen, die den Bauern bessere Zeiten, namentlich eigenes Land verhießen, wenn sie zur griechischen Kirche übertreten würden. Alle diese Ereignisse trieben zu einer noch angestrengteren Thätigkeit. Vor allen Dingen nahm er sich seiner großen Gemeinde nun noch mehr an, erwählte sich Gehülfen, die die Leute darüber aufklären sollten, daß mit dem Religionswechsel durchaus keine Veränderung in ihrer ökonomischen Lage ihnen erwachsen würde, fing selbst an die Herrnhutischen Bethäuser zu leiten, schrieb „Ueber die Stellung der Brüdergemeine in den Ostseeprovinzen“ und suchte auf die Eingepfarrten seinen ganzen Einfluß geltend zu machen, daß die Schulen noch mehr gehoben würden und den Bauern eine freiere und bessere Stellung gegeben werden möchte. Bei einer Gemeinde von 17000 Seelen gab es der Arbeit die Fülle, namentlich da bei der Kirche zuerst im Gasthause und darauf im Flecken ein griechischer Geistlicher sich mit seinem Gefolge niedergelassen hatte, der die Leute mit allerlei Vorspiegelungen und Versprechungen zur Firmung überredete. Aber nicht nur in seiner Gemeinde, sondern auch im Consistorium, auf der Synode und vor den weltlichen Behörden, ja selbst[WS 1] mit directen Eingaben an die höchsten Autoritäten arbeitete er unermüdlich den Emissären der griechischen Kirche entgegen. Die Frucht aller Mühen war endlich die Anzeige vom General-Gouvernement, daß wenn er noch weiter sich den Anordnungen der Obrigkeit widersetzen werde, er von seinem Posten entfernt werden würde. Durch eine schon Jahre lang [189] andauernde unausgesetzte patriotische Thätigkeit und durch diesen das Innerste seines Herzens bewegenden Kampf müde gemacht, sehnte er sich darnach einer jüngeren Kraft diese Arbeitslast übergeben zu können. Da bekam er aus der benachbarten Provinz, aus Reval, eine Vocation zum Oberpastor an der St. Olai-Kirche, während ein junger und tüchtiger Pastor aus Curland sich bei ihm zur Uebernahme der Pfarre Marienburg meldete. Gottes Führung hierin erkennend, entschied er sich nach Reval überzusiedeln. Am 29. Mai 1847 wurde er in Reval introducirt. Hier erwartete ihn eine ganz andere Arbeit. Während er in Livland zuletzt vorzugsweise mit der griechischen Invasion zu thun hatte, mußte er hier die Kirche, die durch innere Kämpfe zerrissen, leiten und in ihrer rechten Stellung befestigen. Es war durch den in den 30er Jahren aufs Neue auftretenden Pietismus ein Kampf mit dem Rationalismus entbrannt, der eigentlich von der ganzen Stadt beinahe gegen eine kleine Partei, an deren Spitze der hochbegabte und bedeutende Prediger von St. Olai A. Huhn stand, geführt wurde. In dieser Zeit starb der alte Superintendent Mayer und G. wurde zum Nachfolger erwählt und am 12. Mai 1849 zum Superintendenten der Stadt Reval und zum Vice-Präsidenten des Stadt-Consistoriums introducirt. Er gab nach vielen Kämpfen dem Stadt-Consistorium die richtige selbständige Stellung und wirkte in der Stadt durch seine Predigten und Bibelstunden auf seine Gemeinde, auf der Synode durch seine wissenschaftlich durchgebildete Persönlichkeit und auf die ganze Stadt durch seine patriotische Gesinnungstüchtigkeit ein und söhnte so die schroff einander gegenüberstehenden Parteien immer mehr mit einander aus. So stand er treu seinem Amte in Reval 22 Jahre vor. Er erwarb sich die Liebe der Städter, die Anerkennung der Vorgesetzten, wurde mit dem goldenen Brustkreuze für Prediger 1849 belohnt, erhielt 1858 den St. Stanislausorden 2. Classe und das Bronce-Brustkreuz für den Krieg von 1853–56, den St. Annen-Orden 2. Classe und zuletzt noch den Wladimir-Orden, und zum 50jährigen Amtsjubiläum hatte ihn die Universität Dorpat zum Doctor der Theologie ernannt. Vor diesem Tage graute ihm, und gerade 8 Tage vorher, am Todtenfeste, nachdem er über Hebr. 4, V. 9–11 am Vormittage noch gepredigt hatte, machte ein Herzschlag im Kreise der Seinen seinem Leben ein Ende. Er starb am 23. November 1869.

N. Girgensohn.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sebst