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Artikel „Dedekind, Friedrich“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 5 (1877), S. 12–15, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Dedekind,_Friedrich&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 03:14 Uhr UTC)
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Dedekind: Friedrich D., lateinischer und deutscher Dichter. Geb. zu Neustadt an der Leine als Sohn eines Fleischers; studirte in Wittenberg, wo er 1550 Magister wurde und noch 1552 verweilte. Später war er Pastor in seiner Vaterstadt, 1575 kam er nach Lüneburg als Pastor zu St. Michael und Inspector über alle Kirchen im Bisthum Lübeck. Er starb am 27. Februar 1598. Seinen litterarischen Ruhm hat er schon vor erlangtem Magisterium gegründet durch den lateinischen „Grobianus“ (1549); und die übrige Laufbahn des Schriftstellers geht in absteigender Linie. Wenn er die Sprüchwörter Salomo’s in lateinische Distichen, den Katechismus Luther’s in lateinische Jamben brachte, so mochte ihm das vielleicht die Mitwelt, gewiß nicht die Nachwelt danken. Auch seine deutschen Dramen: „Der christliche Ritter“ (1576, dann 1590) und „Der bekehrte Katholik“ (Papista conversus 1596) verdienen den Beifall nicht, den sie in älterer und neuerer Zeit gefunden haben.

Der „christliche Ritter“ ist 1604 durch den Rector Johannes Bechmann zu Braunschweig neu herausgegeben und erweitert worden; unter anderm hat er plattdeutsche Bauernscenen eingefügt, die er zum Theil aus einer Komödie des Omichius (Damon und Pythias 1578) schöpfte. Das Stück bedurfte gar sehr einer Auffrischung durch dramatisch wirksamere Scenen. Zu Grunde liegt eine Stelle des Epheserbriefs: „Ziehet die Rüstung Gottes an, um bestehen zu können gegen die Listen des Teufels.“ Paulus beschreibt die Rüstung, den Gürtel der Wahrheit, den Panzer der Gerechtigkeit, den Schild des Glaubens u. s. w. Erasmus hatte unter Anknüpfung hieran sein Enchiridion militis christiani verfaßt; und Alexius Bresnicer (s. diesen) brachte die Sache 1553 in ein Drama: diesem folgte D. Sein Ritter erfährt, daß die Welt alle seine Laster kennt, er will sich bekehren; ein Pharisäer und ein Franciscaner rathen ihm äußere Werkheiligkeit, Moses macht ihm die Hölle heiß mit der Strenge des Gesetzes, sein Gewissen wacht auf und vermehrt diese Qualen: aber Paulus gibt den Trost, daß Christi Tod auch ihn erlöst habe; Glaube, Hoffnung und Liebe finden sich bei ihm ein. Die Hölle, welche dieser Beute schon sicher zu sein glaubte, verschwört sich, ihn zu verderben. Die Seinigen rüsten ihn aus zum Kampfe, den er im fünften Act siegreich besteht gegen Unglauben Securitas, Praesumptio, gegen die Zechbrüder Heluo und Lurco, gegen die Pharisäer und Franciscaner, gegen Voluptas, Desperatio, Impatientia, schließlich gegen die obersten Teufel selbst. Zwischen den allegorischen und nichtallegorischen Personen, die sich um ihn streiten, macht der Ritter manchmal eine etwas traurige Figur. Das Thema konnte, auch mit den Mitteln des 16. Jahrhunderts, viel wirksamer behandelt werden. Aber der Verfasser hat alles auf die erbauliche Tendenz bezogen und die unbefangene praktische Ausführung vernachlässigt. Er sagt in der Vorrede, er habe „die Affection, Aenderung des Gemüths“ ausdrücken wollen: das ist ihm aber nicht gelungen.

Noch schwächer ist der in hohem Alter geschriebene „Papista conversus“: Petrus, der vom Engel aus dem Gefängniß geführt wird, ins 16. Jahrhundert übersetzt. Simon ist ein Katholik und eifriger Marienverehrer, den Luther und Melanchthon für den rechten Glauben gewinnen und der dafür durch Schuld seiner widerstrebenden Frau – sie ruft ihren Vater und Bruder, diese den [13] Pfarrer, der Pfarrer den Bischof herbei – alle Noth eines Ketzers erduldet und ohne die unmittelbare Intervention des Himmels dem Märtyrertode anheimfallen würde. Auch hier höchst mangelhafte Technik. Die Satire gegen den Papismus nicht schlecht, aber ohne Schärfe und etwas ärmlich; die Scenen, in denen es um Tod und Leben geht, flüchtig und matt; die innere Verkettung der Begebenheiten gering und oft gar nicht vorhanden. Das Stück gibt fast nur eine Reihe von Belehrungen, Katechesen, Disputationen, die sich alle um einen Punkt drehen: es wird darin, wie D. selbst bemerkt, „kürzlich wiederholet die Summa und Inhalt unser christlichen Religion und reiner Lutherischen Lehr“. Diese didaktische Brauchbarkeit bestimmte noch einen schweizerischen Dichter des 17. Jahrhunderts, beide Dramen Dedekind’s mit anderen zu einer Trilogie zu verarbeiten, worin die Noth und Rettung Simons auf den christlichen Ritter übertragen wird.

