Zwei thüringer Volkslieder

Textdaten
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Autor: Elise Polko
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Titel: Zwei Thüringer Volkslieder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 109
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zwei thüringer Volkslieder.

Von Elise Polko.

Wie die weißen flatternden Fäden im Spätsommer – „Mariengarn“ nennt sie der Volksmund – so schwirren auch die Töne zu allen Zeiten und Stunden in der Luft umher, drängen sich an Ohr und Herz, wollen festgehalten sein und flüstern geheimnisvoll: „Wir haben dir etwas zu erzählen, wenn du zuzuhören verstehst!“ Solch Zuhören aber erscheint mir allezeit leicht und lohnend, denn im Nu reiht sich da Melodie an Melodie, es erhebt sich vor uns ein musikalischer Bau, ein Luftschloß, an dessen Fenstern die verschiedenartigsten Gestalten erscheinen, aus allen Zeiten, und jede von ihnen hat ihre Geschichte, und eine hängt eng mit der andern zusammen. Diesmal waren es lauter thüringer Kinder, alte und junge, die sich von dem mich umspinnenden Tongewebe abhoben, musikalische Charakterköpfe, von denen mir zufällig ein schönes Cello erzählte.

In einem Privatsalon Wiesbadens hatte ich eines Abends ein Kind Thüringens spielen hören, den Kammervirtuosen Oskar Brückner aus Erfurt. Wir saßen nachher noch beisammen in traulicher Unterhaltung und Brückner erzählte von seiner Lehrzeit bei Altmeister Grützmacher in Dresden, von der Art der Unterweisung und Auffassung Grützmachers und gab dazu die interessantesten Beispiele auf seinem schönen Instrument. Es war gleichsam ein Duo: schwieg Oskar Brückner, der Erzähler, nahm das Cello des Künstlers das Wort, und wie melodisch und beredt erschienen dann die Töne! Wir konnten kein Ende finden mit Zuhören. Endlich aber, als das Instrument zu Bett gebracht werden mußte – es war längst nach Mitternacht – und wir an den Aufbruch dachten, neigte Brückner sich noch einmal über sein Cello, und es glitt wie ein Hauch, wie ein Traum von seinen Saiten. Eigentlich war es nur der Schatten einer Melodie, und doch erkannte ich sie sofort: ein Schülerchor hatte sie einst, vor langer, langer Zeit, in Leipzig irgend einem scheidenden Lehrer gesungen. Ich erinnerte mich, daß jenes Lied die Ueberschrift trug „Der Wanderer“. Und wie man Worte rascher vergißt als Töne und Klänge, so ist mir vom Text kaum mehr als der Anfang und der Refrain geblieben. Er lautete:

„Wenn ich den Wandrer frage:
Wo willst Du hin? –
Nach Hause, nach Hause!“

Und das klagende Schlußwort hatte sich mir damals ins junge Herz geprägt:

„Hab’ keine Heimat mehr!“ – –

Aber auch noch andere waren da an jenem Abend, die sich aus der Jugendzeit eben dieses Liedes noch lebhaft erinnerten, das sie selber einst mitgesungen hatten; und so stürmten, als das Cello schwieg, Fragen über Fragen auf den Spieler ein, wie er denn eben jetzt zu jener längst verklungenen Melodie gekommen sei. Der Künstler aber entgegnete lachend: „Nun, weil wir alle jetzt endlich selber ,nach Hause’ wandern müssen, denke ich, und weil kein Geringerer als unser Silcher diese Melodie für Männerchor ausarbeitete, nachdem er hin und her, öffentlich und privatim, nach dem eigentlichen Komponisten geforscht. Der wirkliche Komponist dieser allbekannten Weise aber ist mein alter Vater in Quedlinburg!“

Und da reihen sich denn verschiedene Bilder aneinander, die an jenem Wandererliede hängen, das einst kein Männergesangverein in seinem Repertoire fehlen lassen durfte – ich versuchte, [110] sie festzuhalten. Das ursprüngliche Volkslied komponierte der Musikmeister Friedrich Brückner für eine Singstimme in Des-dur, und es erschien 1837 mit Klavierbegleitung bei Meyerheimer in Erfurt.

