„Keine Rose ohne Dornen“
[84] „Keine Rose ohne Dornen“. Ein tiefer Sinn liegt in diesem
Sprichwort, und es drückt eine felsenfeste Wahrheit aus, die ein jeder im
Leben an sich selbst erfährt. Aber der alte Roßmäßler erläuterte das
Sprichwort dahin, daß es ein arger wissenschaftlicher Schnitzer sei. Keine Rose hat Dornen! denn bei ihr sind die stechenden Dinger Stacheln.
Die Botaniker geben uns folgende nähere Bestimmungen dieser beiden
verwandten Waffen der Pflanzen: „Als ‚Dorn‘ bezeichnet man ein Gebilde,
welches der Hauptmasse nach aus einem Holzkörper gebildet wird
oder welches doch von Gefäßbündeln durchzogen ist, die aus dem Holzkörper ihren Ursprung nehmen, und der dann in eine harte, stechende
Spitze ausläuft. ‚Stachel‘ nennt man dagegen ein Gebilde, welches von
der Haut oder Rinde eines Pflanzentheiles ausgeht, im Innern keine
Gefäßbündel enthält, im übrigen mehrzellig oder einzellig sein kann, immer aber mit einer Spitze endigt, welche die Haut des Angreifers zu verletzen imstande ist.“ Oder kürzer gesagt: Der Dorn ist ein in ein blätterloses, steifes, spitzes Aestchen verkümmerter Zweig, Stacheln sind nur leicht ablösbare Oberhautgebilde. – Um diese botanischen Unterscheidungen kümmern sich die Leute sehr wenig. Der Sprachgebrauch ist entscheidend, und er wirft Dornen und Stacheln durcheinander, darum wird es auch immer heißen: „Keine Rose ohne Dornen!“*