Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe

Textdaten
Autor: Bernhard Riemann
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe
Untertitel:
aus: Monatsberichte der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1859. S. 671–680.
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag:
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: DjVu auf Commons, Google
Kurzbeschreibung:
Siehe auch das Manuskript bzw. Riemanns Gesammelte mathematische Werke (Hrsg.: Heinrich Weber) ab S. 136.

Die Transkription folgt den Monatsberichten, Fehler und Nichtübereinstimmungen mit obigen Versionen wurden im Fließtext korrigiert, wobei dies angemerkt wurde.

Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[671] Meinen Dank für die Auszeichnung, welche mir die Akademie durch die Aufnahme unter ihre Correspondenten hat zu Theil werden lassen, glaube ich am besten dadurch zu erkennen zu geben, daß ich von der hiedurch erhaltenen Erlaubniß baldigst Gebrauch mache durch Mittheilung einer Untersuchung über die Häufigkeit der Primzahlen; ein Gegenstand, welcher durch das Interesse, welches Gauß und Dirichlet demselben längere Zeit geschenkt haben, einer solchen Mittheilung vielleicht nicht ganz unwerth erscheint.

Bei dieser Untersuchung diente mir als Ausgangspunkt die von Euler gemachte Bemerkung,[1] daß das Product

[672] wenn für alle Primzahlen, für alle ganzen Zahlen gesetzt werden. Die Function der complexen Veränderlichen , welche durch diese beiden Ausdrücke, so lange sie convergiren, dargestellt wird, bezeichne ich durch . Beide convergiren nur, so lange der reelle Theil von größer als 1 ist; es läßt sich indeß leicht ein immer gültig bleibender Ausdruck der Function finden. Durch Anwendung der Gleichung

erhält man zunächst

Betrachtet man nun das Integral

von bis positiv um ein Größengebiet erstreckt, welches den Werth 0, aber keinen andern Unstetigkeitswerth der Function unter dem Integralzeichen im Innern enthält, so ergiebt sich dieses leicht als gleich

vorausgesetzt, daß in der vieldeutigen Function der Logarithmus von so bestimmt worden ist, daß er für ein negatives reell wird. Man hat daher

das Integral in der eben angegebenen Bedeutung verstanden.

Diese Gleichung giebt nun den Werth der Function für jedes beliebige complexe und zeigt, daß sie einwerthig und für alle endlichen Werthe von , außer 1, endlich ist, so wie auch, daß sie verschwindet, wenn gleich einer negativen geraden Zahl ist.

Wenn der reelle Theil von negativ ist, kann das Integral, statt positiv um das oben angegebene Größengebiet, auch negativ um das Größengebiet welches sämmtliche übrigen complexen [673] Größen enthält erstreckt werden, da das Integral durch Werthe mit unendlich großem Modul dann unendlich klein ist. Im Innern dieses Größengebiets aber wird die Function unter dem Integralzeichen nur unstetig, wenn gleich einem ganzen Vielfachen von wird und das Integral ist daher gleich der Summe der Integrale negativ um diese Werthe genommen. Das Integral um den Werth aber ist ; man erhält daher

also eine Relation zwischen und , welche sich mit Benutzung bekannter Eigenschaften der Function auch so audrücken läßt:

bleibt ungeändert, wenn in verwandelt wird.

Diese Eigenschaft der Function veranlaßte mich statt das Integral in dem allgemeinen Gliede der Reihe einzuführen, wodurch man einen sehr bequemen Ausdruck der Function erhält. In der That hat man

also, wenn man

setzt,

oder da (Jacobi. Fund. S. 184)[2]

[3]

[674] Ich setze nun und

so daß

oder auch

Diese Function ist für alle endlichen Werthe von endlich, und läßt sich nach Potenzen von in eine sehr schnell convergirende Reihe entwickeln. Da für einen Werth von , dessen reeller Bestandtheil größer als 1 ist, endlich bleibt und von den Logarithmen der übrigen Factoren von dasselbe gilt, so kann die Function nur verschwinden, wenn der imaginäre Theil von zwischen und liegt. Die Anzahl der Wurzeln von , deren reeller Theil zwischen 0 und liegt, ist etwa ; denn das Integral positiv um den Inbegriff der Werthe von erstreckt, deren imaginärer Theil zwischen und und deren reeller Theil zwischen 0 und liegt, ist, (bis auf einen Bruchtheil von der Ordnung der Größe ) gleich dieses Integral aber ist gleich der Anzahl der in diesem Gebiet liegenden Wurzeln von , multiplicirt mit . Man findet nun in der That etwa so viel reelle Wurzeln innerhalb dieser Grenzen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß alle Wurzeln reell sind. Hievon wäre allerdings ein strenger Beweis zu wünschen; ich habe indeß die Aufsuchung desselben, nach einigen flüchtigen vergeblichen Versuchen vorläufig bei Seite gelassen, da er für den nächsten Zweck meiner Untersuchung entbehrlich schien.