Ein allbekanntes Freundespaar lebte damals in dem alten Erfurt: der gelehrte Kantor Johann Ludwig Böhner und der wackere Musikmeister Friedrich Brückner. Der erstere war ein einsamer, alternder Junggeselle, der andere dirigierte dagegen mit seinem Taktstabe, mit dem er seinen Musikchor zusammenhielt, auch sein Nest voll Kinder. Die Jungen waren alle merkwürdig musikalisch und strichen und geigten auf kleinen Instrumenten schon als Kinder drauf los in allen möglichen Winkeln des kleinen Hauses, vom Boden bis zum Keller. Jedes von ihnen hatte da seinen besonderen Lieblingsplatz, den es bis aufs Blut verteidigt haben würde, wenn das nötig gewesen wäre. Die Mutter ertrug diesen musikalischen Lärm, wie eben eine Mutter alles erträgt, wenn es sich um ihre Kinder handelt. Der Vater dagegen stand gar oft wie aus der Erde gewachsen vor dem einen oder andern seiner Sprößlinge und donnerte, den gefürchteten Taktstab schwingend: „Wirst Du wohl auf der Stelle rein spielen, nachlässiger Bube!“

Zuweilen aber erschien nun vor ihnen, statt des Vielbeschäftigten, ein älterer musikalischer Aufseher, ein milderer Mahner, ein gar seltsamer Kauz, den in Erfurt alle Kinder kannten unter dem Namen „der graue Kantor“. Vor ihm fürchtete sich keiner jener kleinen Eckenspieler, man nickte vielmehr dem Hausfreunde vertraulich zu, höchstens glitt die Begrüßung „Guten Tag, Onkel Böhner!“ von den kindlichen Lippen. Dieser Musikwächter schaute gewöhnlich aus großen melancholischen Augen, die hinter einer Hornbrille und buschigen Brauen hervorsahen, still vor sich hin und rauchte meist ein kurzes Pfeifchen, in seinen Gedanken anscheinend mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Kam aber ein kratzender, falscher Ton – hei! da zuckte es in dem schmalen Gesicht ganz gespenstisch hin und her, und die, Finger fuhren unruhig in das etwas wirr in die Höhe stehende Haar. Solche. Bewegungen wirkten aber auf die jugendlichen Musikbeflissenen kaum minder als der drohende Taktstab des Vaters. Recht blaß sah der „graue Kantor“ aus, nur die starke Nase zeigte eine bedenkliche Röte, um den Mund dagegen lag ein Zug unendlicher Güte, und nichts konnte bedeutender erscheinen als die mächtige Musikerstirn. Der schlichte schwarze Kantoranzug war fast immer verstaubt, und was von weißer Wäsche, wie üblich, sich zeigen mußte, hätte vor dem scharfen Blick einer guten Hausfrau nicht bestehen können. Und doch wohnte in eben dieser unscheinbaren Hülle ein ungewöhnlicher Geist, ein Musikgelehrter und Orgelspieler ersten Ranges, zu dem man von weit und breit pilgerte, um ihn einmal zu hören, und der auf seiner Orgelbank stets alles vergaß, was ihn drückte.

Es drückte ihn aber mancherlei, vor allem eine ewige, armselige Geldsorge, weil er zu allen Stunden bereit war, seine gezählten Groschen zu verschenken, und war etwa übrig blieb, nahm ihm die böse Leidenschaft für den Wein, die ihm und seinen Freunden so viel Not machte, aus der Tasche. Die Getreuen erschraken oft nicht wenig über den Zustand, in welchem Böhner sich bei ihnen blicken ließ.

Zahllose Geschichten raunte man sich in die Ohren von jenem seltsamen Musikgenie. Wenn jener schlimme Dämon ihn gemartert, dann pflegte er nämlich oft wochenlang fast unsichtbar zu werden; „ich brauche eine Milchkur,“ sagte er dann, wohl mit melancholischem Lächeln, „um mich von meinen Sünden rein zu waschen!“ Er vertiefte sich zu solchen Zeiten mit doppeltem Eifer in seine musikalischen Studien, und nie spielte er weihevoller, herrlicher als nach jenen bösen Stunden und Tagen, die zur tiefsten Betrübnis derer, die ihn liebten und verehrten, im Laufe der Jahre häufiger und immer häufiger über ihn kamen.

