Übersicht der Märchenliteratur/Die ältere Märchenliteratur
← Übersicht | Übersicht der Märchenliteratur (1914) von Antti Aarne |
Die neuere oder volkstümliche Märchenliteratur → |
Wenn von der älteren Märchenliteratur die Rede ist, gehen die Gedanken zunächst nach dem Orient und vor allem nach dem alten Indien, jenem reichen Märchenlande, das die Aufmerksamkeit der Märchenforscher in so hohem Grade auf sich gezogen hat. In der älteren Literatur keines anderen Landes haben die Märchen einen so bemerkenswerten Platz wie in der Indiens. Man kennt eine ganze Menge alter Erzählungssammlungen, die von Indien ausgehend durch Übersetzungen in die Literatur anderer Länder übergegangen, ja bis nach Europa gedrungen sind. Wie gross die alte indische Märchenliteratur in Wirklichkeit gewesen ist, weiss man nicht, wenigstens ist es wahrscheinlich, dass sie nicht in ihrer Gesamtheit der Nachwelt erhalten geblieben ist.
Die berühmteste der indischen Erzählungssammlungen ist das Pañcatantra (Die fünf Bücher), dessen Entstehungsgeschichte nicht sicher bekannt ist. Th. Benfey hat in der Einleitung zu seiner deutschen Übersetzung (Pantschatantra: Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen, 1859) die Entstehungszeit desselben auf die Zeit zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. beschränkt. Neuere Auffassungen über den Ursprung, das Alter u. a. der Sammlung befinden sich in der Pañcatantra-Übersetzung von J. Hertel (Tantrâkhyâyika, die älteste Fassung des Pantschatantra, aus dem Sanskrit übersetzt [2] I, II, 1909). Vom Pañcatantra existieren im Sanskrit mehrere verschiedene Fassungen, und in beinahe alle indische Volkssprachen übersetzt ist es bis in die Gegenwart als Lesebuch in den indischen Schulen benutzt worden.
In den alten morgenländischen und zum Teil auch in den abendländischen Sammlungen gibt es gewöhnlich eine gemeinsame, verbindende Rahmenerzählung, an welche sich die einzelnen Erzählungen oder Erzählungsgruppen anknüpfen. In Pañcatantra hat jedes Buch seine eigene Rahmenerzählung. Der Zweck des Werkes ist, den jungen Fürsten nötige Unterweisungen und Ratschläge zu geben. Ein indischer König Amaraçakti, so wird am Anfang des Werkes erzählt, hatte drei sehr einfältige Söhne, wegen deren Erziehung der Vater sehr bekümmert war. Er versammelte eines Tages seine Ratgeber, um mit ihnen über die Zukunft seiner Söhne zu beraten. Einer von diesen, der 80-jährige Wishnuçarman, erbot sich, binnen sechs Monaten die Söhne des Königs in der Lebensweisheit klüger als alle anderen zu machen. Zufrieden überliess der König seine Söhne dem klugen Erzieher, und dieser schrieb für sie die fünf Bücher des Pañcatantra, durch deren Lektüre die Söhne sich im Laufe der bestimmten Zeit wirklich als kluge und wohlerzogene Prinzen entwickelten.
Aus dem ursprünglichen Zweck des Pañcatantra erfolgt, dass es seiner Art nach hauptsächlich didaktisch ist. Die meisten der Erzählungen, deren es in der von Benfey übersetzten Fassung 84 gibt, sind Tierfabeln, aber unter den Fabeln trifft man auch eigentliche Märchen.
Die Erzählungen des Pañcatantra gingen als mehr oder weniger freie Übersetzungen in viele sowohl morgen- als abendländische Literaturen über. Im 6. Jahrhundert n. Chr. wurde die Sammlung schon in die persische Kultursprache Pehlevi übersetzt, und diese neue Fassung wieder um die Wende des 6. und 7. Jahrhunderts ins Syrische und im 8. Jahrhundert ins Arabische. Ihren Namen erhielt sie von [3] den in den Erzählungen vorkommenden zwei Schakalen Calila und Dimna oder von dem als Verfasser genannten indischen Philosophen Bidpai die Fabeln Bidpai’s. Auf die arabische Redaktion gründet sich u. a. die von Rabbi Joel redigierte hebräische, die später, gegen Ende des 13. Jahrhunderts, von dem getauften Juden Johann von Capua ins Lateinische unter dem Titel Directorium humanae vitae übertragen wurde. Die erste deutsche Übersetzung Das Buch der Beispiele der alten Weisen erschien um 1470. Später ist die Sammlung auch in vielen anderen europäischen Sprachen erschienen, u. a. auf italienisch, spanisch, französisch, englisch. Bisweilen gibt es in einundderselben Sprache mehrere zu verschiedenen Zeiten redigierte Übersetzungen. So existieren drei neupersische Fassungen. In dieser Weise von einer Sprache zu der andern übergehend hat Pañcatantra eine weitere Verbreitung und einen grösseren Einfluss auf die Literaturen der anderen Länder gewonnen, als kaum ein anderes morgenländisches Werk.
Eine neuere indische und zum grossen Teil aus Pañcatantra stammende Fabelsammlung ist Hitopadeça (Die nützliche Unterweisung), die jedoch in der Märchenforschung keine grössere Bedeutung hat. Hitopadeça legt mehr Betonung auf die Sprüche als auf die Erzählungen, deren Anzahl auch kleiner ist.