[675] Bezeichnet man durch jede Wurzel der Gleichung , so kann man durch

ausdrücken; denn da die Dichtigkeit der Wurzeln von der Größe mit nur wie wächst, so convergirt dieser Ausdruck und wird für ein unendliches nur unendlich wie ; er unterscheidet sich also von um eine Function von , die für ein endliches stetig und endlich bleibt und mit dividirt für ein unendliches unendlich klein wird. Dieser Unterschied ist folglich eine Constante, deren Werth durch Einsetzung von bestimmt werden kann.

Mit diesen Hülfsmitteln läßt sich nun die Anzahl der Primzahlen, die kleiner als sind, bestimmen.

Es sei , wenn nicht gerade einer Primzahl gleich ist, gleich dieser Anzahl, wenn aber eine Primzahl ist, um größer, so daß für ein , bei welchem sich sprungweise ändert,

Ersetzt man nun in

durch , durch ,

so erhält man

,

wenn man

durch bezeichnet.

Diese Gleichung ist gültig für jeden complexen Werth von , wenn . Wenn aber in diesem Umfange die Gleichung

[676] gilt, so kann man mit Hülfe des Fourier’schen Satzes die Function durch die Function ausdrücken. Die Gleichung zerfällt, wenn reell ist und

in die beiden folgenden:

Wenn man beide Gleichungen mit multiplicirt und von bis integrirt, so erhält man in beiden auf der rechten Seite nach dem Fourier’schen Satze , also, wenn man beide Gleichungen addirt und mit multiplicirt

,

worin die Integration so auszuführen ist, daß der reelle Theil von constant bleibt.

Das Integral stellt für einen Werth von , bei welchem eine sprungweise Änderung der Function stattfindet, den Mittelwerth aus den Werthen der Function zu beiden Seiten des Sprunges dar. Bei der hier vorausgesetzten Bestimmungsweise der Function besitzt diese dieselbe Eigenschaft, und man hat daher völlig allgemein

.

Für kann man nun den früher gefundenen Ausdruck

[4]

substituiren; die Integrale der einzelnen Glieder dieses Ausdrucks würden aber dann in’s Unendliche ausgedehnt nicht convergiren, weshalb es zweckmäßig ist, die Gleichung vorher durch partielle Integration in

[677]

umzuformen.

Da

also

so erhalten dann sämmtliche Glieder des Ausdrucks für mit Ausnahme von

die Form

Nun ist aber

und, wenn der reelle Theil von größer als der reelle Theil von ist,

je nachdem der reelle Theil von negativ oder positiv ist. Man hat daher

[678]

Im ersten Falle bestimmt sich die Integrationsconstante, wenn man den reellen Theil von negativ unendlich werden läßt; im zweiten Falle erhält das Integral von 0 bis um verschiedene Werthe, je nachdem die Integration durch complexe Werthe mit positiven oder negativen Arcus geschieht, und wird, auf jenem Wege genommen, unendlich klein, wenn der Coefficient von in dem Werthe von positiv unendlich wird, auf letzterem aber, wenn dieser Coefficient negativ unendlich wird. Hieraus ergiebt sich, wie auf der linken Seite zu bestimmen ist, damit die Integrationsconstante wegfällt.

Durch Einsetzung dieser Werthe in den Ausdruck für erhält man

[5]

wenn in für sämmtliche positiven (oder einen positiven reellen Theil enthaltenden) Wurzeln der Gleichung , ihrer Größe nach geordnet, gesetzt werden. Es läßt sich, mit Hülfe einer genaueren Discussion der Function , leicht zeigen, daß bei dieser Anordnung der Werth der Reihe

mit dem Grenzwerth, gegen welchen

[679] bei unaufhörlichem Wachsen der Größe convergirt, übereinstimmt; durch veränderte Anordnung aber würde sie jeden beliebigen reellen Werth erhalten können.