Früher war Böhner in der Residenzstadt Gotha der musikalische Lehrmeister der herzoglichen Kinder gewesen, allein diese vielbeneidete Stellung hatte er sich durch sein eigenartiges Wesen verscherzt, das eben in keine Hofluft paßte. Auch das verschmerzte er auf seiner Orgelbank. Nicht selten schloß er sich mit seinem getreuen Bälgetreter, der für seinen Herrn durch Wasser und Feuer gegangen wäre, wenn man es von ihm verlangt hätte, zur späten Nachtzeit in der Kirche ein, um so recht ungestörte Zwiesprach zu halten mit seinem angebeteten Johann Sebastian Bach. Da versammelten sich, sobald die Kirchenfenster sich erhellten, allerlei Kollegen, alte und junge, vor dem Gotteshause, einer rief den andern herbei. Sie gingen, standen und saßen umher, wie es eben kam, und holten sich Erquickung von diesen mächtigen Feierklängen. Wenn dann aber, stets viel zu früh für die Hörer, alle diese Fugen, Präludien und Phantasien verstummten, wenn ein Lichtfünkchen an den bunten Kirchenfenstern inwendig vorüberkroch, schwere schlurfende Schritte laut wurden und das Rasseln des Riesenschlüsselbundes deutlich zu vernehmen war, dann stoben alle mit Windeseile auseinander, denn der Spieler würde, man kannte zur Genüge diese seine Eigenart, heftig gescholten haben über seine ungebetenen Zuhörer. Selbst sein Freund, der Musikmeister Brückner; hätte sein Teil wie alle andern mitbekommen, denn der saß ja dann auch, nach des Tages Last und Mühe, auf irgend einer Hausbank oder einem Prellstein unter den Lauschenden und ließ sich erquicken. Ob er aber in solchen Stunden ahnte, wie oft, weit hinter ihm im tiefsten Schatten, die Köpfe seiner Jungen vor ihm zu verbergen sich mühten, Kindergesichter, die in doppelter Erregung erglühten, von dem Reiz der späten Stunde und dem Orgelspiel des Onkel Böhner?

Es wird versichert, daß Theodor Amadeus Hoffmann, der Kammergerichtsrat in Berlin und Verfasser der vielbewunderten „Phantasiestücke in Callots Manier“, jener seltsame Geisterseher, auf einem sommerlichen Streifzuge nach Thüringen in Erfurt den „grauen Kantor“ so spielen hörte und innige Freundschaft mit ihm schloß. Johann Ludwig Böhner soll das Urbild des Hoffmannschen Kapellmeisters Kreisler geworden sein. Ob er das jemals erfahren, steht nirgends geschrieben.

Viele Kompositionen von Bedeutung entstanden während der stillen Reueperioden in der Arbeitszelle mit dem großen Kachelofen, an dem schmalen, brustkranken Klavier, das wußten die Freunde. Auch ein tüchtiger Spaziergänger war Böbner, allein nur in der Frühlings- und Sommerszeit, so lange seine Lieblingsblumen, die Vergißmeinnicht, noch draußen zu finden waren, von denen er große Sträuße zu sammeln pflegte. Wer weiß, in welchem inneren Zusammenhange jene schlichte blaue Blüte mit der Geschichte dieses einsamen Musiketherzens stand! Eines Tages, nach einer besonders vertraulichen Plauderstunde, hat der „graue Kantor“ ein Notenblättchen herausgekramt aus dem Wust- seines Arbeitstisches und in die Hände seines Freundes Brückner geschoben – vergilbt war’s schon und kaum noch zu lesen. „Sieh, lieber Junge,“ sagte er fast schüchtern mit seiner immer verschleierten Stimme, „das ist und bleibt doch das Beste, das mir je in den Sinn gekommen ist. Du hast es freilich schon tausendmal von alt und jung singen hören, denn gar lang ist’s her, seit ich es aufgeschrieben, Du wußtest nur nicht, so wenig wie all die Sänger, wer es gemacht. Nun magst Du’s erfahren! Ich sage Dir, was nicht mit Lust und Schmerz aus unserem Herzen heraus geboren wird, das ist und bleibt Plunder, mögen es die Herren Kritiker noch so sehr loben! – Das hier, ist ein Vergißmeinnicht, das dereinst auf meinem Grabe noch frisch blühen wird. Denke daran!“

