Schrift- und Bücherwesen im Mittelalter
Wenn man heute noch die Ansicht aussprechen hört, die Bildung der Neuzeit habe ihre Basis in den wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften des Alterthums, so hat dieselbe trotz der weitgehenden Umgestaltung der Wissenschaften, wie sie sich besonders in diesem Jahrhundert vollzogen hat, doch ihre Berechtigung. Denn was das Mittelalter in wissenschaftlicher Beziehung geleistet hat, ist fast gleich Null zu achten.
Trotzdem aber werden wir dem Mittelalter, über dessen Wissenschaftlichkeit wir ein so absprechendes Urtheil gefällt haben, vielen Dank wissen; denn der unermüdliche Fleiß jener Klosterleute ist es ja gerade gewesen, der die kostbaren Schätze des Alterthums vervielfältigte und dem Untergange entriß. Besonders zu loben ist in dieser Beziehung der Orden des heiligen Benedict, dessen Regel schon eine derartige Beschäftigung vorschreibt, und der vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert fast ausschließlich der Hüter der wissenschaftlichen Ueberlieferungen war. Seine Bestrebungen wurden vor allem von den Karolingern und besonders von Karl dem Großen selbst unterstützt, und unter der Regierung des Letzteren schon sehen wir die beiden Klöster Fulda und St. Gallen, welche später die hauptsächlichsten Stätten der Wissenschaft werden sollten, emporblühen; ja, Karl der Große selbst war nach Liutprand’s[WS 1] Zeugniß der Begründer der Fuldaschen Bibliothek. Allein trotzdem war der Mangel an Büchern in jener Zeit sehr groß. Mit aller Sorgfalt war man daher in den Klöstern darauf bedacht, Bücher zu vervielfältigen, und das regste Leben entfaltete sich in den Schreibstuben derselben. Bald wurden die Bibliotheken die kostbarsten Schätze jener Klostergeistlichen, und sprüchwörtlich sagte man: Keine Burg ohne Rüstkammer, kein Kloster ohne Bücherei.
Das Schreiben war in der damaligen Zeit auch durchaus keine so leichte und gewöhnliche Sache, und selbst in den Zeiten der höchsten Blüthe des Ritterthums gab es Männer, die, obgleich höfisch gebildet, doch, wie der Dichter des „Parcival“, diese Kunst nicht verstanden. Man schrieb nur auf Pergament, welches man aus Thierhäuten mit solcher Kunst zu fabriciren verstand, daß wir es heute noch in den Urkunden oft schneeweiß und fein wie unser Papier antreffen; zu Concepten und Rechnungen aber bediente man sich wegen der Kostbarkeit dieses Materials der Wachstafeln. Das Pergament hatte damals aber auch einen hohen Preis, und nur gegen das Versprechen, die Häute der erlegten Thiere zur Bereitung von Pergament zu verwenden oder zu Bücherdeckeln verarbeiten zu lassen, konnte sich Karl der Große bewogen fühlen, einem Kloster das Jagdrecht ausnahmsweise zu gestatten.
Bis zum Jahre 820 ungefähr finden wir nun in Deutschland allerdings ein ziemlich rohes Material vor, ein dickes und unsauberes Pergament, welches sich nicht sehr von gegerbten Häuten unterscheidet – ferner eine ziemlich charakterlose Cursivschrift, welche durch allerhand Merovingische und Lombardische Züge, sowie durch Buchstabenverbindungen verunstaltet war. Außerdem bediente man sich des Calamus[1] (des Rohrs) als Schreigriffels, wohingegen man erst später mit der Penna (der Vogelfeder) schrieb. Vom Jahre 820 an aber finden wir überall die Römisch-Carolingische Schrift, die der heutigen Antiquaschrift nicht unähnlich ist.