Einen grossen Wert mass Benfey in seinen Forschungen dem indischen Vetâlapañcavinçati bei (Vetâla’s 25 Erzählungen). Die Rahmenerzählung der Sammlung ist anziehend. Dieselbe lässt einen in einem Leichnam steckenden Dämon die Märchen vortragen. Der König Vikramâditya hat die Aufgabe erhalten, den Leichnam vom Friedhofe zu holen, aber als er auf dem Wege der Erzählung des Dämons zuhört und daraufhin eine Bemerkung macht, geht der Leichnam zum Friedhofe zurück. So geht es 25 Mal, und ebenso viele Geschichten erzählt der Dämon. Vom [4] Alter des Vetâlapañcavinçati weiss man mit Sicherheit nichts weiter, als dass es schon vor dem 11. Jahrhundert existiert hat. Es ist nämlich in einer anderen indischen Märchensammlung Kathâsaritsâgara enthalten, die im 11. Jahrhundert entstanden ist. In der tamulischen Fassung des Vetâlapañcavinçati kommt u. a. das Märchen von dem die Tiersprache verstehende Manne vor, der bei der Befriedigung der Neugier seiner Frau nahe daran war, das Leben zu verlieren (Mt. 670).
Für eine Bearbeitung des Vetâlapañcavinçati hält man das mongolische Siddhi-Kür, das einzige bedeutendere Werk in der Sprache der Westmongolen oder Kalmücken (Jülg, B., Kalmükische Märchen, 1866 und Mongolische Märchensammlung, 9 Märchen des Siddhi-Kür, 1868). Auch die Rahmenerzählung dieses Werkes spricht von dem den Leichnam tragenden König und von dem erzählenden Dämon. Aber die Ähnlichkeit der Sammlungen beschränkt sich auch fast nur auf die Gleichheit der Rahmenerzählung. Die Märchen selbst sind mit Ausnahme von einem oder zweien ganz andere. Aus diesem Grunde tragen andere Forscher Bedenken, das Siddhi-Kür in Zusammenhang mit dem Vetâlapañcavinçati und den indischen Märchen zu setzen. A. Forke, der hier u. a. auf einem entgegengesetzten Standpunkt steht[1], weist auf die nahe Übereinstimmung der Märchen des Siddhi-Kür mit den europäischen Märchen hin. Ich selbst bin, was die Sammlung betrifft, zu derselben Auffassung gekommen, und glaube, dass viele von den Märchen derselben einen westlicheren Einfluss voraussetzen. Die gemeinsame Rahmenerzählung berechtigt noch nicht, die Märchen des Siddhi-Kür aus dem Vetâlapañcavinçati herzuleiten oder sie sogar für indische zu halten. In jedem Falle ist der Ursprung des Siddhi-Kür dunkel, und der Forscher hat Anlass, vorsichtig sein, wenn er in Bezug auf die Märchen der Sammlung Schlüsse zieht.
[5] Im Siddhi-Kür kommen einige von unseren bekanntesten Märchen vor, z. B. das Zauberring- und das Zaubervogelmärchen und die Form mit zwei Zaubergegenständen des Zaubergabenmärchens.
Ebenso wie das Vetâlapañcavinçati verknüpft sich mit dem Namen Vikramâditya noch eine andere indische Erzählungssammlung Simhâsanadvâtrinçati (Zweiunddreissig Erzählungen des Thrones des Vikramâditya oder Die Abenteuer des Vikrama) (im französischen Les trente-deux récits du Trône (Batris-Sinhasan) ou les merveilleux exploits de Vikramâditya, traduits du Bengali par Léon Feer, 1883 = Collect. d. cont. VI). Die Erzählungen preisen die Taten des grossen Königs, und die Erzähler sind die 32 seinen Thron umgebende Säulen. Als nämlich einige Jahrhunderte nach dem Tode Vikramâditya’s ein anderer König sich auf dessen Thron zu setzen gedenkt, verhindern es die Säulen, indem jede eine Geschichte erzählt und indem sie zum Schluss den ganzen Thron in den Himmel entführen.