Und es war so: zu allen Tages- und Jahreszeiten hatte Friedrich Brückner dies kleine Lied von jungen und alten Stimmen singen hören und hatte selber mitgesungen; wer es aber erdacht, danach hatte er so wenig gefragt wie irgendein anderer. Der erste Vers – wer kennt nicht alle folgenden? – lautet:

„Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich dich lassen kann!
Hab’ dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!“

Es war eben ein echtes und rechtes Volkslied, wer fragt da jemals danach, von wem es erdacht wurde und wer es zuerst sang?

Kurze Zeit nach jenem Geständnis des „grauen Kantors“ soll nun Friedrich Brückner den Freund auch mit einem Liede überrascht haben, das jenem die Thränen in die Augen trieb: es war eben jener „Wanderer“. Der wahre echte Volkston muß da auch voll und ganz angeschlagen worden sein, sonst hätte Silcher wahrlich nicht die Hände nach dem Liede ausgestreckt, um es für Männerchor zu setzen, in welcher Fassung es seit Jahren so mächtig wirkte.

Daß aber eben die beiden Lieder einst das Herz eines großen deutschen Musikmeisters tief erschüttern sollten, in einem Augenblick, als er ein verfolgter Flüchtling, hinauszog in die kalte Fremde, das hätte wohl keiner der Komponisten je geahnt! –-Wer aber dabei gewesen, der hat es gewiß bis an sein Lebensende nicht vergessen.

Es war an einem sonnigen Maimorgen des Jahres 1849, als der Musikmeister Brückner in die Arbeitszelle seines gelehrten Freundes stürzte.

„Hört uns niemand?“ fragte er halb atemlos.

„Wer sollte uns denn hören? Meine alte Sibylle ist drüben in der Küche.“

[111] „Nun denn! Er kommt schon heute abend aus Dresden hier an, und wir sollen ihn in derselben Nacht noch über die Grenze schaffen, sonst nimmt man ihn gefangen!“

„Aber wen denn? Ich verstehe Dich nicht!“ –

Und allerlei Notenblätter, hastig beiseite geschoben, flatterten umher, wohin sie eben Lust hatten.

„Daß Du das nicht errätst! Niemand anderes als den seltsamen wunderbaren Menschen und Musiker, den aufgehenden Stern: Richard Wagner! Hier, lies den Brief eines Freundes in Dresden! Wir müssen also ohne Aufsehen für sein Weiterkommen sorgen. Jeder brave Musiker muß sein Teil beitragen und ihn schützen helfen, das ist hier Ehrensache! Er hat dort mitgethan bei dem Aufstande, allerlei Reden an das Volk gehalten, lange Recitative, aber ohne Musikbegleitung!“

„Wir stehen für ihn wie ein Mann!“ sagte da der „graue Kantor“ strahlenden Blickes. „Er mag getrost kommen, die Heilige Cäcilia wird ihren getreuen Dienern helfen!“

Und er kam wirklich am Abend desselben Tages in Erfurt an, jener Flüchtling der damals nach Paris eilte. Eine bewegtere und doch zugleich friedlichere Versammlung konnte nicht gedacht werden als die, welche damals in der Wohnung des „grauen Kantors“ sich traf. Doch der Bewegteste von allen war der Gast selber, der kleine Mann mit dem blassen scharfgeschnittenen Gesicht. Was aber damals alle jene schlichten Kollegen in den Stunden des Beisammenseins dem Flüchtling anzuthun sich mühten, das sagen keine Worte. Wie einen geliebten scheidenden Sohn oder Bruder behandelte und beschenkte man ihn und die Taschen des unscheinbaren Fuhrwerks, das da im Freien draußen vor der Stadt hielt, bargen Proviant auf Wochen – in allen Gestalten.