Die Klöster waren mit dem, was ihre Bedürfnisse erforderten, im Allgemeinen vollkommen auf sich selbst angewiesen, und unter den Klosterleuten gab es Künstler von mancherlei Art. So verfertigten sie auch, wie schon angedeutet, ihr Pergament selbst; Andere zogen auf demselben Linien; Andere wieder vergoldeten die Titel und die Anfangsbuchstaben; wieder Andere malten sie aus mit kleinen Miniaturbildern, und in der Nacht zwischen der Mette und dem Sanctus saßen sie dann in Sanct Gallen im Scriptorium, um Original und Abschrift mit einander zu vergleichen. Nachdem aber das Buch fertig war, ward es in einen Zoll dicke, eichene Bretter gebunden welche mit Leder, Elfenbein oder Metall überzogen waren. Am sorgsamsten verfuhr man mit jenen Büchern, welche zum Gottesdienste benutzt werden sollten. Da wurde das Pergament mit purpurner Farbe gefärbt; mit silberner oder goldener Tinte schrieb man auf dasselbe und verzierte die Anfangsbuchstaben reich mit Gold und zierlich gemalten Bildern. Während sonst zu Schreiberdiensten die weniger zu wissenschaftlicher Arbeit Befähigten verwendet wurden, so beschäftigten sich mit der Anfertigung solch künstlicher Buchstaben und Titelbilder auch die vornehmsten Geistlichen, wie Ekkehard dies in seiner Sanct Gallener Klosterchronik vom Bischof Salomon von Constanz bezeugt. Da nun vom Anfange des neunten Jahrhunderts an alle Bücher in Minuskel- oder Uncial-Schrift geschrieben waren und der Schreiber sich auf diese Weise nach jedem Buchstaben abzusetzen genöthigt sah, so ist es natürlich, daß diese Arbeit nur langsam und beschwerlich von Statten ging, und scheint uns die Klage des Schreibers Eadbert, der da sagte: „drei Finger schreiben nur, aber der ganze Körper arbeitet,“ gewiß natürlich. Um so mehr aber müssen wir die große Bücherproduction bewundern, wenn wir binnen wenigen Jahrzehnten die St. Gallener Bibliothek auf über vierhundert Bände anwachsen sehen und die Sammlungen in Fulda einen ebenso schnellen Aufschwung nahmen.
Da die mittelalterliche Erziehung in den Klosterschulen auf eine theologische Fachbildung hinauslief, die ebenfalls dort getriebenen sieben freien Künste aber nur die Mägde der Theologie waren so ist es ganz erklärlich, wenn die heilige Literatur bei weitem bevorzugt wurde, ja in Zeiten, wo die Wogen eines ascetischen Fanatismus hochgingen, Schätze profaner Wissenschaft sogar dem Untergange und dem Verderben geweiht wurden. Diese Auszeichnung der heiligen Literatur – ich meine nämlich Interpretationen der heiligen Schriften, Homilien, Heiligengeschichten, Ordensregeln etc. – gegenüber der meist dem classischen Alterthum angehörigen Profanliteratur that sich in Fulda z. B. auch noch in anderer äußerlicher Weise kund. Dort finden wir unter den verschiedenen Bibliotheksräumen ein eigenes Scriptorium für die Abschreiber theologischer Werke, und am Eingange war eine dieselben ermahnende, aber zugleich ehrende Aufschrift angebracht, welche Alkuin, der berühmte Lehrer und Freund Karl’s des Großen verfaßt hatte.
Alkuin, der auch ähnliche Ermahnungen an den Wänden seines Museums, wie er den für die Abschreiber eingerichteten Saal nannte, hatte anbringen lassen – z. B. langsam zu schreiben, gehörig abzusetzen, richtig und genau zu interpunktiren – hat sich überhaupt um das Schriftwesen sehr verdient gemacht.
Besonders hat er in Betreff der orthographischen Correctheit der Bücher unleugbare Verdienste. Denn mit der überhandnehmenden Verwilderung der lateinischen Sprache war auch die Orthographie eine sehr unsichere geworden, und dieselben Gründe, welche Karl den Großen vielleicht veranlaßten, mit der Abfassung einer lateinischen Grammatik zu beginnen, führten Alkuin wahrscheinlich zur Anfertigung eines orthographischen Lehrbuches, von welchem noch der Auszug eines Salzburger Mönches erhalten ist. Wir finden darin nicht nur eine Zusammenstellung gleichklingender, aber verschieden zu schreibender Wörter – Homonyma – sondern auch Synonyma und ein Verzeichniß unregelmäßiger Zeitwörter. Und doch, wie häufig läßt die Correctheit der Bücher viel zu wünschen übrig!