Eine viel grössere Bedeutung für die Märchenforschung hat das indische Çukasaptati (Die siebzig Geschichten eines Papageis). Die Erzählungen werden darin von einem weisen Papagei vorgetragen. In Abwesenheit des Hausherrn hindert der Papagei durch die Erzählungen seine Herrin sich in leichtsinnige Abenteuer einzulassen. Den Hauptinhalt des Çukasaptati bilden die Intrigen der Frau gegen ihren Mann. Vom ursprünglichen Verfasser des Werkes und von seiner Entstehungszeit weiss man nichts. Dass das Buch beliebt gewesen ist, zeigt die grosse Anzahl der in den Volkssprachen des jetzigen Indiens verfassten Übersetzungen. Richard Schmidt hat die Sammlung sowohl im Sanskrit als in deutscher Übersetzung veröffentlicht (Çukasaptati. Textus simplicior, 1893 = Abhand. f. d. Kunde des Morgenlandes X, Übersetzung 1894 und Textus ornatior, Übersetzung 1899). Viel besser als der Ursprung der Sammlung sind ihre späteren Schicksale bekannt. So weiss man, [6] dass um 1300 n. Chr. eine persische Übersetzung davon existierte, von welcher ein gewisser Nachschebi im Jahre 1330 eine neue, grössere Künstlichkeit erstrebende Fassung bearbeitete. Der Name des persischen Werkes ist Tûti-Nâmeh, was auch Die siebzig Erzählungen eines Papageis bedeutet. Über Nachschebi’s Tûti-Nâmeh gibt W. Pertsch in seiner Forschung „Über Nachschebis Papagaienbuch“ (Zeitschrift der Deutschen Morgenl. Gesellschaft XXI S. 505–551) Aufschluss. Sie liegt ihrerseits zwei späteren, einer persischen und einer türkischen Fassung zu Grunde. Die persische, die von den Fassungen Tûti-Nâmeh’s die bekannteste ist, wurde im 17. Jahrhundert von einem Muhammed Kâdiri redigiert. Sie ist ein an poetischer Schönheit armes, gekürztes Referat von dem Inhalt des Werkes. Kâdiri’s Tûti-Nâmeh wurde von C. J. L. Iken 1822 ins Deutsche übertragen, und dieselbe Übersetzung ist unter der Redaktion von R. Schmidt später von neuem in der Serie „Kulturhistorische Liebhaberbibliothek“ (III Bd. 21: Das persische Papageienbuch. Eine Sammlung persischer Märchen) erschienen. Von grösserem Wert für den Forscher ist die türkische Fassung des Tûti-Nâmeh, die von G. Rosen ins Deutsche übersetzt im Jahre 1858 erschien (Tuti-Nameh. Das Papagaienbuch. Eine Sammlung orientalischer Erzählungen), denn sie steht sowohl in Bezug auf ihre Entstehungszeit als auf ihren Inhalt dem Originale viel näher. Sie kann nicht jünger als ca. 100 Jahre nach der Zeit Nachschebi’s sein. Aber auch der Verfasser des türkischen Werkes ist ziemlich frei zu Werke gegangen, u. a. hat er versucht, das Werk von anstössigen Stellen zu reinigen.
Es ist bekannt, wie Benfey dem Tûti-Nâmeh eine grosse Bedeutung beimass, was den Übergang der morgenländischen Märchen nach dem Abendlande betrifft. Im Tûti-Nâmeh werden auch viele im Volke sehr bekannte Märchen angetroffen, und es verdient ganz besonders die Aufmerksamkeit des vergleichenden Forschers. Vom Inhalt der [7] Samlung seien erwähnt: Das Zaubervogelmärchen und die Märchen von dem die Tiersprache verstehenden Manne und vom Mann, der glücklich eine sehr schwierige Aufgabe löst und zugleich sich Antworten auf die ihm auf dem Wege vorgelegten Fragen verschafft (Mt. 460).
Die grösste aller indischen Märchensammlungen ist das Kathâsaritsâgara (das Meer der Märchenströme), das ein gewisser Somadeva im 11. Jahrhundert n. Chr. verfasste. Im Kathâsaritsâgara sind 5–600 Märchen enthalten, und es ist also seines stolzen Namens würdig. Das verschiedenartigste Material ist darin vereinigt. Man sagt, dass Somadeva in seiner Sammlung beinahe alle alten indischen Märchenschätze zusammengebracht hat: Pañcatantra, Vetâlapañcavinçati, Simhâsanadvâtrinçati, ein von Gunâdhya verfasstes älteres Brihatkathâ u. a. Neben den Märchen und Fabeln kommen da auch aus Mahâbhârata und Râmâyana genommene Helden- und Göttersagen, Spitzbubenstücke u. a. vor. Das Kathâsaritsâgara ist von H. Brockhaus ins Deutsche (Die Märchensammlung des Somadeva Bhatta aus Kaschmir. Aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt, 2 Bde 1843) und von C. H. Tawney ins Englische (The Kathá Sarit Ságara or ocean of the streams of story, 2 dicke Bde 1880–84) übertragen worden.
Aus Indien stammt auch die Erzählungssammlung Die sieben weisen Meister (Veziere), welche nach dem angeblichen Verfasser derselben, Sendabad oder Sindbâd auch Sindbâds Geschichte genannt wird. In der Rahmenerzählung der Sammlung wird von einem Prinzen gesprochen, den die Erzählungen der sieben Weisen vom Tode retteten. Es ist prophezeit worden, dass dem Prinzen eine grosse Gefahr droht, und er macht sich auf 7 Tage stumm, um sie zu vermeiden. Eine der Frauen des Königs verliebt sich aber in ihn und sucht vergebens ihn zu verführen. Erzürnt über das Misslingen ihres Planes verleitet das lügnerische Weib durch eine falsche Anklage den König, [8] den Prinzen zum Tode zu verurteilen. Die Vollstreckung des Urteils wird durch die Erzählungen verhindert, die von der List und Bosheit der Weiber sprechen und deren Einfluss die Königin ihrerseits durch Erzählungen von betrügerischen Männern zu schwächen versucht. Am achten Tage fängt der Prinz wieder an zu sprechen, und der wirkliche Sachverhalt wird dem König klargelegt. Die sieben weisen Meister werden das erste Mal im 10. Jahrhundert erwähnt. Das Werk wurde schon früh in verschiedene morgenländische Sprachen übertragen. So kennt man von ihm eine arabische, eine hebräische, eine persische und eine syrische Fassung. Auch europäische Übersetzungen gab es schon früh (die griechische Syntipas um 1100) und ihre Anzahl wuchs später immer mehr.