Es ist ein merkwürdiges, aber nicht vereinzeltes Phänomen, daß ein anscheinend so talentloser Dichter wie D. in seiner Jugend eines der poetischen Hauptwerke unseres 16. Jahrhunderts geschrieben hat. Der „Grobianus“ ist nicht so einflußreich wie das „Narrenschiff“, aber er ist mehr charakteristisch für die Zeit und für Deutschland. Die Gestalt des „Grobianus“ ist in ihrer Art ebenso bedeutsam wie die Gestalt des „Faust“. Wenn diese den tiefsten, so verewigt jene den häßlichsten Zug der Epoche, ihr unfläthiges Wesen, ihre wüste Roheit, ihre weitverbreitete Verachtung der feineren Umgangsformen, ihre dreiste Art mit Frauen zu verkehren.

Der Grobianer steht nach D. nicht vor 12 Uhr auf, er gibt niemand guten Morgen – damit ihm niemand zu danken brauche und weil ja solche Wünsche doch nichts helfen. Gähnend reckt er seine Glieder; die stärksten Unvollkommenheiten seiner Toilette stören ihn nicht; die Haare läßt er wild wachsen; Gesicht oder Hände zu waschen hält er für eine Schande; seine Zähne zu putzen weigert er sich und läßt sie gelb sein wie Safran, ist doch gelb auch das Gold, das alle Welt liebt. Der Grobian hütet sich sorgfältig vor Bescheidenheit und Höflichkeit. Er putzt die Nase nicht, er läßt ihr lieber ihren natürlichen Schmuck, den Goldringen und Edelsteinen vergleichbar, welche die Indier darin tragen. Aber weil man Maaß halten soll in allen Dingen, so treibt er das nicht weiter als bis der Mund in Mitleidenschaft gezogen wird. Jedoch er schneutzt sich, er schnauft, er hustet, er niest möglichst laut, möglichst sichtbar, möglichst empfindlich für die Mitbewohner des Hauses. Den Functionen und Wechselfällen der gehinderten oder erleichterten Verdauung thut er keinerlei Zwang an. Scham und Anstand in der Rede zu beobachten, ist gegen die Natur. Wenn ein anderer etwas neues erzählt, so horcht er mit offenem Munde und lacht so laut, daß man es auf der Straße hört.

Das sind nur einige probeweis herausgegriffene Fragmente des lieblichen Bildes, daß uns D. entrollt. Auch er bedient sich keiner vorsichtigen Verhüllungen des Ausdrucks, wie sie hier angewendet werden, sondern nennt alle Dinge bei ihrem natürlichen Namen. Der Hauptaccent fällt auf das unfläthige Benehmen bei Tische.

Als im 12. und 13. Jahrhundert sich die Deutschen unter der sanften Zucht der Frauen an bessere Manieren gewöhnten, da wurden Sittlichkeit, Sitte und Anstand auch in Versen gelehrt. Specielle Anweisungen der Tischzucht kommen damals wie noch im 16. Jahrhundert vor. Die rohe Lustigkeit des 15. Jahrhunderts drehte die Sache ironisch um und gab Vorschriften zur Unanständigkeit. Die Sittenlehren des Cato wurden so parodirt (Zarncke, Der deutsche Cato, S. 143). Als dann Sebastian Brant die Narren der Zeit auf sein berühmtes Schiff lud, da konnte er die groben Narren nicht übergehen: Glimpfius ist leider todt, die Sau hat die Krone auf, und ein neuer Heiliger, Sanct Grobian, den [14] will jetzt feiern jedermann. Thomas Murner und Andere verbreiten diese glückliche Bezeichnung, und 1538 schreibt ein W. S. (Wilhelm Salzmann? vermuthet Goedeke) ein prosaisches Büchlein: „Grobianus Tischzucht bin ich genannt, den Brüdern im Säuorden wohlbekannt.“ An ihn schließt sich D. Er gibt sich den Anschein, als wolle er die harmlose Einfalt ursprünglicher Sitten lehren; er lobt diejenigen, die das Urtheil der Menge verachten; und statt der Weisen ruft er an den Silvanus und die Faune, den Bacchus und die alma Rusticitas nostro Dea maxime seclo.