Es war eine laue Mondscheinnacht, die heraufgezogen war. In einzelnen Gruppen wanderte man zur festgesetzten Stunde auf Umwegen hinaus, die letzten mit Richard Wagner selber. Da – in irgend einer Straße tauchten erleuchtete weit geöffnete Fenster auf, und in die Dunkelheit hinaus strömte, wie ein heller Strahl, der Gesang lieblicher Frauenstimmen – das thüringer Lieblingslied:

„Ach, wie wär’s möglich dann,
Daß ich dich lassen kann!
Hab’ dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!“

Der fremde Gast blieb plötzlich wie festgebannt stehen, zum heimlichen Entsetzen seiner getreuen Begleiter Böhner und Brückner, denen der Boden unter den Füßen brannte. „Ich kenne diese Melodie,“ sagte er leise, „dies Volkslied singt man überall. Laßt mich hier alle Verse hören! Das ist ein schönes Geleit, das man mir zum Scheiden giebt. Und wie rein das junge Volk singt! – Nein, ängstigt Euch nicht, Ihr bekommt mich nicht von der Stelle, bis der letzte Ton verklungen ist!“

Der ungenannte Komponist jenes Liedes vom „blauen Blümelein“ wie auch der Musikmeister Brückner meinten in jenen Augenblicken, der letzte Vers wolle niemals kommen. Ueberall sahen sie verdächtige Gestalten auftauchen, näher schleichen und gespenstische Fangarme ausstrecken nach ihrem Schützling. Nun, zum Glück erklang endlich doch das letzte Wort, der letzte silberhelle Ton – der Flüchtling mußte jetzt wieder an etwas anderes denken! Aber nur zögernd setzte er sich in Bewegung. „Ich wollte, ich hätte das Ding da selber gemacht!“ murmelte er im Weitergehen.

Ob der „graue Kantor“ nicht eben dieses Wort seines Kollegen später als die größte Genugthuung seines Musikerlebens empfunden haben mag? Vergessen hat er’s gewiß nie und nimmer. – –

Man war bei der kleinen geschlossenen Kalesche angekommen, wo die Vorausgegangenen schon ungeduldig warteten. Da setzte mit einem Male, Richard Wagner war eben eingestiegen - alle Vorsicht in der Erregung des letzten Händeschüttelns vergessend, irgend eine junge, weiche Stimme ein:

„Wenn ich den Wandrer frage:
Wo willst du hin ? –
Nach Hause, nach Hause!“

Und im brausenden Chor erklang es mit ergreifendstem Ausdruck:

„Nach Hause, nach Hause!“

bis zu jener erschütternden Schlußklage, dem Verzweiflungsrufe:

„Hab’ keine Heimat mehr!“

Eine halb erstickte Stimme aber rief „da capo!“

Dann zogen die Pferde an. Noch immer, nur ferner und immer leiser, zog jene Klage begleitend hinaus in die Mondnacht – aber ein einsam Gewordener drückte sein Gesicht in die Kissen des Wagens, der ihn unaufhaltsam davontrug, und weinte bitterlich:

„Hab’ keine Heimat mehr!“ – –

Johann Ludwig Böhner ist längst „nach Hause“ gegangen, sein jüngerer Freund aber, Friedrich Brückner, jetzt in Quedlinburg, durchblättert als dreiundachtzigjähriger Greis noch, in stiller Zurückgezogenheit, heiter, voll Beschaulichkeit das Buch seines Musikerlebens und verweilt besonders gern auf jenem Blatte, das die Ueberschrift trägt: „Erfurt“. Er freut sich seiner tüchtigen, in alle Welt verstreuten Söhne, die seinem erziehenden Taktstab alle Ehre machen, und eines singenden Töchterleins und vor allem des „Kammervirtuosen“, des Cellisten Oskar, dessen Cellosaiten meinen Traum von den beiden thüringischen Volksliedern hervorgerufen haben, einen Traum, der doch im Grunde eine wahre Geschichte ist!