Im Zusammenhang mit der alten indischen Märchenliteratur sind die legendenartigen Jâtakas und Avadânas, die Geburtsgeschichten und die Grosstaten des Buddha zu erwähnen. Sie sind aus verschiedenen Quellen stammende, zum grossen Teil folkloristische, mit dem Namen Buddha’s verbundene Fabeln, Märchen (besonders Tiermärchen), Anekdoten u. a., und der Unterschied zwischen den beiden Erzählungsarten ist eigentlich gering. Eine ins Englische übersetzte 6 Bände umfassende Sammlung von Jâtakas (The Jâtaka or Stories of the Buddha’s Former Births, translated by E. B. Cowell and others, 1895–1907) enthält 550 Erzählungen. Die Avadânas-Sammlungen sind uns als chinesische und tibetanische Übersetzungen bekannt. In den grossen tibetanischen Sammelwerken Kandschur und Tandschur, die in der Zeit vom 9. bis 13. Jahrhundert verfasste Übersetzungen der mit der buddhistischen Kultur von Indien nach Tibet gekommenen teologischen Schriften enthalten, befinden sich Avadânas-Sammlungen. Eine zu dem Kandschur gehörende Sammlung hat J. J. Schmidt unter dem Titel Dsanglung oder Der Weise und der Thor (1843) ins Deutsche übertragen. Unter den [9] Erzählungen Dsanglun’s trifft man u. a. das bekannte Urteil Salomo’s von den zwei Müttern und dem Sohne, den jede der beiden haben wollte.
Aber der Märchenforscher trifft nicht alte schriftliche Beweisstücke nur in den eigentlichen Erzählungssammlungen. Auch die indischen Epen Mahâbhârata (die Erzählung von dem grossen Kampf der Bharatas) und Râmâyana (das Lied von Râmas Taten) bieten bisweilen anziehende Stoffe. Das Märchen von dem die Tiersprache verstehenden Mann z. B. erscheint im Râmâyana und ebenso in einem späteren indischen Epos Harivamça, das gewöhnlich als Anhang mit dem Mahâbhârata verbunden ist.
Die umfangreichste und zu grösster Berühmtheit gelangte der morgenländischen Erzählungssammlungen ist die arabische Tausend und eine Nacht, die in Europa erst seit Beginn der 18. Jahrhunderts bekannt gewesen ist, in welcher Zeit A. Galland’s französische Übersetzung erschien (1704–1707), einen grossen Enthusiasmus für die Märchen, besonders für die morgenländischen hervorrufend. Von den frühesten Schicksalen der Sammlung Tausend und eine Nacht weiss man ebenfalls sehr wenig. Sicher ist es, dass sie in ihren ersten Anfängen sehr alt ist, aber ihre gegenwärtige umfassende Form dürfte nicht mit dem ursprünglichen Werke viel gemeinsam haben. Tausend und eine Nacht gründet sich auf die alte persische Sammlung Hesâr Afsâneh (Tausend Abenteuer) – auch wurde der Name Tausend Nächte gebraucht –, obgleich man nicht mit Sicherheit weiss, was für Stoffe von jenem Originalwerke in der gegenwärtigen Tausend und eine Nacht übrig sind. Hesâr Afsâneh wird das erste Mal von dem arabischen Geschichtsschreiber Al-Masûdi im Jahre 944 n. Chr. erwähnt, und ein ausführlicheres Beweisstück von dem Vorhandensein derselben ist aus der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts, vom Jahre 987, erhalten. Der Araber Kitâb-el-Fihrist erwähnt in seinem damals verfassten Verzeichnis der arabischen [10] Werke auch die Rahmenerzählung der Sammlung vom Könige, der sich jeden Tag eine neue Frau nahm, deren Vorgängerin er jeden Morgen aufhängen liess, und von der klugen Königstochter, die durch ihre Erzählungen den König bewog, ihre Hinrichtung von einem Tage zum anderen zu verschieben. Als Tausend Nächte auf diese Weise vergangen waren, schenkte der König dem Mädchen das Leben und erhob sie zu seiner Gemahlin. Im Laufe der Jahrhunderte ist die Sammlung zu einem Riesenwerke angewachsen. Sie hat Zusätze in Bagdad und ihre späteste Form, wahrscheinlich im 15. Jahrhundert, in Ägypten gefunden. Viele Völker haben ihren Anteil an Tausend und einer Nacht, ja sogar die abendländische Literatur hat auf ihre Zusammensetzung Einfluss gehabt. Die Klarlegung des Ursprungs der einzelnen Erzählungen ist oft schwer und fordert für jeden Fall genaue Spezialforschungen. Die beliebtesten Motive bilden die arabischen Kalifen und ihr Hofleben, aber daneben wird dem Leser das Leben aller Volksschichten in den buntesten Farben vorgeführt. Von den Erzählungen ist nur ein Teil eigentliche Märchen, und einige von ihnen sind sowohl im Volksmunde als in der Literatur sehr bekannt, z. B. Aladdin und seine Zauberlampe (Mt. 561), die zwei neidischen Schwestern (Mt. 707) und Ali Baba und vierzig Räuber.
