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Artikel „Balduin IX.“ von Franz Xaver von Wegele in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 9–11, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Balduin&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 17:43 Uhr UTC)
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Balduin IX., Graf von Flandern und Hennegau, geb. 1171, † 1205, Sohn Balduin VIII., unter welchem die Grafschaft Flandern durch Erbschaft an die Grafen von Hennegau gelangte. Vermählt mit Maria, der Tochter des Grafen Thibaut II. von Champagne, der Nichte K. Philipp Augusts von Frankreich, folgte er seinem Vater im J. 1195 in der Herrschaft nach. Er zählt zu den ruhmvollsten Persönlichkeiten seiner Epoche und wird von den zeitgenössischen Chronisten als ein in jeder Beziehung vortrefflicher Fürst geschildert, hervorragend [10] durch hohe Regententugenden, strenge Sittlichkeit und echten religiösen Sinn. Seine politische Stellung war durch das doppelte Lehensverhältniß zur Krone Frankreich und zum deutschen Reich an sich keine leichte, und überdieß durch den Umstand erschwert, daß die Krone Frankreich bei dem erwähnten vorausgegangenen Erbgange seinem Vater die Landschaft Artois mit allen von ihr abhängigen Lehen abgenommen hatte. So kam es, daß B. in dem Conflicte zwischen K. Philipp August und K. Richard von England für letzteren gegen seinen Lehensherrn Partei nahm und in dem sogenannten Frieden von Peronne (1199) wenigstens einen Theil von Artois erhielt. In dem deutschen Thronstreit zwischen Philipp von Schwaben und Otto von Braunschweig hat er die Sache des Staufers ergriffen. Von besonderer Wichtigkeit ist seine gesetzgeberische Thätigkeit für Hennegau und die im J. 1200 von den Baronen der Grafschaft in der Form eines „Friedens“ beschworenen Rechtsstatute lehensrechtlichen und criminalistisch-processualistischen Inhaltes geworden. Diese seine Wirksamkeit hat sich aber auch auf Flandern erstreckt und ließ es doppelt bedauern, daß sie durch seinen Entschluß, sich dem Kreuzzug des J. 1202 anzuschließen, für immer unterbrochen wurde. Dieser Kreuzzug ist bekanntlich von P. Innocenz III. angeregt und in erster Linie von den Franzosen in das Werk gesetzt worden. Der Schwager Balduins, Graf Thibaut III. von der Champagne, war einer der ersten, die das Kreuz nahmen, B. mit einem guten Theil der flandrischen Ritterschaft folgte dem gegebenen Beispiele, und als Thibaut noch vor dem Aufbruche plötzlich dahinstarb, nahm er selber nächst dem Markgrafen Bonifacius von Montserrat im Kreuzheere mit die erste Stelle ein. Der Kreuzzug war ursprünglich gegen Egypten gerichtet, da sich, wahrscheinlich mit Recht, die Ueberzeugung geltend gemacht hatte, daß ohne dessen Besitz die Herrschaft in Syrien nie gesichert sein würde. Es ist aber bekannt, was für eine unerwartete und ganz andere Richtung das Unternehmen nahm, und daß es mit der Eroberung Konstantinopels (1203) und der Gründung des lateinischen Kaiserthums (1204) geendigt hat. An dieser Wendung der Dinge ist B. die erste Rolle zugefallen. Schon bei der Eroberung Konstantinopels hatte er sich zuerst durch Tapferkeit, dann durch Menschlichkeit ausgezeichnet; als aber der griechische, von den Kreuzfahrern begünstigte junge Kaiser Alexius durch Verrath umgekommen und der Verräther, der sich an seine Stelle gedrängt hatte, von eben denselben gestürzt ward und der Kaiserthron so erledigt war, beschlossen die abendländischen Sieger von den übrigen griechischen Prätendenten abzusehen und aus ihrer Mitte einen Kaiser zu erheben. Die Wahl fiel auf keinen Unwürdigen; am 26. Mai 1204 wurde B. zum Kaiser ausgerufen, und drei Wochen später durch den Legaten des Papstes in der Sophienkirche gekrönt. Das war ja vor Allem auch die Meinung der Sieger und Balduins voran, daß die Trennung der morgenländischen Kirche von der abendländischen fortan aufgehoben sein solle. Der neue Kaiser lag indeß nicht auf Rosen. Zunächst erfuhr er den Schmerz, daß seine Gemahlin, die dem Kreuzheere nachgezogen war und nun von Ptolemais nach Konstantinopel überfahren wollte, unterwegs schnell dahingerafft wurde. In das neuerworbene Reich mußte er sich mit den Venetianern, die allerdings einen guten Theil des Erfolges sich zuschreiben durften, und aber auch mit einer Anzahl von Großen des Kreuzheeres theilen, die sich unter dem Namen von Lehensfürsten der Sache nach selbständige Herrschaften in verschiedenen Provinzen des Reiches gründeten. Dazu kam der keineswegs vernichtete Widerstand der gestürzten älteren griechischen Dynastie, die in Nicäa, Trapezunt und Durazzo sich festsetzte, und endlich die Feindseligkeiten des Königs des bulgarisch-walachischen Reiches, Johannes, der ein Abhängigkeitsverhältniß zu den Lateinern, wie er in einem solchen zu den Griechen gestanden hatte, nicht mehr anerkennen wollte und jene Aufforderung mit einem Einfall im [11] griechischen Reich beantwortete. Die Lateiner erlitten bei Adrianopel eine empfindliche Niederlage und K. B. gerieth sogar in die Gefangenschaft seines Gegners, in welcher er, 34 Jahre alt, auf eine nicht einstimmig überlieferte Art umgekommen ist (1205). Sein Bruder Heinrich folgte ihm auf dem Kaiserthron nach, in Flandern und Hennegau beerbte ihn seine ältere Tochter Johanna, die sich mit dem Prinzen Ferdinand von Portugal vermählte. Bezeichnend ist es unter allen Umständen, daß 20 Jahre nach Balduins Tode ihm ein Doppelgänger erstand, der sich für den verstorbenen Kaiser ausgab und Flandern als sein rechtmäßiges Erbe in Anspruch nahm; der Betrüger erlitt einen schmachvollen Tod, aber sein Auftreten bezeugt, welchen tiefen Eindruck der echte Balduin auf seine Zeitgenossen und insbesondere in seiner Heimath gemacht hatte.

Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. I. – Wilken, Geschichte der Kreuzzüge, Bd. V. – Geoffroi de Ville-Hardonin, La conquête de Constantinople. (Neueste Ausgabe: Paris 1872, par M. Nat. de Wailly).