Freilich hatten auch in dieser Beziehung die verschiedenen Klöster ihren besonderen Ruf, und war vor Allem das Kloster Hirsau im Schwarzwalde als Aufenthalt vorzüglicher Schreibkünstler berühmt.
Doch wir haben noch nicht gesagt, wie die deutschen Klöster in den Besitz der Originale kamen, von denen sie so zahlreiche Abschriften anfertigen ließen. Es war dies eine durchaus nicht leichte Sache; denn man mußte oft hundert Meilen weit sein Gesuch um leihweise Ueberlassung eines Buches richten und lange Zeit verging oft, ehe bei der Mangelhaftigkeit der Verkehrsmittel der betreffende Wunsch erfüllt werden konnte. Zuweilen aber trauten sich die geistlichen Brüder unter einander nicht, da man in dieser Beziehung schlechte Erfahrungen gemacht hatte, und der Streit zweier Klöster um ein Buch, von denen jedes das Eigenthumsrecht auf dasselbe für sich in Anspruch nahm, gehört nicht zu den Seltenheiten.
Einzelne Klöster pflegten sich daher, um solchen Eventualitäten nicht ausgesetzt zu sein, mit einander zu verbrüdern zugleich auch, um durch gegenseitigen wissenschaftlichen Verkehr sich geistig anzuregen. Der Briefwechsel jener Mönche behandelt deshalb meistens ein und dasselbe Thema. Da fragt Einer an, ob dies oder jenes Buch in der Bibliothek vorhanden wäre, in welchem Falle der Andere es leihen oder selbst abschreiben lassen möge; da beschwert ein Anderer sich darüber, daß ein erwartetes Manuscript noch nicht in seinen Händen sei, und wieder ein Anderer fordert das geliehene dringend zurück.
Die ersten wissenschaftlichen Schätze brachten die Schottenmönche nach Deutschland. Vom heiligen Gallus und besonders vom heiligen Bonifacius ist dies bekannt. Daß Karl der Große die Fuldaer Bibliothek begründete, hörten wir schon; aber am thätigsten für die Bücherverbreitung ist doch Alkuin gewesen, der selbst seine Bücherschätze aus dem Kloster Eboracum in das Frankenreich mitgebracht hatte und für eine emsige Vervielfältigung Sorge trug. Aber auch direct aus Italien wurden bedeutende Bücherschätze in Deutschland eingeführt, zumal in den Zeiten, da der Reliquienhandel besonders im Schwunge war, und profitirten natürlich diejenigen Klöster, die, wie St. Gallen und Reichenau, in der Nähe der großen italienischen Heerstraße lagen, am meisten davon.
Zur Zeit Kaiser Karl’s des Großen sehen wir bei dem bedeutenden Interesse, welches dieser gewaltige Fürst für die Hebung der Bildung im Allgemeinen an den Tag legte, auch unter den Laien wissenschaftliche Studien erblühen; doch unter den folgenden Karolingern war das Lesepublicum nur unter der Geistlichkeit vertreten. Freilich ward das Verhältniß etwas anders, als nach der Verheirathung Otto’s des Ersten mit Adelheid und Otto’s des Zweiten mit Theophania griechisch-lateinische Bildung in die höheren fürstlichen Kreise eindrang; doch ist auch dann noch Schreiben und Lesen als eine Kunst der Mönche zu bezeichnen, und zwar so lange, bis mit dem Aufkommen der Stadtschulen in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts die Bildung in den bürgerlichen Kreisen Eingang zu finden begann.