Die von Galland benutzte, aus Syrien stammende Handschrift ist die älteste der Handschriften der Sammlung Tausend und eine Nacht. Sie enthält nur die Einleitung und die ersten Erzählungen, die sich auf 282 Nächte verteilen, und ist ihrer Grösse nach der vierte Teil der vollständigen Tausend und eine Nacht. Nach Galland sind viele europäische Übersetzungen erschienen, die teils in wissenschaftlicher Absicht, teils zur Unterhaltung für die Kinder und die Jugend veröffentlicht worden sind. Die Lebhaftigkeit und Kraft der Phantasie macht nämlich die Erzählungen der Tausend und eine Nacht selbst für unsere [11] Zeit zu einer anziehenden Lektüre. Von den Übersetzungen des ganzen Werkes erwähne ich die im Jahre 1824 erschienene, von Max Habicht, Fr. H. von der Hagen u. a. ausgeführte Verdeutschung (Tausend und eine Nacht, arabische Erzählungen, 15 Bände), wobei nach einer tunisischen Handschrift[WS 1] eine Anzahl neuer Erzählungen hinzugefügt worden sind, und eine 1886–88 veröffentlichte, sehr gelungene englische Übersetzung von Richard Burton (The Book of the Thousand Nights and a Night, 16 Bände). Nach der letztgenannten hat Felix Paul Greve im Jahre 1908 eine neue Verdeutschung herausgegeben (Vollständige deutsche Ausgabe in zwölf Bänden auf Grund der Burtonschen englischen Ausgabe, erschien im Insel-Verlag zu Leipzig). Das beste Quellenwerk für Tausend und eine Nacht bildet V. Chauvin’s ausführliche Bibliographie des ouvrages arabes, Bde IV–VII (1900–1903). Die neuesten Aufschlüsse über den Ursprung und die Schicksale der Sammlung bietet Karl Dyroff’s mit Greves Verdeutschung verbundene Untersuchung „Zur Entstehung und Geschichte des arabischen Buches Tausend und eine Nacht“ (XII Bd. S. 229–307).
Als morgenländisch kann man wohl auch die Sammlung der alten georgischen Märchen S. Orbeliani’s, die von A. Tsagareli auf russisch unter dem Titel „Книга Мудрости и Лжи“ (1878) veröffentlicht sind, betrachten. Die Sammlung ist nicht wegen ihres grossen Alters merkwürdig – Orbeliani lebte am Ende des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts und hat seine Sammlung wahrscheinlich erst in vorgerücktem Alter abgefasst –, aber weil ihre Erzählungen, unter denen es bekannte Volksmärchen gibt, wahrscheinlich sich zum grossen Teil aus dem Volksmunde herleiten, verdient sie die Aufmerksamkeit des Forschers.
Wenn wir dann zu der eigentlichen europäischen Märchenliteratur übergehen, begegnen uns zuerst zwei Märchensammlungen, deren Inhalt augenscheinlich zum Teil aus morgenländischen Quellen herstammt. Diese sind Disciplina clericalis und Gesta Romanorum (Die Taten der Römer). Die erstere, die ca. 30 Fabeln und Erzählungen enthält, ist in Spanien im Anfange des 12. Jahrhunderts von einem getauften Juden Petrus Alphonsus verfasst. Umfangreicher sind die Gesta Romanorum. Sie sind aus den verschiedenartigsten Stoffen zusammengesetzt. Die morgenländischen Märchensammlungen, die Geschichte Roms und Griechenlands, die mündliche Überlieferung usw. haben dazu ihren Beitrag gegeben. Die Gesta Romanorum sind eine für die Priester bestimmte Beispielssammlung, und die hier verwendeten Erzählungen sind zu didaktischen Zwecken bearbeitet worden. Die Sammlung dürfte ihrem Ursprung nach englisch und ihre Entstehungszeit vielleicht das 13. Jahrhundert sein, obgleich sie ihre endgültige Form erst im 15. Jahrhundert erhalten hat. Sie ist unzählige Male gedruckt, übersetzt und bearbeitet worden. Die lateinische Fassung des 15. Jahrhunderts enthielt 150 Erzählungen. In der von Hermann Österley herausgegebenen, ebenfalls lateinischen Ausgabe (Gesta Romanorum, 1872) ist deren Anzahl nahe zu 300. Ihrer Art nach sind die Geschichten zum grossen Teil kleine Anekdoten und Legenden, aber man trifft unter ihnen auch eigentliche, längere Märchen, z. B. das Fortunatusmärchen und das Märchen vom armen Jungen, den die Weissagung zum Schwiegersohn des reichen Mannes bestimmte (Mt. 930).
Aber im Occident waren die Märchen und besonders die Tierfabeln schon viel früher bekannt. In Griechenland verbanden sie sich[WS 2] mit dem Namen Äsop und sie wurden in den Rednerschulen als Basis der Sprechübungen gebraucht. Eine Fabelsammlung in gebundener Form verfasste in Griechisch [13] Babrios und in Lateinisch Phaedrus in den ersten Jahrhunderten n. Chr. Dieselben Fabeln wurden dann im Mittelalter und noch in der Neuzeit im Schulunterricht angewendet. Die unter dem Namen Romulus bekannte Sammlung wurde wahrscheinlich im 11. Jahrhundert ins Angelsächsische übertragen, und die Anzahl der Erzählungen wurde durch neues, wahrscheinlich aus dem Volksmunde geschöpftes Material vermehrt. Marie de France übersetzte sie dann gegen das Ende des folgenden Jahrhunderts ins Französische. Unter den Fabeln treffen wir u. a. den Schwank von der widerspenstigen Frau (Mt. 1365), sogar in zwei Fassungen, die beide auch in der gegenwärtigen Überlieferung bekannt sind. In der einen sucht der Mann seine ertrunkene Frau stromaufwärts, in der anderen behauptet die Frau, die Wiese sei mit der Schere geschnitten. Im 12. Jahrhundert wurden auch die bekannten Tierepen: der lateinische Ysengrimus (Voigt, E., Ysengrimus, herausgegeben und erklärt, 1884) und der französische Roman de Renart (Ed. Martin, 1882 und Sudre, L., Les sources du roman de Renart, 1893) zusammengestellt. Der Verfasser des erstgenannten war ein gewisser Magister Nivardus aus Gent. Die Titel der Epen stammen von den Eigennamen ihrer Hauptpersonen, des Wolfes und des Fuchses, Ysengrimus und Renart. Der Fuchsroman wurde im Laufe der folgenden Jahrhunderte in verschiedene Sprachen übersetzt und bearbeitet. In Deutschland nannte man ihn erst Isengrînes nôt, dann Reinhart fuhs, später im Plattdeutschen Reynke de Vos.
