„Die Nation und der Bundestag“
[72] „Die Nation und der Bundestag“ von Karl Fischer. Der König von Holland hat schon vor mehr als dreißig Jahren gesagt: „Ich habe immer gedacht, daß ein deutscher Kaiser besser wäre als der elende Bund.“ Die Veröffentlichung dieses königlichen Ausspruchs verdanken wir einem Werke, das zu keiner Zeit geeigneter erscheinen konnte, als gerade jetzt. Karl Fischer’s Buch: „Die Nation und der Bundestag“ (Leipzig, Fues). Von dem Bunde, jenem „Bilde des Jammers und der Impotenz“, als welches Deutschlands oberste Behörde fünfzig Jahre lang von der Nation und der Welt dastand, sind wir erlöst; ein Kampf und Sieg ohne Gleichen hat uns mit der Einheit, mit dem so unendlich ersehnten „Kaiser und Reich“ die Achtung aller Völker errungen – und dennoch müssen wir schon heute, ein Jahrzehnt nach jenen großen Tagen, die Mehrheit der Deutschen von unaufhörlicher Unruhe und tiefer Verstimmung durchdrungen sehen, ja es fehlt sogar nicht an öffentlichen Andeutungen, welche „an die Segnungen des Bundes“ erinnern.
Karl Fischer hat von dem Material, das in den Schränken der Staatsarchive lagert, zwar nicht Alles prüfen können, denn es giebt noch Regierungen, welche den Einblick in ihre Archivgeheimnisse versagen; dennoch setzte ihn das, was ihm Frankfurt und Berlin, sowie Baden darbot, in den Stand, wenn auch nicht eine „Geschichte des Bundestags“ zu schreiben, so doch „die Natur des Bundes und seines Organs, die Weise, wie er selbst seine Stellung aufgefaßt, die Methode, wie er die Geschäfte geführt, auf Grund der Acten nachzuweisen“. Der Verfasser erklärt, er habe die Nation noch einmal an dieses trübe Bundesgewässer geführt, damit sie sich darin, so gut es geht, spiegeln und aus diesen Bundesgeschichten von Neuem erkennen möge: „daß die besten Kräfte wirkungs- und erfolglos streben, wenn ihnen die Initiative versagt ist, wenn sie sich in die Sumpfgeleise der Selbstherrlichkeit oder der Selbstverzweiflung haben hineindrängen lassen.“
Leider müssen wir es uns versagen, den Leser in den Inhalt der acht Bücher, aus denen das Werk besteht, einzuführen, aber er wird nicht versäumen, diesen Gang selbst anzutreten, wenn wir ihm versichern, daß er keine durch Trockenheit abstoßende Lectüre zur Hand nimmt: der Bundestag hat selbst überreich dafür gesorgt, daß die Schilderung seines Lebens und seiner Thaten und Nichtthaten Ueberraschungen für die Generation der Gegenwart in Fülle bietet.
Heute hat das Fischer’sche Buch einen ganz besonderen Werth; denn wenn es den Aelteren, welche noch unter dem Geistesdruck des Bundestages gelitten haben, die vielen Bilder erlittener Schmach in die Erinnerung zurückruft und ihnen den frohen Seufzer erpreßt: „Gott lob, daß das vorüber ist!“, so führt es das jüngere Geschlecht zum ersten Male an die Quelle unserer fünfzigjährigen politischen Schmach und lehrt es, das in unseren Tagen Errungene wahrhaft zu schätzen und getreulich festzuhalten.