Aus findet sich mittelst der durch Umkehrung der Relation

sich ergebenden Gleichung

worin für der Reihe nach die durch kein Quadrat außer 1 theilbaren Zahlen zu setzen sind und die Anzahl der Primfactoren von bezeichnet.

Beschränkt man auf eine endliche Zahl von Gliedern, so giebt die Derivirte des Ausdrucks für oder, bis auf einen mit wachsendem sehr schnell abnehmenden Theil,

einen angenäherten Ausdruck für die Dichtigkeit der Primzahlen + der halben Dichtigkeit der Primzahlquadrate von der Dichtigkeit der Primzahlcuben u. s. w. von der Größe .

Die bekannte Näherungsformel ist also nur bis auf Größen von der Ordnung der Größe richtig und giebt einen etwas zu großen Werth; denn die nicht periodischen[6] Glieder in dem Ausdrucke von sind, von Größen, die mit nicht in’s Unendliche wachsen, abgesehen:

In der That hat sich bei der von Gauß und Goldschmidt[7] vorgenommenen und bis zu drei Millionen fortgesetzten Vergleichung von mit der Anzahl der Primzahlen unter diese Anzahl schon vom ersten Hunderttausend an stets [680] kleiner als ergeben, und zwar wächst die Differenz unter manchen Schwankungen allmählich mit .[8] Aber auch die von den periodischen Gliedern abhängige stellenweise Verdichtung und Verdünnung der Primzahlen hat schon bei den Zählungen die Aufmerksamkeit erregt, ohne daß jedoch hierin eine Gesetzmäßigkeit bemerkt worden wäre. Bei einer etwaigen neuen Zählung würde es interessant sein, den Einfluß der einzelnen in dem Ausdrucke für die Dichtigkeit der Primzahlen enthaltenen periodischen Glieder zu verfolgen. Einen regelmäßigeren Gang als würde die Function zeigen, welche sich schon im ersten Hundert sehr deutlich als mit im Mittel übereinstimmend erkennen läßt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Leonhard Euler:WP Introductio in analysin infinitorum. Bd. 1. Lausanne 1748, S. 221-252, Kap. 15 (De Seriebus ex evolutione Factorum ortis). Digitalisat (Euler Archive), übersetzt von H. Maser, Berlin, 1885
  2. Riemann bezieht sich auf Carl Gustav Jacob Jacobi:(WP) Fundamenta Nova Theoriae Functionum Ellipticarum. Königsberg 1829, S. 184, § 65, Nr. 6. Die verwendete Formel ist dort allerdings nicht explizit angegeben, Jacobi folgert diese aber an anderer Stelle in seinem Aufsatz Suite des notices sur les fonctions elliptiques. In: Journal für die reine und angewandte Mathematik. Band 3 (1828), Seite 303-310 Quellen
  3. In den Monatsberichten beim ersten Integral   statt  :
     
  4. Das Manuskript (S. 4) und die Gesammelten Werke (S. 141) fügen vor dem zweitletzten Logarithmus noch ein   ein. In den Monatsberichten fehlt das Summenzeichen:
     
  5. Riemann schreibt fälschlich   anstelle von  . Da er   für die Bezeichnung einer anderen Funktion verwendet, bedeutet sein   eigentlich  . Dieser Fehler wurde zu Lebzeiten Riemanns entdeckt von Angelo Genocchi (1817–1889): Formole per determinare quanti siano i numeri primi fino ad un dato limite. In: Annali di Matematica Pura ed Applicata 3 (1860), S. 52-59. (Digitalisat, italienisch) Vgl. Harold M. Edwards: Riemann's Zeta Function. New York: Academic Press, 1974, S. 31.
  6. Genaugenommen sind die Terme   nicht periodisch, sondern oszillierend.
  7. Carl Wolfgang Benjamin Goldschmidt (1807–1851), ein Gauß-Schüler.
  8. Brief Carl Friedrich GaußWP (1777–1855) an Johann Franz EnckeWP (1791–1865) vom 24. Dezember 1849. Vgl. Tafel der Frequenz der Primzahlen (Nachlass). In: Carl Friedrich Gauß Werke. Bd. 2. Höhere Arithmetik (Google). Hrsg. von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften. Göttingen 1863, S. 435-443 (Tafel), 444-447 (Brief).