Aus Italien haben wir vom 16. und 17. Jahrhundert zwei für die Märchenforschung sehr wichtige Sammlungen: G. F. Straparola’s Tredeci piacevoli notti (Dreizehn ergötzliche Nächte) und Giambattista Basile’s Pentamerone. Die erstere erschien in Venedig in zwei Teilen 1550 und 1554. Straparola’s Märchen, der Zahl nach ungefähr 20, sind dadurch bemerkenswert, dass sie sicher aus [14] mündlicher Überlieferung stammen. Sie sind nach Straparola’s Worten „aus dem Munde zehn junger Fräulein“ gekommen. Aus dem Inhalte der Sammlung erwähne ich die Märchen von dem sich in einen Löwen, eine Ameise usw. verwandelnden Jüngling (Mt. 302), von dem Zauberer und seinem Schüler (Mt. 325), vom Meisterdiebe, der das Bett des Pfarrers, das Pferd und schliesslich den Pfarrer selbst im Sack stiehlt (Mt. 1525 A) und vom Doktor Allwissend (Mt. 1641). Die Märchenschreiber der verschiedenen Länder schöpften Material aus Straparola’s Werke, das auch in einige fremde Sprachen übersetzt wurde.
Noch wichtiger für den Forscher ist der in Neapel im Jahre 1637 erschienene Pentamerone. Die 50 Märchen desselben stammen vielleicht alle aus dem Volksmunde. Allein in der Sammlung KHM der Brüder Grimm kommen von ihnen 2/3 vor. Die Märchen haben ihre Volkstümlichkeit gut erhalten, und dass dies die Absicht des Verfassers gewesen ist, lässt sich auch daraus schliessen, dass das Werk in neapolitanischem Dialekt geschrieben ist. In der Sammlung treffen wir viele sehr gewöhnliche Märchen, z. B. Tischlein deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack (Mt. 563), Das Mädchen ohne Hände (Mt. 706), Sechse kommen durch die ganze Welt (Mt. 513), Die drei Spinnerinnen (Mt. 501), Der treue Johannes (Mt. 516).
Der Pentamerone erschien im Italienischen in vielen Auflagen, aber er wurde nicht wie Straparolas Dreizehn ergötzliche Nächte durch Übersetzungen ausserhalb Italiens bekannt. In der Märchenliteratur hat er also denselben Einfluss nicht gehabt. Zu wissenschaftlichem Zweck veröffentlichte Felix Liebrecht um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine deutsche Übersetzung (Basile, Giambattista, Der Pentamerone oder: das Märchen aller Märchen, 1846; neu bearbeitet von H. Floerke 1909).
In Frankreich erwachte das Interesse für die Märchen viel später. Der berühmteste französische Märchenschreiber [15] war Charles Perrault, der im Jahre 1697 seine 8 Märchen enthaltende Sammlung Contes de ma mère l’Oye herausgab. In den folgenden Ausgaben wurde die Anzahl der Märchen um drei vermehrt. Aus den Märchen Perrault’s seien Aschenbrödel (Mt. 510), Rotkäppchen (Mt. 333) und Der gestiefelte Kater erwähnt. Die Märchen sind wahrscheinlich dem Volksmunde entnommen, obgleich sie vom Verfasser bearbeitet worden sind. Perrault fand mehrere Nachfolger, welche die von ihnen gebrauchten Märchenstoffe immer willkürlicher behandelten und oft ganz neue Stoffe erfanden. Deshalb ist ihre Bedeutung in der Märchenforschung eine geringe. Von ihnen erwähne ich die Gräfin d’Aulnoy, die ihre Märchen zum Teil aus der französischen Übersetzung der Sammlung Straparola’s entnommen hat, und den Grafen Caylus. In den Zaubergeschichten des letztgenannten erscheint u. a. das bekannte Zaubervogelmärchen, doch ziemlich verändert und mit einer Schlussmoral versehen.
In Deutschland kam die Anregung zur Veröffentlichung von Märchen aus Frankreich. So sind die von den Brüdern Grimm erwähnten Märchen einer Amme (1764) und Einige Feenmärchen für Kinder (1780) Übersetzungen aus dem Französischen; die letztgenannten stammen aus den Sammlungen Perrault’s und d’Aulnoy’s. Die bekanntesten der deutschen Märchenwerken dieser Zeit sind Musäus’ Volksmärchen der Deutschen (1782), die einige gewöhnliche Volksmärchen, wenn auch in freier Bearbeitung, enthalten.
Eine besondere Erwähnung in der europäischen Märchenliteratur verdienen die sogenannten Schwanksammlungen, die eine grosse literarische und kulturhistorische Bedeutung haben. Es ist für den Forscher notwendig, sich mit diesem Zweige der Literatur vertraut zu machen, denn viele der gegenwärtigen volkstümlichen Schwänke kommen in den alten Schwanksammlungen vor. Die Verfasser der Sammlungen haben oft ihre Erzählungen aus volkstümlicher Quelle geschöpft und andrerseits sind [16] ohne Zweifel auch literarische Geschichten in das Volk gedrungen.