Die Bibliothekare hatten also selten an einen vornehmen Herrn etwas zu verabfolgen, und manchmal hatte das Kloster dann überhaupt das Nachsehen. So ließ sich Otto der Zweite, als er nach St. Gallen kam, die Bibliothek öffnen und nahm, angereizt durch die reichen Schätze derselben, mehrere der kostbarsten Bücher mit hinweg, von denen er aber nur wenige auf dringendes Bitten Ekkehard’s später wieder zurückgab. Noch ist uns ein alter Katalog der St. Gallener Bibliothek aus dem neunten Jahrhundert erhalten, der uns einmal darüber informirt, welche Bücher damals in den besten Bibliotheken Deutschlands vorhanden waren. Andererseits ist dieses Document aber noch dadurch wichtig, daß es uns einen Blick in die Thätigkeit der Bibliothekare werfen läßt.
Als nun später aber mit dem Auskommen der Stadt- und Kathedralschulen die Klosterschulen immer mehr von ihrer einstigen Blüthe herabsanken, da waren jene klösterlichen Stifte auch nicht mehr die Stätten der Büchererzeugung. Man hat es Bürger übel genommen, daß er in seinem Gedichte „Der Kaiser und der Abt“ zur Personification klösterlicher Dummheit und Beschränktheit gerade den Abt von St. Gallen verwandt hat, allein wenn man bedenkt, daß im Jahre 1291 weder der Abt noch einer aus dem Capitel daselbst zu schreiben vermochte, so wird man diese Wahl wohl nicht als Mißgriff zu bezeichnen haben, zumal das Gedicht das Colorit einer späteren Zeit trägt.
Zum Schluß sei es mir noch gestattet, aus den Verbleib zweier der
- ↑ Calamus, das Schreibrohr, eine Art Schilfpflanze, welche in bester Qualität aus Aegypten, Cnidus und dem anaitischen See bezogen wurde.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Lintprand’s
[72] bedeutendsten Bibliotheken hinzuweisen. Man hat sich lange den Kopf darüber zerbrochen, wie denn plötzlich die alte berühmte Handschriftenbibliothek von Fulda zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges verschwinden konnte. In neuerer Zeit scheint die Frage von Nikolaus Kindlinger völlig gelöst worden zu sein, der die Vermuthung aufstellte, daß jener Caraffa, dem im Jahre 1621 vom Papste Gregor dem Fünfzehnten die unumschränkte Vollmacht zur Klostervisitation ausgestellt wurde, gleich wie er die Heidelberger Bibliothek, die sogenannte Palatina, 1662 durch Tilly und Maximilian in die Hände des Papstes brachte, so auch diese Büchersammlung nach Rom überführte. Jene Heidelberger Sammlung ward damals von dem päpstlichen Commissar Leo Allatius (1628) in Empfang genommen und auf mehr als hundert Maulthieren nach Rom geschafft, um als Bibliotheka Palatina im Vatican untergebracht zu werden.
Wenn wir nun ferner hören, daß ein deutscher Gelehrter Eugen Gerlach (1772), der in der Vaticanischen Bibliothek Studien machte, eine große Anzahl ehemaliger Fuldaer Handschriften und unter Anderem mehrere von Hrabanus Maurus entdeckte, so liegt wohl die Vermuthung sehr nahe, daß die Fuldaer Bibliothek mit der Palatina verbunden wurde. Eine Ahnung mußte man von diesen Verhältnissen in Fulda übrigens haben, sonst hätte sich der Propst Karl von Pisport nicht mit der Bitte um Zurückgabe einiger alter Fuldaer Handschriften nach Rom wenden können.
Doch was war die Antwort auf diese Bitte? Es sei bekannt, hieß es, welche Mühe und Kosten die Päpste von jeher angewandt hätten, um Seltenheiten für die Vaticanische Bibliothek zu sammeln, damit solche derselben ewig Ehre machten; man wäre indessen bereit, die Manuscripte abschreiben zu lassen, welche etwa verlangt würden.
Im Jahre 1815 kam nun zwar ein Theil jener Handschriften theils auf Oesterreichs und Preußens Verwendung direct wieder zurück, der Rest aber wird wohl für immer im Vatican bleiben, einem, wie schon Böhmer in seinen „Fontes“ sich beklagte, für die Studien wenig geeigneten Orte.