Die Form der durchgeführten Ironie, die sich stellt, als wenn sie das roheste für das schönste hielte, hat er von seinen Vorgängern überkommen. Er verfehlt auch auf den heutigen Leser nicht eine gewisse Wirkung. Man staunt über die Erfindsamkeit im schmutzigsten Stoff, obschon gelegentlich Ekel aufsteigt. Bei den schlimmsten Streichen ertheilt der Autor seinem Schüler mit komischer Feierlichkeit die Versicherung: so wirst du dich unfehlbar vor allen Menschen beliebt machen. Doch bekommt die Sache bald etwas eintöniges. Das Material ist schlecht geordnet, vieles wiederholt sich; geistreiche philosophische Motivirungen für die ironischen Präcepte sind leider nicht häufig eingestreut; auch Geschichten werden nur selten erzählt, und beiläufige culturhistorische Belehrungen wie über die besten Biersorten (I, 8) oder über Schwarzbrod und Weißbrod (II, 1) begegnen nur ganz vereinzelt. Eins der hübschesten Capitel behandelt die Tischgespräche: wie einer Liebesgeschichten erzählt, der Soldat von Schlachten, der Jäger von Hunden redet; wie dann sich Meinungsverschiedenheiten erheben, hier über die Seelenwanderung, hier über Naturwunder, hier über Politik; wie es von Worten zu Thätlichkeiten kommt: die Anlage zu einer guten Satire ist gemacht, es fehlt nur die feste ausführende Hand.

Der Charakter der Tischzucht überwiegt: als ob eine solche nur erweitert worden wäre. Die erste Ausgabe (1549) hatte zwei Bücher, in dem ersten ist der Grobianus als Sohn des Hauses oder als Diener gedacht, der bei Tische zu serviren hat; im zweiten ist er entweder selbst Gast oder empfängt Gäste. Gleich bei dem Erscheinen des Buches wurden deutsche Uebersetzungen versprochen, nur eine wohlgelungene von Kaspar Scheidt in Worms kam wirklich zu Stande 1551. Scheidt’s Vermehrungen benutzte zum Theil und fügte der zweiten Auflage seines Werkes ein drittes sehr gemischtes Buch hinzu (1552). In der dritten Ausgabe (1554) ist dann dem Grobianus die Grobiana beigesellt, ein besonderes Capitel mit grobianischen Vorschriften für die Mädchen, wie sie dreist umherblickend, stark decolletirt und mit stark aufgehobenem Kleide über die Straße gehen, öffentlichen Schaustellungen nachlaufen, den Männern entgegenkommen, männlichen Gelagen beiwohnen und sich an dem vielen, was sie da sehen und hören können, ein Beispiel nehmen sollen. Auch der ewige Krieg der Frauen und Flöhe wird kurz geschildert, den Fischart später in der „Flöhhatz“ mit so großem Erfolge dargestellt hat.

Diese letzte Gestalt des Grobianus suchte, auf Grundlage der Arbeit von Scheidt, Wendelin Hellbach deutsch wiederzugeben (1567). Eine prosaische Fassung ging neben her (niederdeutsch 1583). Ein deutscher Grobianus von Georg Werner ist verloren. Wenzel Scherffer gab eine Bearbeitung in Alexandrinern (1640) und deren letzte Ausgabe (1708) bekundet schon durch den Titel „Der unhöfliche Monsieur Klotz“ die wieder höflich gewordene Zeit. Aber noch 1739 erschien eine englische Uebersetzung des lateinischen Textes. So lange hat der Geist Friedrich Dedekind’s auf die Nachwelt gewirkt.

Moller, Cimbria litterata II, 160 s. Jöcher. Flögel, Geschichte der komischen Litteratur III, 309–317. Goedeke in der Zeitschr. des historischen Vereins für Niedersachsen 1852, S. 370–385; Every-man S. 93–102 [15] 221–222; Grundriß S. 330 f. 366. Wackernagel, Fischart 105. 110. Berner Hs. (Mitth. von L. Hirzel). Bei Jördens u. A. Verwechselung mit Constantin Christian Dedekind (s. o.).