Schwanksammlungen sind aus verschiedenen Ländern bekannt und sie gewannen oft eine weite Verbreitung. In Frankreich wurden die Schwankgeschichten mit dem Namen Fabliaux bezeichnet. Sie waren in gebundener Form abgefasst und in ihrem Inhalt oft anstössig. Die Fabliaux waren im 13. und 14. Jahrhundert sehr in der Mode. In Italien hiessen die Schwänke Facetiae. Die erste Sammlung derselben veröffentlichte Poggio Bracciolini im Jahre 1450. Sie wurde so beliebt, dass bis 1500 26 Ausgaben erschienen. Gegenstände der Satire in Poggio’s Geschichten sind Mönche und andere Geistliche, ja sogar bisweilen die Päbste. Auch die ersten in Deutschland erschienenen Schwanksammlungen waren lateinisch, z. B. Heinrich Bebel’s Facetiae (1508), die A. Wesselski in deutscher Übersetzung mit Anmerkungen versehen unter dem Titel Heinrich Bebels Schwänke, 2 Bde (1907) herausgegeben hat. August Tünger’s Facetiae waren sowohl lateinisch als auch deutsch geschrieben. Von den eigentlichen deutschen Schwanksammlungen sei zuerst Schimpf und Ernst vom Barfussmönch Johannes Pauli (1519) erwähnt, das seinerzeit zu den meist gelesenen Büchern gehörte. Die Sammlung ist ziemlich umfangreich, in ihrer ersten Ausgabe befanden sich 693 Geschichten. Georg Wickram’s 67 Geschichten enthaltendes Rollwagenbüchlein (1555) hat sein Material beinahe ganz aus der mündlichen Überlieferung geschöpft. Die fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts scheinen eine wahre Glanzperiode der Schwankliteratur gewesen zu sein. In einem und demselben Jahre 1557 kamen zwei neue Sammlungen heraus: Jacob Frey’s Die Gartengesellschaft (129 Geschichten) und Martin Montanus’ Wegkürtzer, ebenso im Jahre 1558 Michael Lindener’s Rastbüchlein und Katzipori und 1559 Valentin Schumann’s Nachtbüchlein. Am Anfang des [17] folgenden Jahrzehntes (1563) erschien der erste Teil von der Sammlung Wendunmut H. W. Kirchhoff’s. Die folgenden 6 Teile erschienen erst im Beginn des 17. Jahrhunderts. Dieses Riesenwerk enthält insgesamt 2084 aus verschiedenen Quellen stammende Stücke. Deutsche Schwanksammlungen kamen noch lange danach heraus, aber sie haben nicht mehr dieselbe Bedeutung wie die Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts.
Aus dem bunten Inhalt der Schwanksammlungen erwähne ich folgende, allgemein bekannte Geschichten: Der Mann, der sagte, er komme von Paris–Paradies (Mt. 1540), Die wiederspenstige Frau (Mt. 1365), Doktor Allwissend (Mt. 1641) und Der Mann, der die Arbeit der Frau verrichtet (Mt. 1408). Einige von ihnen sind in mehreren Sammlungen anzutreffen.
Die beste Quelle für das Studium der deutschen Schwankliteratur sind die zu der Serie Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart gehörenden Publikationen, wo neben dem Texte auch nützliche Erklärungen und Mitteilungen von dem Ursprung, den Schicksalen u. a. der verschiedenen Sammlungen gegeben werden.
Von den Schwanksammlungen anderer Länder erwähne ich die türkischen Schwänke Nasr-eddins, deren Verfasser – es geht aus den Schwänken selbst hervor – um 1300–1400 lebte. Sie sind in vielen verschiedenen Übersetzungen herausgegeben worden. Die neueste von ihnen, A. Wesselski’s Der Hodscha Nasreddin, 2 Bde (1911) enthält wertvolle vergleichende Anmerkungen, die dem Forscher von grossem Nutzen sein können. Zu den Schwänken Nasreddin’s gehört u. a. die eben erwähnte Geschichte vom Manne aus Paris–Paradies und der Schildbürgerschwank, wo der auf dem Aste sitzende den Ast abhackt, mit demselben zur Erde fällt (Mt. 1240) und sich dann für tot hält.
In der abendländischen Märchenliteratur ist bisher nur von den Sammlungswerken die Rede gewesen, die bald [18] in ungebundener, bald in gebundener Form abgefasst sind. Aber Märchen und Märchenmotive kommen auch in der sonstigen Literatur vor und die allseitige Erforschung der Erzählungen fordert, dass auch diese literarischen Bearbeitungen in Betracht gezogen werden.
Zuerst seien da die sogenannten Volksbücher erwähnt, von denen einige eine sehr weite Verbreitung fanden. Der Verfasser wählte als Stoff der Erzählung bisweilen ein Märchen. Er konnte ein einfaches Märchen zu einem ganzen Roman entwickeln. Volksbücher wurden in verschiedenen Ländern am Ende des Mittelalters und in der Neuzeit veröffentlicht. Als Beispiel von ihnen erwähne ich das Volksbuch von Fortunatus, seinem Säckel und seinem Wunschhütlein, das wahrscheinlich um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstand und im Laufe der Zeit u. a. ins Deutsche, Italienische, Französische, Spanische, Englische, Holländische, Ungarische, Dänische, Norwegische, Isländische, Irische und Schwedische übertragen wurde. In einigen Sprachen gibt es sogar mehrere verschiedene Übersetzungen.
