Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen/Ludwig Tieck

Textdaten
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Autor: Ludwig Bechstein
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Titel: Ludwig Tieck
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aus: Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen, S. 371–372
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Georg Wigand's Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
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Ludwig Tieck.
Geb. d. 31. Mai 1773, gest. d. 28. April 1853.


Eine der hervorragendsten Persönlichkeiten und Erscheinungen in der deutschen poetischen Literatur, der, wie viele ihm ebenbürtige, aus der Enge kleinbürgerlicher Sphäre zu den Höhen der Wissenschaft sich aufschwang, durch ein langes Leben hindurch anregend auf andere, erfolgreich und mit hohem Ruhme wirkte und sich der Anerkennung der gebildetsten seiner Nation erfreute.

Ludwig Tieck wurde in Berlin geboren und war der Sohn eines gebildeten Seilermeisters; er hatte noch einen Bruder, welcher ein berühmter Bildhauer, und eine Schwester, welche eine liebenswürdige Frau und talentvolle Schriftstellerin wurde. Nach dem Besuch eines berliner Gymnasiums studirte Tieck zu Halle, Göttingen und Erlangen Geschichte und Literatur der Poesie mit großem Fleiße, machte dann eine ziemlich ausgedehnte Reise, befreundete sich in Jena mit den Gebrüdern Schlegel, in Weimar mit Herder und andern bedeutenden Geistesgrößen, und verheirathete sich in Hamburg mit der Tochter eines Predigers. Von allen literarisch strebenden Bekanntschaften Tiecks war es besonders die mit den Gebrüdern Schlegel, welche ihn dauernd anzog und die er dauernd festhielt, deshalb begab er sich auch wieder nach Jena, zog dann mit den genannten Brüdern nach Dresden, lebte dort in den Jahren 1801 und 1802 und ließ mit August Wilhelm v. Schlegel den Musenalmanach 1802 erscheinen. Tieck’s enge Befreundung mit den Brüdern und einigen ihnen verwandten Dichtergeistern rief die sogenannte romantische Schule hervor, die Opposition machte gegen Goethe, Schiller und die diesen Heroen nachstrebenden jüngeren Dichter. Die romantische Schule zeichnete sich eben so sehr durch große, tüchtige Begabung ihrer Koryphäen und durch die Hervorbringung achtungwerther Poesieschöpfungen aus, als durch große Verirrungen in das bodenlos phantastische, mystisirende und mystificirende Gebiet und durch manches völlig ungenießbare Dichtwerk. Dabei wurde eine große Unduldsamkeit gegen die dieser Schule nicht huldigenden und ihr nicht angehören wollenden Dichter geübt, und eine vernichtende Richtung in der Kritik ausgebildet, die stets mehr schadet als nützt. Im Sinne dieser Schule dichtete Tieck mehrere der alten Volksbücher um, Haimonskinder, [Ξ] Fortunat, Genoveva, Kaiser Octavian, und bearbeitete mehrere bekannte Märchen, wie Däumling, Rothkäppchen, gestiefelter Kater, Blaubart, immer nach eigener, individuell scharf ausgeprägter Weise; keineswegs, um diese Stoffe einem gebildeten Publikum noch zugänglicher und angenehmer zu machen, als sie in ihrer einfachen, schlichten und volkstümlichen Form bereits waren, sondern um Zeit-Ideen, Kunstansichten, moderne Satyre hinein zu legen und den eigenen kecken Humor aus ihnen hervorblühen zu lassen. Diejenigen nun, welchen eine solche Behandlung vorgefundener Stoffe von ihrem ästhetischen Standpunkte aus zusagte, fanden jene vortrefflich, andere fanden dieß weniger, und diese, wenn sie mit ihrer entgegenstehenden Ansicht offen hervortraten, traf eben der kritische Donnerkeil der, eine feste Phalanx in der Literatur bildenden romantischen Schule.

Ungleich größer und bedeutender, wie als Haupt einer nun bereits längst der Vergangenheit angehörenden einseitigen kritisch-polemischen Richtung eines an sich allerdings sehr begabten Literatenkreises, war Tieck allein, in sich und durch sich selbst. Voll tiefer Kenntniß und edlen Geistes beherrschte er die Sprache, schuf er reizende Gedichte, wurde er der Gründer der Kunst- und Tendenz-Novelle, widmete sein ganzes Leben der Bestrebung, Shakspeare immer mehr und mehr in Deutschland einzubürgern. Mit einem Vorlese-Talent ohne gleichen begabt, las Tieck in gebildeten Kreisen, die er um sich zog, Shakspeare’sche Dramen vor, und alle, die so glücklich waren, ihn zu hören, konnten nie genug die Genüsse rühmen, welche diese Vorlesungen verschafften, und die Eindrücke, welche sie auf die Zuhörer machten. Freilich forderte Tieck, indem er an seine Vorlesungen seine ganze Seele hingab, sein ganzes geistiges Selbst, auch von den Zuhörern und Zuhörerinnen Seele und unbedingtes Hingeben an sein Lesen, und von dem gewohnten Fingerspiel des Strickstrumpfs oder der in höheren Damenkreisen an dessen Stelle getretenen Canevass und Straminstickerei, vom Geklapper der Tassen und Löffel, vom Lichterputzen mitten im Vertrag oder irgend welchem unnützen Geräusch konnte und durfte keine Rede sein.

Tieck hatte sich durch Reisen, wie durch Studium, eine hohe Geistesbildung gewonnen, und sein angeborener Genius führte ihn mit jener im Bunde den wünschenswerthesten Lebensstellungen zu. Im Jahre 1804 reiste er in Italien und 1806 lebte er in München, wo leider ein heftiger Anfall von Gicht ihn niederwarf, und ihn schwer heimsuchte. Nach der Herstellung wandte er sich nach Berlin, und im Jahr 1818 machte er eine Reise nach London, um auf englischem Boden Shakspearestudien zu machen. Im Jahr 1819 wählte er wieder das ihm von früher liebe Dresden zum dauernden Aufenthalt und wurde dort Dramaturg der königlichen Hofbühne, welcher Stellung er sich mit aller Vorliebe und aller ihm zu Gebote stehenden reichen Bühnenkenntniß hingab. Nach dem Jahre 1810 traf den berühmten Mann der ehrenvolle Ruf König Friedrich Wilhelm’s IV. von Preußen als Vorleser am Hofe und als Leiter der Schauspiele, welche von den Hofcirkeln meist in Potsdam aufgeführt wurden, wobei ihm nicht unbedeutender Einfluß auch auf die Leitung der Hofbühne selbst zugestanden war. Kränklichkeit trübte leider mehr und mehr das Leben des alternden Dichters, dem indeß vor vielen das Glück vollster Anerkennung und unbeneideten Ruhms neben einem von irdischen Sorgen befreiten Dasein zu Theil ward. Ihm vor vielen war vergönnt, sich völlig nach Lust und Neigung auszuleben, seinem ästhetischen Wirken keine engherzigen Schranken gezogen zu sehen, nicht durch lästigen Dienst abgezogen zu werden von der Sphäre seines innern Berufes, und so konnte er mit Zufriedenheit auf seine wohlvollbrachte irdische Sendung zurückschauen und zum Kreise der Unsterblichen eingehen. Höchst ehrenvoll war das Leichenbegängniß des Dichtergreises, des Nestors der deutschen Poesie, der im 79. Jahre seines Lebens von hinnen schied. Seine Vaterstadt ehrte ihn hoch, und ein seines Namens würdiges Denkmal wurde bereits zu errichten beschlossen.