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Artikel „Baer, Seligmann“ von Bruno Baentsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 212–213, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Baer,_Seligmann&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 10:59 Uhr UTC)
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Baer: Seligmann B., geboren im J. 1825, † am 31. März 1897, galt mit Recht als einer der besten, ja innerhalb Deutschlands vielleicht als der gelehrteste Kenner der sog. Massora, d. h. jenes Complexes vielverzweigter und vielverschlungener jüdischer Traditionen, die sich auf Aussprache, Vocalisation, Punktation und Accentuation des überlieferten (sog. massoretischen) Textes des Alten Testamentes beziehen. B. hat nicht den üblichen gelehrten, akademischen Studiengang durchgemacht, der für die Beschäftigung mit derartigen gelehrten Dingen die selbstverständliche Voraussetzung zu sein scheint. Vielmehr mit keiner anderen Vorbildung ausgerüstet als der, welcher er zur Führung seines Amtes – er war Zeit seines Lebens Lehrer an der jüdischen Gemeinde zu Biebrich bei Wiesbaden – bedurfte, hat er sich als Autodidact mit unermüdlichem Fleiße und einer großen bewunderungswürdigen Energie in den riesenhaften und in vieler Beziehung so spröden Ueberlieferungsstoff hineingearbeitet und in zahlreichen Publicationen (vom Jahre 1852 an) seine von Jahr zu Jahr wachsende Meisterschaft in der Beherrschung desselben erwiesen. Eine gewichtige Förderung erfuhr er dabei von Franz Delitzsch in Leipzig, der sich nicht nur mit ihm zur gemeinsamen Herausgabe mehrerer Textausgaben alttestamentlicher Bücher verband, sondern der vor allem auch ihm die Verleger gewann, die ohne Vermittlung einer solchen Autorität wol kaum zu bewegen gewesen wären, die kostspielige Drucklegung der voraussichtlich nur ein kleines Publicum interessirenden Schriften Baer’s auf ihr Risico zu nehmen. Der Vermittlung von Franz Delitzsch ist es auch zuzuschreiben, daß die philosophische Facultät der Universität Leipzig den ohne Zweifel verdienten Gelehrten zu ihrem Ehrendoctor ernannte. Von den zahlreichen Schriften Baer’s sind naturgemäß die von ihm seit dem Jahre 1869 (bis 1890 gemeinsam mit Frz. Delitzsch) veranstalteten Textausgaben alttestamentlicher Bücher (Leipzig, Tauchnitz) die verbreitetsten und bekanntesten. Es erschien davon im J. 1869 die Genesis, 1872 Jesaias, 1875 [213] Hiob, 1878 die kleinen Propheten, 1880 die Psalmen (von denen er übrigens bereits 1861 eine erste [Lpz., Dörffl. u. Franke] und 1874 eine zweite Ausgabe [Lpz., Brockhaus] veranstaltet hatte, letztere unter Hinzufügung der in die Vulgata nicht recipirten lateinischen Uebersetzung des Hieronymus aus dem Urtext), 1880 die Proverbien, 1882 Daniel, Esra und Nehemia, 1884 Ezechiel, 1885 die fünf Megilloth (Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Pred. Salomo, Esther), 1888 die Chronik, 1890 Jeremia, 1891 Josua und Richter, 1892 die Samuelisbücher, 1895 die Königsbücher. Nicht bearbeitet sind demnach von ihm bloß die Bücher Exodus bis Deuteronomium geblieben. Aus dem Jahre 1866 stammt von ihm eine unpunktirte Pentateuchausgabe (Rödelheim, Lehrberger u. Comp.), die als Vorlage für Schreiber von Synagogenrollen gemeint war. Von den Früchten seiner massoretischen, namentlich auf die Accentologie der alttestamentlichen Bücher sich erstreckenden Studien sind folgende zu erwähnen: 1) seine Erstlingsschrift: „Torath Emeth sive liber et praecepta et doctrinam plenam perfectamque accentuum libr. psalm. proverb. et Jobi continens“ (in hebr. Spr.), Rödelheim 1852. Auf denselben Gegenstand bezieht sich 2) „Das Accentuationssystem der Psalmen, des Buches Hiob und der Sprüche“ (Beigabe zu Frz. Delitzsch, Commentar zu den Psalmen II, Lpz. 1860, 5. Aufl. 1895), wovon ein kurzer Auszug in Baer-Delitzsch: Liber Psalmorum (1861, 1874) 1880 p. IX–XII; 3) die wichtige Abhandlung über: „die Methegsetzung“ in Merx’ Archiv für wissenschaftliche Erforschung des Alt. Test., S. 55–67, 194 bis 207, Halle 1867, und endlich 4) die in Verbindung mit H. L. Strack veranstaltete Ausgabe der „Dikduke ha-teamim des Ahron ben Moscheh ben Ascher und andre alte grammatisch-massorethische Lehrstücke“, Lpz. 1879 (LXII, 95). Zu nennen sind ferner seine Bearbeitung der Massora in der Wilnaer Rabbinischen Bibel und seine zahlreichen Ausgaben jüdischer Gebetbücher, von denen namentlich die von „Abodath Israel“, die mit einem guten, besonders sprachlichen Commentar versehen ist, besondere Erwähnung verdient. In der Behandlung der Massora stand B. im Gegensatz zu dem ebenfalls bedeutenden Massoraforscher Ch. D. Ginsburg, dessen große Massoraausgabe (The Massorah compiled from Mss. etc., London 1880 u. folg. Jahre) er in der Zeitschr. d. Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1886, S. 743–758 in scharfer, zwar lehrreicher aber doch nicht ganz gerechter Weise (cf. Strack, Einl. in das Alte Test., 4. Aufl., S. 171) beurtheilte. Auf die Differenzpunkte kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur erwähnt, daß Ginsburg gegen die Baer’sche Behandlung der Massora besonders in seinem neuesten Werk: Introduction to the Massoretico-Critical Edition of the Hebrew Bible, London 1897 (wozu die Besprechung von L. Blau in Jewish Quarterly Review, Jan. 1900, S. 217 bis 254 zu vergleichen ist) mehrfach Stellung genommen hat. Von allen seinen Schriften werden nur die oben angeführten Textausgaben alttestamentlicher Bücher ein über die Fachkreise hinausgehendes Interesse in Anspruch nehmen dürfen. Hinsichtlich der Genauigkeit und Correctheit dürfen sie als Musterausgaben gelten. Besonders werthvoll sind die Anhänge mit dem bedeutenden, übersichtlich geordneten kritischen Apparat. Daneben fehlt es freilich auch nicht an einigen Besonderheiten, um nicht zu sagen Schrullen. Mit Recht wird ihm zum Vorwurf gemacht, daß er auf Künsteleien und Spitzfindigkeiten späterer Punktatoren (der sog. Naqdanîm) ein ungebührliches Gewicht legte und es bei der Annahme von Lesarten zuweilen an der Anwendung der richtigen kritischen Methode fehlen ließ, was bei seiner autodidactischen Bildung, d. h. dem Mangel einer sicheren philologischen Schulung freilich erklärlich genug ist. Eine treffliche Würdigung der Textausgaben Baer’s, hinsichtlich ihrer Vorzüge und ihrer Mängel, hat H. L. Strack in der Theol. Literatur-Ztg. 1879, Nr. 8 gegeben.