Einige berühmte Schriftsteller haben ein besonderes Gefallen an den Märchenstoffen gezeigt. Boccaccio schrieb um die Mitte des 14. Jahrhunderts seinen Decamerone (Zehntagewerk), in welchem er nach morgenländischer Art durch eine Rahmenerzählung eine Menge Geschichten verknüpfte, die er jedoch nach seinen Absichten frei bearbeitete. Sein Material schöpfte er augenscheinlich zum Teil aus dem Volksmunde. Bei Boccaccio kommt u. a. das Märchen Die Wette auf die Treue der Gattin vor (Mt. 882). Der Wetter schafft sich betrügerischer Weise Beweisstücke aus der Wohnung der Frau und bezeugt damit ihre Untreue. Der deutsche Meistersinger Hans Sachs (im 16. Jahrhundert) verwendete zuweilen Märchen als Stoff für seine Gedichte. Von seinen Märchen seien erwähnt: Der Gevatter Tod (Mt. 332), Die drei Doktoren (Mt. 660), Die Tiere im Nachtquartier (Mt. 130) und die Geschichte von [19] der Sichel, die die einfältigen Menschen für ein Gespenst halten. Märchenstoffe benutzende Schriftsteller waren auch der Franzose François Rabelais (in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) und der grosse englische Dichter Shakespeare. Das Märchen Die Wette auf die Treue der Gattin (Cymbeline) treffen wir auch bei Shakespeare.
Saxo Grammaticus bringt in seiner Geschichte Dänemarks (im 12:ten Jahrhundert) einige Volksmärchen vor, z. B. Die Flucht vor den Unholden, Die Prinzessin in der Erdhöhle (Mt. 870).
Märchen sind mitunter auch mit den alten abendländischen Epen verbunden. Unter den märchenartigen Erzählungen der griechischen Odyssee ist die Geschichte von dem einäugigen Riesen Polyphemos die bekannteste: Odysseus durchbohrt das Auge des Riesen und flieht aus der Höhle unter dem Bauche des Widders (Mt. 1137). Sie sowie die in der Odyssee damit verknüpfte Selbstepisode ist im Volke in vielen Gegenden Europas bekannt (Mt. 1135). Die Selbstepisode erscheint im Volksmunde auch einzeln. In der altnordischen Edda finden wir z. B. die Sage von der Grottemühle, deren Grundlage das Märchen Die Zaubermühle (Mt. 565) bildet. Dasselbe Märchen hat auch auf das im finnischen Kalevala vorkommende Sampolied Einfluss gehabt. Von anderen Märchenstoffen des Kalevala sei die Verfolgung in dem Liede vom Sonnenraube erwähnt, die aus dem Märchen Die magische Flucht (Mt. 313, 314) stammt.
Auch die Erzählungen des berühmtesten Werkes der Weltliteratur, der Bibel, haben hie und da Zusammenhang mit den Märchenstoffen, selten mit ganzen Märchen. Die Kindheitschicksale Moses’ (er wird in einem Korb im Wasser ausgesetzt, von wo Pharaos Tochter ihn rettet und zu ihrem Pflegling nimmt) erscheinen im Märchen Die Weissagung (Mt. 930, vgl. 461) auf einen armen Jungen bezogen, den der reiche Mann zu hindern versucht, sein Schwiegersohn zu werden. Die Grundlage des Buches [20] Tobias’ bildet das im Volke sehr allgemein bekannte Märchen von dem dankbaren Toten (Mt. 505–508). Eine in den Märchen beliebte Person ist der durch seine Weisheit berühmte Salomo, der bisweilen in den Märchen unter seinem eigenen Namen auftritt. Mit den Märchenstoffen im Zusammenhang ist Jephtas Gelübde, Gott denjenigen zu opfern, der ihm zu Hause zuerst begegnen wird u. a.
Bei der Besprechung der alten Märchenliteratur ist das alte Kulturland Ägypten noch nicht erwähnt worden. Dass die Märchen in Ägypten schon früh bekannt waren, ist eine bewiesene Sache. Ein in einem alten ägyptischen Grabe gefundener Papyrus, der dem Prinzen Seti Minephtah (später Seti II) gehört hat, enthält ein wirkliches Volksmärchen. Seti II lebte um 1300 v. Chr. In diesem Märchen werden die Abenteuer zweier Brüder Anupu und Bitiu geschildert. Die Basis der Erzählung ist das in unserer Zeit im Volke sehr verbreitete Märchen von den Zwillings- oder Blutsbrüdern (Mt. 303). Als der eine der beiden Brüder verwünscht oder verhext wird, begibt sich der andere, nachdem er durch ein Wahrzeichen von dem Ereignis Kunde erhalten hat, auf die Suche nach ihm und erlöst ihn von dem Zauber. Mit dieser Geschichte als Kern haben sich in der ägyptischen Erzählung andere Märchenstoffe verbunden. Die Erzählung beginnt mit dem Abenteuer der Gattin Anupu’s und Bitui’s, dieselbe Geschichte, die in der Bibel von Joseph und der Frau des Potiphar erzählt wird. Im 5. Jahrhundert v. Chr. erzählt Herodotos ein anderes ägyptisches Märchen, das ebenso im Volke sehr allgemein ist, nämlich das Märchen von Rampsinit’s Schatzkammer (Mt. 950).
- ↑ Forke, A., Die indischen Märchen (1911) S. 17–19.
Anmerkungen (Wikisource)
← Übersicht | Nach oben | Die neuere oder volkstümliche Märchenliteratur → |
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |